Aus dem Internet-Observatorium #108
Russlands Social Design Agency: Cambridge Analytica trifft neue Medienrealität
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Etwas verspätet, hier ist gerade alles sehr eng getaktet, auch privat.
Russlands Social Design Agency: Cambridge Analytica trifft neue Medienrealität
In den vergangenen Tagen veröffentlichten das Recherchetrio SZ, NDR und WDR, die taz, aber auch Wired verschiedene Artikel über die “Social Design Agency” (kurz “SDA”).
Die SDA ist eine russische Firma zur Meinungsbeeinflussung a.k.a Trollfabrik/Propagandafabrik, betrieben von einem Mann namens Ilja Gambaschidse. Die SDA pflegt unter anderem regelmäßigen Kontakt zu Sergej Kirijenko, einem Mitarbeiter von Putins Stab im russischen Präsidialamt und Desinformations-Zar der Regierung. Die Recherchen beruhen auf internen Dokumenten, die teilweise von einem mutmaßlichen Hacker an die Medien geleakt wurden, teilweise vom US-Justizministerium veröffentlicht wurden.
Zunächst lassen mich die Veröffentlichungen ratlos zurück.
Denn wenn ich den SZ-Artikel lese, beschleicht mich nämlich das Gefühl, dass die SDA ziemlich… rumstümpert?
Vielleicht liegt es an dem dramatischen Ton, der die Fallhöhe nach oben schraubt. Sogar - verzeiht es mir, liebe Kollegen - ins unfreiwillig Komische, wenn es um das Social-Media-Profil des SDA-Chefs Gambaschidse geht:
“Doch auch ein Schattenmann hinterlässt Spuren. Im Internet benutzt Ilja Gambaschidse den Titel des Films „Clockwork Orange“ als Nutzernamen und eine Collage als Profilbild. Im Klassiker von Stanley Kubrick setzt ein fiktiver Staat in der Zukunft alles daran, die Menschen umzuerziehen. Das passt zu dem Strategen aus dem Hintergrund, der zu einem zentralen Akteur der russischen Einflussoperationen geworden ist.”
Wow, Clockwork Orange. Edgy Zeug seit 52 Jahren.
Es sind aber vor allem die Fallbeispiele, die mich irritieren. Als pars pro toto wird folgendes Twitter(X)-Konto beschrieben, das minütlich Propaganda-Memes raushaut.
Followerzahl: Null.
Dazu heißt es:
“Die Firma setzt auf Masse. Dass Bots wie „Sandra“ auf X nicht einen einzigen Follower haben, erscheint zweitrangig.”
Okay, ich dachte schon, dass man Follower haben sollte, um bei X irgendwo aufzutauchen. Aber gut, wie sieht es dann auf Facebook aus? Offenbar ziemlich generisch:
Aber es gibt ja noch die Geheimwaffe, und zwar… *gucke in meine Notizen* … Karikaturen?? Hier ein Beispiel aus dem Anti-Ukraine-Kontext:
Das alles wirkt irgendwie aus der Zeit gefallen. Genauer gesagt: Wie aus den 2010er-Jahren. Das gilt auch für die interne Narrativ-Planung, von der die taz schreibt:
“In einem Dokument werden auf fünf Seiten 17 Narrative entwickelt, die ausschließlich in Deutschland gestreut werden sollen. “Linke” Beamte in der Regierung zeigten “eklatante Unprofessionalität und Verantwortungslosigkeit”, sie schadeten dem Ansehen Berlins im Ausland, lautet eines. Oder: Deutsche Verbraucher müssten wegen der Russlandsanktionen mit “massiven Heizungsausfällen” rechnen. Deutsche Waffen würden zur Begehung von Kriegsverbrechen in der Ukraine verwendet. Und: Die Ukraine sei eine europäische Basis für die Produktion von Drogen, die über Geflüchtete nach Deutschland gelangen.”
Die Narrative sind derart drüber, dass sie eher in den US-Wahlkampf 2016 als in das Jahr 2024 passen würden. Für mich drängen sich Parallelen zu Cambridge Analytica auf - eine Firma, die durch geschickte Eigen-PR und ein für das Narrativ “die US-Wähler wurden in Trumps Arme hineinmanipuliert” empfängliches Publikum zwischendurch mal wie der Ibegriff der Meinungsmanipulation galt. Bis sich das alles vor allem als Schaumschlägerei entpuppte.
Zweifel an der Wirksamkeit - und das Motiv “Coole Agentur kann dem Kreml Einfluss suggerieren” - klingen auch im SZ-Artikel an:
“Hinter verschlossenen Türen warnen Geheimdienstler aber auch, man dürfe Russlands Desinformation nicht größer machen, als sie in Wahrheit sei. Denn auch das wäre ja schon ein Propaganda-Erfolg für Moskau. (…) Das Hauptzielpublikum von Desinformation seien nicht die deutschen Wähler, sagt (…) der Politikwissenschaftler und Cyberwar-Experte Thomas Rid: “Das Hauptpublikum sind die Geldgeber.””
Vielleicht kann man diese Form von Desinformation auch mit Spam vergleichen, genauer gesagt mit der Spamwelle der Neunziger und Nullerjahre. Irgendein Dummer wird auf den SDA-Content schon anspringen.
Und, voilà: Hier ist Elon Musk, wie er ein anti-ukrainisches Meme teilt, das sich ebenfalls in den Dokumenten finden soll:
Hier zeigt sich der Unterschied zum Spam: Den "Jackpot” zu erwischen, bedeutet eben nicht, dass eine Person sich ausnehmen lässt. Sondern dass eine einflussreiche Person zum viralen Faktor wird. Das hat natürlich auch die SDA erkannt: So führt man den Medienberichten zufolge eine Liste mit Tausenden Persönlichkeiten aus den Zielländern, die im Kontext Social Media als einflussreich gelten. Wired schreibt (übersetzt):
“In einer Notiz von einem der Treffen mit russischen Regierungsvertretern, bei dem der Einsatz von Influencern für die Kampagne diskutiert wurde, schrieb Gambashidze: “Wir brauchen Influencer! Viele von ihnen und überall. Wir sind bereit, sie mit Speis und Trank zu hofieren!”
Obwohl keine Verbindungen bestätigt wurden, wurde Tenet Media, eine Organisation, die eine Reihe von rechtsgerichteten Kommentatoren repräsentiert, in einer entsiegelten Anklageschrift des Justizministeriums beschuldigt, größtenteils vom russischen staatlich unterstützten Nachrichtensender RT finanziert worden zu sein.”
Und da sind wir bei den “known unknowns” - den Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen: Nämlich ob es wirklich eine nennenswerte oder in Sachen Reichweite erfolgreiche “Influencer”-Unterwanderung im Westen gibt. Genauso wie wir nicht wissen, auf welchem technischen Stand sich die SDA inzwischen befindet.
Letzteres lässt sich zumindest erahnen: Mit relativ einfachen Templates (und wahrscheinlich ein bisschen KI-Unterstützung) hat man für die pro-russische “Doppelgänger”-Kampagne massenweise westliche Medien-Websites gefälscht, um dort Falschmeldungen zu platzieren.
Und ein Video eines Fake-Lokalsenders - das allerdings bislang nur Russland, nicht der SDA direkt zugeordnet wurde - über eine angebliche Fahrerflucht von Kamala Harris 2011 erreichte Millionen Aufrufe:
Die Washington Post schreibt zu der entsprechenden Veröffentlichung von Microsoft (übersetzt und gefettet):
“Das Video war ein viraler Hit, der von X-Konten mit bis zu einer halben Million Anhängern verbreitet wurde, obwohl es zuerst auf einem neu online gegangenen Nachrichtenportal in San Francisco erschien, das bald wieder verschwand. Posts mit dem Video wurden allein auf X 7 Millionen Mal aufgerufen und waren auch auf Facebook, TikTok und YouTube zu sehen.
Ein anderes Video stellte einen Angriff auf einen Teilnehmer einer Kundgebung für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump dar und erreichte Millionen von Aufrufen, so Microsoft. Ein Video zeigte eine gefälschte New Yorker Werbetafel mit vulgären Botschaften, die besagten, dass Harris das Geschlecht von Kindern ändern wolle. Der Beitrag wurde auf X hunderttausendfach aufgerufen.”
Reichweite war also vorhanden. Mal sehen, was passiert, wenn die Darstellerin von “Alicia Brown” ausfindig gemacht wird (angeblich ist das keine KI-Lippensynchro).
Interessant sind auch die Kommentare unter dem oben eingebetteten Debunking-Video (!): Dort ist nämlich vornehmlich von "Vertuschung” und Ähnlichem die Rede.
Nun kann es durchaus sein, dass da einige SDA-Accounts dabei sind. Aber dann würden wir die anderen beiden Gruppen unterschätzen: Diejenigen, die das wirklich glauben oder aktive Informationsselektion zur Bestätigung des eigenen Weltbilds praktizieren. Und diejenigen, die angeben, das zu glauben, um Stimmung zu machen. “Owning the libs” ist ein bekanntes Motiv unter der reaktionären Rechten in den USA. Das auch hierzulande nicht zu unterschätzen ist. Politik in den sozialen Medien ist inzwischen in den meisten Ecken deutlich näher an Fandom, Trolling und Reichweiten-Bait (siehe u.a. Ausgabe #82) als an echtem Diskurs, wie ihn sich Habermas idealisiert vorstellte.
In der letzten Ausgabe habe ich darüber geschrieben, dass das Anreizsystem für reaktionären Content deutlich ausgeprägter als für progressive oder objektive Botschaften. In Ausgabe #103 habe ich auf die oft ignorierte Rolle aktiver Polarisierung durch etablierte Akteure im Sinne von “Politiker und/oder Influencer als Anheizer, Wahrheitsverdreher, Ragebait-Drehscheibe” hingewiesen. Und dann sind da noch die realen politischen Probleme, die Wutbait-Inhalten erst ihre Durchschlagkraft geben.
In dieser Gemengelage lässt sich vielleicht sagen: Die Moskauer Social Design Agency muss gar nicht effektiv oder besonders gut sein, in dem, was sie macht. Sondern einfach nur politische Strömungen und Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie ein bisschen verstärken und der russischen Regierung irgendwelche Excel-Tabellen vorlegen.
Alleine diese Form von Spam und Manipulationsversuchen genügt, um dem “Theater der ideologischen Konfusion” im Ausland zur Wirkung zu verhelfen, das Wladislaw Surkow als heimlicher Autor des modernen russischen Mediensystems einst entwickelte. Wenn der Einzelne nicht weiß, welcher Nachricht er glauben soll, mit welcher Motivation Menschen und menschenähnliche Konten im Internet ihre Meinung hinterlassen, welche Welt “die echte” ist - dann ist die Realitätskrise kein Zukunftsszenario mehr, sondern Gegenwart (siehe u.a. Ausgaben #01, #12, #22).
Zu besagtem Theater der ideologischen Konfusion schrieb ich 2016 einmal:
“Wenn wir also in einer Welt leben, in der sich hinter jeder Tür eine andere mögliche Tür verbirgt, wie erkennt der Einzelne die “echte” Welt? Sie liegt einzige in seiner Erfahrung, seinem Urteil und Vorurteil. Was allerdings angesichts dessen, das die meisten unserer Erfahrungen in “der Welt” inzwischen virtualisiert sind (und die Erfahrungen der Menschen, mit denen wir interagieren, ebenfalls), nicht unbedingt ein Vorteil ist.”
Genau das scheint mir unsere Realität zu beschreiben. Und in dieser Realität trägt das Narrativ vom Russland, das die sozialen Medien im Westen gekonnt wie erfolgreich manipuliert und damit der Schlüsselakteur beim Siegeszug der harten politischen Rechten (oder Populisten generell) in Europa ist, zu einer Illusion bei: Dass es vor allem an Moskau liegt, dass in den politischen Ecken der Sozialmedien weitestgehend Wut herrscht.
1 Zitat
Ian Bogost über die explodieren Pager und Handfunkgeräte im Libanon ($, übersetzt):
“Worte wie Spyware und Malware erinnern an die von James Bond inspirierte Vorstellung, dass ein Hacker an einem Computer, der eine halbe Welt entfernt ist, mit einem schnellen Tastendruck das Telefon einer beliebigen Person zum Explodieren bringen kann. Doch selbst nach dem erstaunlichen Angriff im Libanon bleibt ein solches Szenario Fiktion und nicht Tatsache.
Und doch ist es auch so, dass dieser Anschlag eine neue Art von Terror hervorgebracht hat. Vor allem im Libanon und in anderen Teilen des Nahen Ostens können die Bürger nun berechtigterweise befürchten, dass auch gewöhnliche Geräte zu Bomben werden könnten. (…)
Mit anderen Worten: Die Angst ist begründet genug, um Wurzeln zu schlagen. Im Ausland, sogar hier in den USA, kann die gleiche Angst aufkommen, wenn auch mit viel weniger Berechtigung. Die Befürchtung, dass Ihr Telefon eine Bombe ist, scheint neu zu sein, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Die Angst wird durch Bomben verursacht, also durch Dinge, die explodieren. Ein Pager oder ein Telefon kann in eine Bombe verwandelt werden, aber auch alles andere.”
Links
OpenAI o1 und Inferenz / analytisches Denken.
Meta entdeckt den Jugendschutz und bietet geschützte “Teen-Accounts” für Instagram an.
Stellungnahme der BfDI: Gesichtserkennungspläne der Bundesregierung “nicht umsetzbar”.
Was Bretons Abgang für die europäische Digitalpolitik bedeutet.
ICYMI: Intel stellt Magdeburger Werk zurück. ($)
Die Deepfake-Krise in Südkoreas Schulen.
Zweifel an der Bund-Delos-Cloud. (€)
Am 10. Oktober wird erneut über die Chatkontrolle abgestimmt.
Google bot der EU-Kommission offenbar den Verkauf von AdX an.
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Booking.com: Bestpreisklauseln sind rechtskonform.
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Chart-Analyse: Jeder vierte Hit war vorher ein TikTok-Hit.
Social Media: Verwirrung > Authentizität.
Das hilfreichste Tool für Kalender-Einträge, das ich kenne.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes