Aus dem Internet-Observatorium #53
Wahlkampf der gefälschten Bilder / Reddit-Streik / TikToks seltsame Distribution
Hallo zu einer neuen Ausgabe, dieses Mal aus dem Heuschnupfen-Hauptquartier. 🤧🤧🤧
Wahlkampf der gefälschten Bilder
Vergangene Woche hat die AP in einem Faktencheck die ersten mittels generativer Bildsoftware gefälschten Fotos im anlaufenden US-Wahlkampf entlarvt. Donald Trump umarmt darauf den Covid-Chefberater Anthony Fauci (siehe oben). Der Post stammt von der Kampagne seines Konkurrenten Ron DeSantis.
Es ist nicht der erste synthetische Content in diesem Zusammenhang: Ende Mai postete Trumps Sohn Don Jr. eine die Deepfake-Version eines Clips aus “The Office”, in dem Protagonist Michael Scott dafür verulkt wird, dass er einen Damenanzug trägt. Nur dass statt Michael Scott Trumps Rivale DeSantis auftritt.
Damit hätten wir schon einmal zwei der sich herauskristallisierenden Genres, die im US-Wahlkampf bespielt werden: Deutlich erkennbare Satire und nicht direkt erkennbare Desinformation.
Ich rechne auch damit, dass noch ein drittes Genre ins Spiel kommt: Die Behauptung, dass echtes Material in Wahrheit manipuliert ist. In Ausgabe #12 hatte ich diesen Aspekt der Desinformationskrise einmal im Zusammenhang mit Myanmar erwähnt:
“Sam Gregory von der Organisation Witness erklärt, wie Akteure aus Journalismus und Aktivismus in Myanmar ihre Sorge beschreiben, dass sie eben nicht nur falsche Gerüchte zerstreuen müssen (also “Fake News”), sondern immer stärker damit beschäftigt sein werden, die Echtheit echten Materials zu beweisen, um es gegen „Fake-News“-Vorwürfe der Obrigkeiten zu verteidigen.”
Ich wage zu prognostizieren: Die epistemische Unsicherheit in Wahlkämpfen wird 2024 für uns alle ziemlich anstrengend. Denn neben den USA wählen auch die EU, Großbritannien, Georgien, Kanada, Ägypten, Algerien, Südafrika, Indien, Mexiko und Peru - und ich nenne nur die Wahlen, bei denen Wählerstimmen eine Rolle spielen und es sich um Richtungswahlen handelt.
Reddit macht das Licht aus
2012 schrieb ich im damaligen Digitalblog der SZ von Reddit als “unterschätztem Universum”. Seitdem ist Reddit, trotz der üblichen sozialmedialen Probleme, in meinem Ansehen sogar gestiegen. Ich würde sagen, derzeit gehen ungefähr 50 Prozent meines Social-Media-Zeitbudgets dorthin.
Anfang der Woche gingen mehr als 8000 Subreddits in den Privatmodus (also de facto offline), um gegen eine viel zu hohe API-Gebühr zu protestieren, die Reddit-Mitgründer Steve Huffman einführen möchte. Weil die Gebühren letztlich das Aus für beliebte Drittapps wie Apollo, Reddplant oder Pager bedeuten. Zur Empörung beigetragen hat sicherlich Huffmans völlig verkorkstes AMA. Weil Huffman keinen Kompromiss möchte, geht ein Teil der Subreddits unbefristet offline.
Zwei Entwicklungen spielen eine Rolle: Der Kontrollverlust, den Marken durch Social Media generell einkalkulieren müssen (wobei mir das Phänomen deutlich weniger ausgeprägt als vor einigen Jahren vorkommt). Und der Faktor, dass das Kernprodukt einer Social-Media-Plattform eben die Community und ihr Content ist.
Mich erinnert der aktuelle Fall ein bisschen an die “Reddit-Revolte” 2015 gegen Interimschefin Ellen Pao, in der ebenfalls viele Subreddits offline gingen, nachdem eine Mitarbeiterin mit Community-Kontakt entlassen worden war. Ich weiß nicht, ob Redditors wirklich ein größeres Bewusstsein als Nutzer anderer Plattformen - was sie unterscheidet, ist definitiv der Hebel: Denn sie haben aber mit den einzelnen Subreddits klare Kanäle, die sie im Zweifel bestreiken oder abschalten können. Sie können diese Macht sogar rechtfertigen, denn sie übernehmen unbezahlt wichtige Moderationstätigkeiten für die Plattform.
Damit ist Reddit für mich das einzige größere Sozialmedium, das strukturierte Selbstorganisation zulässt, die eine Form von Gewerkschaftsverhalten ermöglicht. Bei allen anderen sind die Einflusspunkte zu verteilt (Twitter, Instagram) oder gar völlig webabstrahiert (TikTok). Wenn Reddit diese Einflussmöglichkeit beschneiden möchte, müsste die Firma die Moderation aus der Community herauslösen - und entsprechend deutlich mehr Mitarbeiter oder Subunternehmen dafür bezahlen.
TikToks ungewöhnliche Distribution
AdWeek hatte bereits vor einigen Wochen eine interessante Grafik gezeigt, die derzeit immer mal wieder geteilt wird:
Was man hier sieht: Die Zahl der Videos mit mehr als zehn Millionen Aufrufen sinkt. Heißt das, dass der Traffic auf der Plattform insgesamt zurückgeht? Eher nicht, wie die durchschnittlichen Views pro Woche bei Videos mit mehr als 100.000 Aufrufen zeigen:
Was also ist passiert? Einerseits ist die Konkurrenz zwischen den “Creators" größer, entsprechend wächst der Long Tail, entsprechend profitieren prominente Konten nicht mehr so stark von der Power Law (“wer hat, dem wird gegeben”).
Und, so eine weitere Theorie: Der Boost-Mechanismus, mit dem Nutzer Videos mit Viralpotenzial erhalten, wurde verlangsamt. Der Algorithmus wartet womöglich etwas länger auf Signale, die eine Erfolgsmöglichkeit signalisieren.
Interessanterweise verstärkt sich damit offenbar auch eine Entwicklung, die bereits in der Plattform selber angelegt ist: Die Follower-Zahl wird noch einmal irrelevanter. Laut AdWeek sahen Konten mit mehr als 100.000 Followern sogar einen Rückgang der Aufrufe um im Schnitt 30.000.
Diese Form von Umverteilung erscheint erst einmal demokratischer als das Prinzip, nachdem zum Beispiel Instagram funktioniert. Allerdings kann sich das a) durch Veränderungen im Empfehlungsalgorithmus jederzeit ändern und sorgt b) dafür, dass die Erfolgsgrundlage für Influencer und Creator deutlich wackeliger als bei Instagram und YouTube ist. Und bereits da ist das alles ein Glücksspiel mit Faktoren, die weit über den Inhalt, Trends und Auffdindbarkeit durch Metadaten hinausgehen.
Das Medium ist die Botschaft
“Die Botschaft des Internets lautet: Botschaften im Internet (der Inhalt eines speziellen Mediums) sind alle eine Angelegenheit der Indifferenz. Das Einzige was zählt, sind die sich wiederholenden, prognostizierbaren Zyklen von Reaktion und Verhalten. Wir wissen nicht, was gestern passiert ist, aber wir wissen genau, wie sich die Sache heute entwickeln wird.”
Links
Das EU-Parlaments bleibt beim ”AI-Act”bei der Ablehnung biometrische Echtzeit-Fernidentifizierung.
Wir erleben im Videostreaming eine schräge Zeit.
Social Media und die Auswirkungen auf Teenager: Es ist kompliziert, Folge 235.
“Learn To Code” vs. “AI nimmt dir auch diesen Job”.
“Digitale Souveränität”: Nicht nur Autokraten wollen die Daten-Kontrolle.
Ein Argument gegen die Verlangsamung von KI-Entwicklung zur Rettung von Jobs.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes