Aus dem Internet-Observatorium #128
Vom Techlash zum Gelegenheitsfenster / Trumps Krypto-Reserve
Hallo zu einer neuen Ausgabe - diese Woche kein Groß-Thema, eher Beobachtungen. Feedback gerne per Antwortfunktion oder auf Bluesky oder Mastodon.
P.S.: Von mir ist auch ein Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik (€) erschienen. Es geht nochmal um Meta und MAGA und aktualisiert meine Gedanken aus Ausgabe #120 dieses Newsletters.
Digitale Zivilgesellschaft: Ein Gelegenheitsfenster?
Es ist vielleicht nur ein Eindruck, aber es scheint, als würde sich angesichts der Radikalität des technologisch-politischen Komplexes in den USA gerade in der digitalen Zivilgesellschaft etwas rühren.
Das aktuelle deutsche Beispiel ist sicherlich das Bündnis von 75 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Bundesregierung diese Woche zu einer besseren Plattform-Regulierung auffordern.
Wie bei koordinierten Briefen dieser Art üblich, bleiben die Forderungen eher vage: DMA&DSA-Durchsetzung, Regulierungslücken schließen, transparentere Algorithmen, Hinterfragen des Werbe-Trackings sowie Förderung und Aufbau von gemeinwohlorientierten Plattformen.
Dennoch öffnet sich gerade ein Gelegenheitsfenster. Das Thema digitale Souveränität wird angesichts der offenen Feindseligkeit der US-Regierung und der Teil der europäischen Überlebensfragen - und wenn man “digitale Souveränität” europäisch denkt, also im Kontext Vielfalt, Transparenz und an individuellen Rechten der Nutzer ausgerichtet, ist man schnell im Gespräch über eine wirkliche Open-Source-Strategie und den Aufbau eines europäischen (föderierten) Plattform- und Cloud-Stacks (siehe Ausgabe #121).
Allerdings funktionieren Software-Plattformen eben nicht mehr nach dem Prinzip “Build it, and they will come”. Es bräuchte also mehr als finanzielle Förderung gemeinwohlorientierter Standards und Projekte, nämlich tatsächlich eine Art Ökosystem, wie es im Cloud-Bereich mit ECOFED an-entwickelt wird.
Bislang gingen europäische Bemühungen in diese Richtung selten über die Konzeptphase hinaus. Stattdessen verwechselte man digitale Eigenständigkeit mit der möglichst erfolgreichen Produktion europäischer Unicorns. Aus heutiger Perspektive hat man geopolitisch betrachtet die falschen Debatten geführt.
Vom “Techlash” zum “Re-Constructing Tech”?
Die oben beschriebene Entwicklung, die ich wahrnehme, ist nicht auf Deutschland beschränkt. So analysiert der Politologe Henry Farrell zum Beispiel den “Kanon” des Silicon Valley -also welche Bücher die modernen Tech-Akteure prägen. Sein Fazit (übersetzt):
“Kanons schaffen Miniaturuniversen des Diskurses, die bestimmte Werte und Entscheidungen hervorheben, während sie andere abschwächen oder sogar verbergen. Was lässt der Silicon-Valley-Kanon also außen vor oder lässt es weg? Kurz gesagt, den Respekt vor Pluralismus und das Misstrauen gegenüber großen Projekten, beides Dinge, die früher unter Technologen weit verbreitet waren.”
Doch er belässt es nicht bei der Kritik, sondern stellt in seinem Blog selbst acht Bücher vor, die für eine wirklich menschenzentrierte Technologie-Entwicklung hilfreich wären. Hier seine Liste mit den Erläuterungen (deutsche Titel, sofern übersetzt).
Ernest Gellner: Pflug, Schwert und Buch: Grundlinien der Menschheitsgeschichte ((…) als Buch erwähnt, das klassische Liberale lesen sollten, um die Zerbrechlichkeit der von ihnen geschätzten sozialen Bedingungen zu verstehen).
Danielle Allen: Justice By Means of Democracy (beste linksliberale Verteidigung des Pluralismus).
Francis Spufford: Rote Zukunft ("Genossen! Lasst uns optimieren!" kann schrecklich schiefgehen).
Octavia Butler: Die Parabel vom Sämann (und das ist nicht alles, was schiefgehen kann).
Ruthanna Emrys: A Half-Built Garden (wie würden KI-gesteuerte soziale Medien aussehen, wenn sie darauf optimiert wären, menschliche Vorurteile zu bekämpfen, anstatt sie auszunutzen?)
Ursula Le Guin: Planet der Habenichtse
Marion Fourcade und Kieran Healy: The Ordinal Society. Wie soziale Medien die Gesellschaft formen und die Gesellschaft soziale Medien formt.
Herbert Simon: Die Wissenschaft vom Künstlichen. Der Urtext zum Verständnis, wie Technologien unsere Fähigkeit zur Koordination und zum gemeinsamen Denken prägen.
Ich finde solche Listen immer sehr faszinierend, auch wenn wir angesichts der fortgeschrittenen Zeit natürlich nicht bei Null anfangen, anfangen können. Aber vielleicht bietet sich nun ja wirklich die Gelegenheit dafür, kollektiv ins “Machen” zu kommen. In Ausgabe #119 schrieb ich Ende vergangenen Jahres zur Verwertungslogik, mit der Digitaltechnologie inzwischen die verschiedensten Teile unseres Lebens überzieht:
“Auf diese Entwicklung muss es weiterhin eine Antwort geben, die es aber erst zu suchen gilt. Eine, die sich weder im Slogan “Eine andere Digitalisierung ist möglich” noch im digitalisierungspolitischen Inkrementalismus erschöpft. Die dem Lamento der Technologie-Skepsis, dem achselzuckenden Kapitalismus-Verweis, der Faulheit der Milliardärsbösewichte-Erzählung genau wie dem There-is-no-Alternative-Missionarismus der Hype-Crowd etwas Konkretes entgegensetzt.”
Ich bin Anfang März 2025 tatsächlich etwas hoffnungsvoller, dass wir gerade an dieser Antwort zu arbeiten beginnen.
Journalismus: Politik und Tech verschmelzen weiter
Am Dienstag erklärte Mike Masnick, dass sein Blog Techdirt jetzt ein Demokratie-Blog sei - ob man das wolle oder nicht. Denn die klassische Politik-Berichterstattung könne Trumps technologie-bezogene Schritte nicht annähernd so gut kontextualisieren wie diejenigen, die schon immer über die Schnittstelle von Gesetzen und Technologie berichten. Übersetztes Zitat mit Fettungen:
“Nehmen wir (…) aktuelle Fälle, die den Unterschied in der Berichterstattung perfekt illustrieren. Da ist zunächst das TikTok-Verbot. Die politischen Berichterstatter konzentrierten sich darauf, welche Partei von dem Verbot profitieren würde und wer den Ruhm ernten würde, “hart gegen China” zu sein - der übliche Unsinn eines Pferderennens. Technik- und Rechtsberichterstatter betonten derweil, wie das Gesetz den Sicherheitsschutz schwächen und gefährliche Präzedenzfälle für staatliche Eingriffe in Privatunternehmen schaffen würde. (Ganz zu schweigen davon, dass es die jahrzehntelange Arbeit der USA für ein offenes Internet untergraben würde). (…)
Das ist die Art von Dingen, die Technik- und Rechtsreporter sofort erkennen, denn wir haben das alles schon einmal erlebt. Wenn jemand von “freier Meinungsäußerung” spricht und gleichzeitig aktiv daran arbeitet, die Meinungsäußerung zu kontrollieren, dann ist das kein Widerspruch oder Fehler, sondern genau das ist der Punkt. Es geht darum, die Macht zu konsolidieren und sie gleichzeitig in die Sprache der Freiheit zu verpacken, um die Leichtgläubigen und Faulen zu täuschen.”
Ich würde dem Politikjournalismus jetzt nicht wie Masnick de facto Naivität unterstellen (klar, ich bin ja selbst Politikjournalist) - er selbst kommt ja oft auch aus einer klaren Haltung, die nicht immer die objektivste Darstellung liefert
Aber Masnick hat insofern recht, als die politische Berichterstattung sich schwertut: Politische Normen und Verhaltensweisen haben sich nicht nur in den USA stark verschoben; demokratische Institutionen sind dort und andernorts keine Pfeiler mehr, sondern werden deutlich als komplexes Gefüge sichtbar, das von Akzeptanz und unausgesprochenen Machtgrenzen abhängig ist.
Nun kommt mit der digitaltechnologischen Ebene, wie sie DOGE bearbeitet, ein weiteres “System” mit seinen eigenen Logiken dazu, das gleichzeitig das Fundament für das Funktionieren von Staat, Regierung und Rechtssicherheit bildet. Kein Wunder, dass die beste DOGE-Berichterstattung nicht in der New York Times, sondern in der Wired zu finden ist.
Und, aus der Vogelperspektive betrachtet: Im “Stack”, also dem Stapel unserer verbundenen Systeme, lässt sich längst nicht mehr zwischen “Politik”, “Gesellschaft”, “Kapital” und “Digitaltechnologie” trennen. So wie “Digitalisierung” oder “Digitaltechnologie” als Begriff eine mögliche Universaltechnologie wie Künstliche Intelligenz eigentlich gar nicht mehr seriös integrieren kann.
Für Menschen wie mich, die diese Schnittstellen schon lange beobachten, sind das eigentlich gute Zeiten, weil wir (im Idealfall) historisches und systemisches Wissen für die Analyse mitbringen und nicht in den alten Konzepten gefangen sind, in denen Digitalität und analoge Legacy-Sphären getrennt sind.
Ganz anders sieht es auf der Handlungsebene aus, bei der es nicht nur um die Beschreibung der Dinge geht: Hier erschweren nicht nur die konkreten Machtverhältnisse, sondern mittelfristig auch die unsichtbaren Wechselwirkungen innerhalb des Stacks konkrete Eingriffe und Steuerungsmöglichkeiten.
Trumps Krypto-Reserve
Der FT-Journalist Edward Luce beginnt seine Kolumne über Trumps Ankündigung, die versprochene Krypto-Reserve (konkret mit Bitcoin, Ethereum, Ripple, Solana und Cardano) einzurichten, gleich mit dem Wesentlichen (übersetzt):
“Donald Trumps Unterstützung für Kryptowährungen hat nichts Kryptisches an sich. Vor vier Jahren sagte er, Bitcoin sei ein “Betrug”. Jetzt will er Amerika zur “Krypto-Hauptstadt der Welt” machen. Wer das als Kehrtwende betrachtet, verkennt, wie Trump arbeitet. Die zweite Aussage folgt natürlich aus der ersten.”
Ich selbst hatte Anfang des Jahres geschrieben (Ausgabe #121):
“Der Wunsch von Deregulierung und einer Bitcoin-Reserve der USA ist nichts anderes als der Wunsch, Crypto unter Trump “too big to fail” werden zu lassen. Sollte er in Erfüllung gehen, könnte eine neue Klasse superspekulativer Assets Mainstream werden - und den Boden für den nächsten großen Finanzcrash bereiten.”
Interessant ist, dass Trump kaum 24 Stunden später die Vorschrift aufhob, dass US-Strohfirmen ihre wirtschaftlichen Eigentümer offenlegen müssen. Krypto als Vehikel für verschleierte Zahlungen einerseits, die Schwächung der Geldwäsche-Bekämpfung (und parallel der Steuer-Behörden) andererseits: Wollte man den Weg zu Korruption und Steuerbetrug politisch entriegeln, wäre das die logischste Strategie.
Globales R&D in Sachen Chips und KI
China produzierte zwischen 2018 und 2023 mehr Research-Paper zu Chipdesigns und -produktion, als die drei dahinter liegenden Länder zusammen. Unter anderem doppelt so viele wie die USA.
Das muss man insofern relativieren, als dass China bekannt für eine lebendige Plagiatskultur im Bereich wissenschaftlicher Publikationen. Die rechte Seite der Grafik zeigt auch, was der Economist bereits vor zwei Monaten schrieb: Ein großer Teil der Masse hat deutlich weniger Impact als die Forschung aus anderen Ländern. Und Noah Smith fragt in seinem Newsletter, ob China bislang wirklich eine bahnbrechende Technologie selbst entwickelt hat (und ob das Land das wirklich muss oder die Verbesserung bestehender Technik schlicht genügt).
Insgesamt aber, das ist im Bereich KI ebenfalls ableitbar (40 Prozent der Paper stammen hier inzwischen aus China), zahlt sich die Strategie der Kommunistischen Partei im Moment aus: Viel Geld in angewandte Forschung investieren, die Abwanderung chinesischer Wissenschaftler verhindern und die staatlichen Forschungsbudgets weiter ausbauen.
Sollte die sich andeutende Schwächung des öffentlich-finanzierten Wissenschaftsstandorts USA unter Trump Realität werden, dürfte China auch in anderen Bereichen wie Biotech davonziehen. Für Europa ergibt sich gerade die Chance, ja die Notwendigkeit, massiv Forscher und Forscherinnen aus den USA anzuwerben - und hier gerade die Bereiche jenseits der Grundlagenforschung zu stärken (Senior Developer übrigens ebenso, aber das nur am Rande).
Bislang sehe ich dazu ein paar Wortmeldungen, aber keine strukturierten Versuche, diese Chance zu ergreifen.
Reddit - der netteste Sumpf
Adrienne LaFrance lobt im neuen Atlantic Reddit. Reddit sei nicht perfekt, aber die menschlichste aller Plattformen (und sehr viel freundlicher als noch vor einigen Jahren). An dieser Stelle zücke ich immer meinen Artikel “Reddit, das unterschätzte Universum” von 2012 und bekenne, dass Reddit auch mein Favorit ist, obwohl Reddit die Firma offensichtlich schlecht geführt wird, auf seine Community keine Rücksicht nimmt (siehe Ausgabe #53) und letztlich mit der eingeschlagenen KI-Strategie sowie externen KI-Faktoren am Ende in Richtung Enshittification driftet.
Reddit liegt für mich momentan auch vor Bluesky, das leider langsam zum progressiven Twitter 2016/17 mutiert (und das ist keine gute Sache). Und man muss mal ganz banal feststellen: Reddit funktioniert so gut, weil die Menschen eben nicht ihre Identität preisgeben müssen und irgendwelche Status- oder Clout-Fragen an dem hängen, was sie posten.
1 Zitat
In Rumänien laufen Ermittlungen wegen mutmaßlichem Frauenhandel und Vergewaltigung gegen Andrew und Tristan Tate. Vergangene Woche durften sie nach Gesprächen von Trumps Gesandtem Richard Grenell und der rumänischen Regierung in die USA ausreisen. Helen Lewis schreibt dazu:
“Den Gebrüdern Tate zu erlauben, die Libs zu ownen, ist ein Akt des reinen Nihilismus. Die Tate-Brüder sind eine einzigartig bösartige Kraft im viralen Internet. Sie abzulehnen, sollte der einfachste Test für moralische Ernsthaftigkeit sein, den man sich vorstellen kann, und doch ist es ein Test, bei dem viele Online-Influencer in Echtzeit versagen. Andererseits sollten wir vielleicht nicht so schockiert sein, dass ein Großteil der MAGA-Bewegung einen angeberischen Maulhelden umarmt, der mehrerer sexueller Vergehen beschuldigt wird und einst eine betrügerische Universität leitete. Sehen Sie sich einfach an, wen sie ins Weiße Haus gebracht haben.”
When you’re MAGA, they let you do it.
1 Song
Eigentlich läuft so etwas ja über mein Blog, aber der Titel passt ganz gut hier rein und ist auch durchaus zeitgeistig.
Links
Apple wehrt sich gegen britischen Überwachungsbefehl.
E2E-Verschlüsselung auch in Frankreich und Schweden unter Druck.
Trump fordert Ende des Chip Acts. ($)
DOGE könnte in wenigen Wochen zur Unterbrechungen von Social-Security-Auszahlungen führen.
GPT-4.5 - geht es inzwischen um Vibes statt Benchmarks?
Chrome und die Adblocker-Frage. (€)
Apples KI-Krise. ($)
Die Kürzungen bei USAID schaden den KI-Ambitionen der USA. ($)
90.000 Kameras: Das Überwachungsnetzwerk der Taliban in Kabul.
AI-Bots gegen Verschwörungstheorien? ($)
AI-Slop + Propaganda = Facebook im März 2025?
Warum Apple keine Screenshots von DRM-geschützten Videos zulässt.
Cory Doctorow: Enshittification im Computer-Frühzeitalter.
Das im Titelbild abgebildete Buch findet sich übrigens hier.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes