Hallo zur letzten Ausgabe vor Weihnachten! Erholsame Feiertage Euch/Ihnen allen und frohe Weihnachten an alle, die es feiern!
Die natürliche Ordnung der Dinge
Im Jahr 1998 hielt Neil Postman eine Vorlesung, in der er fünf Punkte beschrieb, die wir über technologische Veränderungen wissen sollten (hier übersetzt und gefettet):
“Erstens, dass wir immer einen Preis für Technologie zahlen; je größer die Technologie, desto höher der Preis. Kultur bezahlt immer einen Preis für Technologie.
Zweitens, dass es immer Gewinner und Verlierer gibt, und dass die Gewinner immer versuchen, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie eigentlich auch Gewinner sind.
Drittens, dass in jeder großen Technologie ein erkenntnistheoretisches, politisches oder soziales Vorurteil enthalten ist. Manchmal ist dieses Vorurteil sehr zu unserem Vorteil. Manchmal aber auch nicht. Der Buchdruck hat die mündliche Überlieferung vernichtet; die Telegrafie hat den Raum vernichtet; das Fernsehen hat das Wort gedemütigt; der Computer wird vielleicht das Gemeinschaftsleben verschlechtern. Und so weiter.
Viertens ist der technologische Wandel nicht additiv, sondern ökologisch, d.h. er verändert alles und ist daher zu wichtig, um ihn ausschließlich Bill Gates zu überlassen.
Und fünftens neigt die Technologie dazu, mythisch zu werden, d. h. als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge wahrgenommen zu werden, und neigt daher dazu, mehr von unserem Leben zu kontrollieren, als gut für uns ist.”
Die Analyse ist so hellsichtig wie zeitlos. Doch 2024 ist es nicht nur komplizierter geworden, Ausmaß und Wechselwirkungen der “Digitalisierung” genannten technologischen Veränderung zu katalogisieren. Auch die Handlungsoptionen, in diesen Prozess einzugreifen, scheinen begrenzter als zuvor.
Wir erleben gerade, wie im Westen ein politisches Zeitalter zu Ende zu gehen scheint. Wir ahnen, dass dies mit der gegenwärtigen Welt zu tun hat, die Mensch und Maschine fast unbemerkt gemeinsam erschaffen haben. Eine Welt, die im Vergleich zum “Vorher” fast unkontrollierbar erscheint. Ein globales Netzwerk, das Grenzen überwindet und entlang dessen Strukturen sich die Dinge neu ordnen. Zwischenstaatlich, zwischenmenschlich, im Verhältnis zwischen Markt und Mensch, zwischen Mensch und Maschine.
Wir ahnen die Zusammenhänge, aber wir können sie nicht vollständig enträtseln.
Der Journalismus ist meist zu oberflächlich, der Forschung fehlen (oft) wichtige Daten und Geschwindigkeit, die Politik wiederum versucht Mechanismen in den Serverräumen von Tech-Firmen mit Paragraphen zu begegnen oder sie mit Geld in Gang zu bringen, ohne dass sie wüsste, was sich dort wirklich abspielt. So bleiben Schlagworte und Narrative wie “Überwachungskapitalismus”, “Aufmerksamkeitsökonomie”, “KI-Standort”, “Blockchain-Strategie” (RIP).
Ideen der zivilgesellschaftlichen Mitsprache bei der Digitalisierung treten unterdessen weiter in den Hintergrund. Nicht, weil es diesen Wunsch nicht mehr gäbe oder es an Input mangelt. Sondern weil Digitaltechnologie doppelt entrückt ist: Zunächst als Teil eines neuen Wirtschaftssektors, der noch nicht einmal ausreichend an politische Logiken und demokratische Kontrolle angekoppelt werden konnte. Aber inzwischen immer öffentlicher auch als Teil eines neuen “Great Game”, das in den Sphären der Geopolitik spielt und in dem “Digitalisierung” dem Ziel der künftigen politischen, ökonomischen und auch militärischen Hegemonie dient.
Das, was man einst “Netzpolitik” nannte, droht sich so zu einem Orchideenfach zu entwickeln.
Dabei wird sie eigentlich mehr gebraucht denn je.
L.M. Sacasas schrieb einmal über den “Mythos der Maschine”, der unser modernes Verhältnis zur Technik geprägt hat (übersetzt und gefettet):
“Dem Mythos der Maschine liegen drei miteinander verbundene und ineinandergreifende Annahmen zugrunde, die die Moderne charakterisieren: Objektivität, Unparteilichkeit und Neutralität. Genauer gesagt, die Annahmen, dass wir über objektiv gesichertes Wissen, unparteiische politische und rechtliche Institutionen und über Technologien verfügen könnten, die im Wesentlichen neutrale, aber in der Regel der Allgemeinheit nutzende Werkzeuge sind.”
L.M. Sacasas beschreibt, wie sich dieses Vertrauen langsam auflöste: Seit dem späten 19. Jahrhundert in die Objektivität unseres Wissens, dann in die Unparteilichkeit der zur Bürokratie gewordenen Institutionen und schließlich seit einiger Zeit auch in die Neutralität von Technologie.
Wenn man dieser Interpretation folgt, ist unsere digitale Gegenwart eben noch nicht die “natürliche Ordnung der Dinge” (siehe “Sechstens” oben). Nicht in dieser Form zumindest. Selbst Digital Natives dürfte manchmal ein Unbehagen befallen. Nicht, weil Computersysteme Teil der intimsten Bereiche unseres Lebens sind. Sondern weil die Systeme in diesen Bereichen die Logik von ökonomischer Wertgewinnung und industrieller Informationsverarbeitung einschreiben, uns selbst zu passiven wie aktiven Teilen einer Verwertungslogik machen.
Auf diese Entwicklung muss es weiterhin eine Antwort geben, die es aber erst zu suchen gilt. Eine, die sich weder im Slogan “Eine andere Digitalisierung ist möglich” noch im digitalisierungspolitischen Inkrementalismus erschöpft. Die dem Lamento der Technologie-Skepsis, dem achselzuckenden Kapitalismus-Verweis, der Faulheit der Milliardärsbösewichte-Erzählung genau wie dem There-is-no-Alternative-Missionarismus der Hype-Crowd etwas Konkretes entgegensetzt.
Wie diese Antwort lauten könnte? Das ist mir ehrlich gesagt unklarer denn je. Ich bin mir allerdings sicher, dass es mit konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat. Mit etwas, das sich der Verarbeitungs- und Verwertungslogik weitestgehend entzieht. IRL, in real life, aber nicht analog gemeint.
Wenn das vage klingt oder ein bisschen utopisch, so darf das vielleicht wenige Tage vor Weihnachten erlaubt sein. Vielleicht aber liegt auch etwas in der Luft.
Denn die Frage “Wohin soll die Digitaltechnologie uns führen?” enthält auch den inhärenten Widerspruch menschlicher Zivilisationen, Werkzeuge zu erschaffen, die den Menschen irgendwann selbst zu benutzen beginnen. Und das Ringen darum, Auswege aus dieser Logik zu finden.
Deshalb ist es kein Paradox, wenn der Schriftsteller und Zivilisationsskeptiker Lewis Mumford in seinem Erstlingswerk “The Story of Utopia” (1922) schrieb:
“Wir leiden nicht an einem Zuviel an Maschinen, sondern an einem Zuwenig. Denn wenn es genug eiserne Diener gäbe, könnten mehr von uns auf den Gipfeln der Berge sitzen und in den blauen Himmel blicken und wertvolle Stunden mit der Vorstellung der Dinge verschwenden, die sein sollten.”
Lexikon der KI
Im Herbst habe ich an einer kleinen Serie für die Zeitfragen in Deutschlandfunk Kultur mitgewirkt - das “Lexikon der KI”. Es war ein etwas anderer Versuch, das Thema einem größeren Publikum näher zu bringen (danke für den Aufwand, Jana!). Wer die Folgen, an denen ich beteiligt war, nachhören möchte:
Weitere Folgen gibt es von Jana Wuttke und Christian Schiffer.
Links
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Langfristig angelegte Supply-Chain-Attacke trifft IT-Sicherheitspersonal.
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Crypto hat die US-Wahlen gewonnen - was nun? ($)
Paper: Kann Liquefaction Crypto-Transaktionen verschleiern?
Bitcoin: J.P. Koning über seine Beobachtungen in den vergangenen zwölf Jahren.
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Moderation: Telegram setzt inzwischen Sperrlisten und KI ein.
Einsatz künstlicher Intelligenz: FOMO ist noch keine Strategie.
Paper von Cass R. Sunstein: KI und das Vorhersageproblem.
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes