Liebe Internet-Beobachtende der ersten Generation,
vielen Dank für den Platz in dieser Inbox!
Mein Pitch: Wer das hier liest, weiß auch jenseits der bekannten Schlagzeilen, was rund um Digitalisierung, Netzpolitik und Internet-Entwicklung los ist.
Dieser Newsletter ist ständig im Werden, ich freue mich über Feedback, Kritik, Wünsche per E-Mail.
Diese Woche noch einmal ein genauerer Blick auf die USA mit einigen spekulativen Elementen (und auch ausnahmsweise etwas länger).
Thema 1: Total Landscaping
Ich kann euch/ihnen allen nur empfehlen, die Zeit bis zum 20. Januar möglichst wenig Social Media zu konsumieren. Denn es wird dort noch einige Achterbahn-Loopings geben, bis Joe Biden sein Amt antritt.
Es scheint deutlich, dass sich für die Zeit danach gerade eine neuartige Struktur herausbildet. Die nächste Stufe der reaktionären Parallel-Realität; Vox nennt es die “Autokratie-im-Exil”, also eine politische Bewegung, Trump weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten sieht. Vielleicht gebündelt über ein Trump‘sches Medienunternehmen, wie Casey Newton mutmaßt und auch der 45. US-Präsident selbst intern andeutet. Vielleicht liefert Trump auch nur den Content, seine Anhänger bevölkern ja bereits die digitalen Verteil-Netzwerke, speziell Social Media.
Was heißt das? Aus der Vogelperspektive betrachtet: Wie Deutungshoheit entsteht, entwickelt sich weiterhin weg von den Mechanismen des späten 20. Jahrhunderts (Institutionen, lineare Medien). Hierarchie ist nicht überflüssig geworden, sondern sie entsteht vielmehr vernetzt. Genauer gesagt erleben wir die “Memefizierung der Welt”. Ideen, Verhalten und Stile werden zu Kultur(über)trägern. Und damit politisch auch zu einem Machtfaktor.
Wenn wir auf digitale Kommunikation blicken, nehmen wir dabei oft nur das Echtzeit-Element wahr, also die völlig Fixiertheit auf das, was gerade passiert (hi, Twitter!). Dabei unterschätzen wir die Rolle der Vergangenheit: Denn jede/r kann sich im fast unendlichen digitalen Archiv bedienen, daraus Weltsichten und Welterklärungen ableiten - und diese und auf dem vernetzten Markt der Öffentlichkeit platzieren (und durch Manipulation von Datenbank-Dynamiken verstärken). Eine neue Geisteslandschaft schaffen, “Total Landscaping” sozusagen.
Konkurrenz der Vergangenheiten
Nebenaspekte können zu wichtigen Ereignissen erklärt werden (bis hin zu einer Pizza-Erwähnung, die zu Pizzagate wurde, das wiederum in QAnon mündete), neue Verbindungslinien zur Gegenwart werden gezogen, aber auch gängige Erkenntnisse/Verhaltensweisen/Institutionen in Zweifel gezogen. Das alles ist nicht nur verschwörerisch, die Bandbreite reicht von “die USA erklärten ihre Unabhängigkeit, um die Sklaverei zu bewahren“ (New York Times 1619 Project) bis “Corona gibt es nicht”.
Im Falle des angeblichen Trump-Wahlsiegs werden mit dem entsprechenden Input kollektiv “Fakten” geschaffen, die objektiv keine sind. Eine Vergangenheit, auf die sich in den nächsten Jahren aufbauen lässt.
Der “Kampf um die Vergangenheit” war schon immer ein zentraler politischer Konflikt - und wenn wir uns die Kulturkämpfe der Gegenwart angucken, geht es dort eigentlich fast ausschließlich darum, wie wir Vergangenheit interpretieren. Doch im 21. Jahrhundert gibt es immer weniger Instanzen, die im Zusammenspiel (oder Konflikt miteinander) die Zahl der diskutierbaren Vergangenheiten eingrenzen.
Im vernetzten Zeitalter konkurrieren deshalb unzählige, mit unterschiedlichem Realitätsbezug ausgestattete Vergangenheiten miteinander bzw. um Follower. Entsprechend kann daraus keine gemeinsame Zukunftsidee entstehen. Was wiederum nahe legt, dass unsere Zukunft sehr chaotisch und unübersichtlich wird.
Um die Vogelperspektive zu verlassen und ein Fazit zu ziehen: Die US-Politik wird lateinamerikanischer - gespalten, operettenhaft, unstet, stagnierend und mit ständigen Versuchen, das System zu biegen. Zugleich treten aber in ihr bereits Konturen einer (mir fällt gerade kein besseres Wort ein) Cyberzivilisation zutage. Sie stellt übrigens das Filterblasen-Thema vom Kopf auf die Füße: Filterblasen sind nicht etwas, in das Plattformen und “Algorithmen” uns einzwängen. Nein: die Menschen suchen sie.
Thema 2: Globale Bewegungen gegen Tech-Marktmacht
Drei Meldungen aus dieser Woche verdeutlichen, dass Kartellverfahren gegen große Tech-Firmen weiter Schule machen.
Die EU-Kommission hat ein Kartellverfahren gegen Amazon eröffnet, es geht um die Nutzung nicht-öffentlicher Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern (auf dem Amazon-Marktplatz) für eigene Zwecke. Die mögliche Strafe bei einer Verurteilung wären 10% des Jahresumsatzes, also 23,7 Milliarden Euro. Das Verfahren wird insofern spannend, als Amazon auf den ersten Blick digital verfeinert, was Aldi, Rewe, Kaufland und Co. in der physischen Welt tun: Kaufverhalten analysieren und erfolgreiche Produkte als Eigenmarke anbieten. Der Unterschied soll offenbar sein, dass es sich dort (in der Regel) um Lieferanten handelt, bei Amazon um Händler, deren Plattform-Geschäft für die Firma völlig einsehbar ist.
Die indischen Kartellbehörden haben wiederum eine Untersuchung zu Google Pay eingeleitet. Konkret: Ob Google Pay andere Mobilzahlungsdienste benachteiligt. Google hat in den Mobilfunk-Anbieter Jio investiert, der als Tür zum indischen Internet fungiert. Teil des Investments ist die gemeinsame Entwicklung eines Billig-Smartphones (mit vorinstallierten Google-Diensten nehme ich an).
Und schließlich hat das staatliche Büro für Markt-Regulierung in China erstmals detaillierte Vorschläge für Wettbewerbsbeschränkungen für E-Commerce-Plattformen veröffentlicht. Die Vorschriften regulieren vor allem Alibaba (880 Millionen aktive Mobil-Nutzer monatlich) und JD.com. Konkret verbieten sie auf vielen Feldern die Zusammenarbeit, aber auch Kampfpreis-Strategien gegen kleinere Wettbewerber oder erzwungene Exklusiv-Vereinbarungen mit Händlern.
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#Backdoor-Debatte Die EU diskutiert erneut, wie Ermittler und Geheimdienste die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei Messengern wie WhatsApp umgehen können. Wobei mir noch nicht sicher scheint, ob das auf einen Gesetzesprozess oder eine der berühmten “High-Level-Working-Groups” hinausläuft. Ich bin dazu am Samstag gegen 13:20 Uhr auch kurz bei Breitband im Deutschlandfunk Kultur zu hören. (FM4)
#SozialeNetzwerke Mit Parler (Spitzname “MeinSpace”) findet gerade ein Twitter-Klon bei der amerikanischen Ultrarechten großen Anklang. Um Ryan Broderick zu zitieren: “Social media is a video game and Parler is a map without enemies to defeat. So, no, Parler will not catch on. Just as Gab never caught on.”
#Onlinewerbung Internet-Werbung, bekannt für rücksichtslose Datenverwertung und dubiose Teichweiten-Nachweise, wird immer mal wieder totgesagt. Paris Marx (Künstlichername?) hat herumgefragt, was nach dem Zusammenbruch kommen könnte. (One Zero)
#InternetvonMorgen China hat den ersten 6G-Testsatelliten in den Orbit geschickt, wenige Tage danach sind Apple und Google der nordamerikanischen 6G-Arbeitsgruppe beigetreten. Hier ein kleiner 6G-Hintergrund. (BBC)
#Corona Die Corona-Warn-App erhält einige Updates, ich habe einen längeren Beitrag darüber und über die diversen Debatten rundherum gemacht. (Deutschlandfunk)
Zwei Lesetipps
The Digital Nomads Did Not Prepare For This
Covid-19 und die Grenzen des “Irgendwo-Exotisches-arbeiten”-Lebens. Vom Lockdown über Visa-Probleme bis zu Steuer-Nachforderungen. (New York Times)
Even as traditional globalisation has slowed, a new kind has sped up
Die Globalisierung des Stils: Brooklynartige Hipster-Hotspots von Kabul bis zum Kongo. Treiber: Instagram, Pinterest und die wünsche einer jungen globalen oberen Mittelschicht. (Economist)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und bis Ausgabe #02!
Johannes