Aus dem Internet-Observatorium #82
Politik, Fans und Stans und Taylor Swift / Arc, KI und dynamische Inhalte / Creator vs. Influencer
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Dieses Mal etwas kulturpessimistischer als sonst, so mein Eindruck. Das könnte aber auch daran liegen, dass ich heute bereits Frühdienst hatte.
Politik, Fans und Stans und Taylor Swift
Taylor Swift ist in der amerikanischen Popkultur gerade unantastbar. Und weil sie nach Kritik von Fox News und aus dem Very-Online-MAGA-Lager offenbar irgendwie der “Anti-Trump”-Bewegung zugerechnet wird, erhält die Sängerin plötzlich auch politische Relevanz: Wer Taylor Swift mag, wählt Biden, nicht Trump. Oder so ähnlich. Dabei hat Frau Swift ihre Präferenz noch gar nicht geäußert (sie steht aber ganz oben auf der Liste des Biden-Teams, wenn es um bevorzugte prominente Unterstützung geht).
Taylor Swifts Fans werden “Swifties” genannt, sie gelten als, gelinde gesagt, hingebungsvoll. Und ihnen soll nun offenbar eine zentrale Rolle dabei zukommen, im Herbst Amerikas Demokratie zu retten - sofern Taylor Swift sie motiviert, Biden zu wählen.
Nicht wenige Progressive scheinen Swift deshalb nicht nur als Asset, sondern in gewissem Sinne auch als Teil der eigenen politischen Identität zu betrachten. So wie fast jede noch so banale Konsumentscheidung in den USA inzwischen als politisches Statement gilt: Trinkst du Bud Light, weil sie eine Trans-Influencerin in ihrer Werbung auftreten lassen, oder boykottierst du Bud Light deshalb? Trinkst Du Jack Daniel’s? Gehst Du in den Whole-Foods-Biomarkt? Liebst Du American Football? Ich weiß vielleicht nicht, wer Du bist - aber ich weiß, was Du jeweils wählst.
Diese Form des politischen Konsum-Bekenntnisses treibt seltsame Blüten. Witze über Frau Swift müssen zum Beispiel harmlos sein, fordert hier nach der Grammy-Verleihung ein Meta-Manager:
Das ist alles ziemlich bizarr. Aber nicht überraschend. Denn Taylor Swift ist bekanntlich gut darin, ihren Fans eine besonders intensive Form von parasozialer Beziehung zu ermöglichen (diese Studie analysiert das ganz gut) - obwohl sie als Star weit entfernt ist, erscheint sie ihren Fans als eine Art beste Freundin, nahbar und sympathisch.
Viele Swifties gelten deshalb als besonders prototypische “Stans” - jene obsessive Mischung aus Stalker und Fan also, die jede Botschaft eines/einer Prominenten ebenso persönlich nimmt wie jede Form von Kritik an jenem Prominenten. Oder, um Eminems “Stan” zu zitieren:
Dear Slim, I wrote you, but you still ain't callin'
I left my cell, my pager and my home phone at the bottom
I sent two letters back in autumn, you must not've got 'em
Ihr kennt den Song.
Standom findet bekanntlich vor allem digital statt und kann politisch ein großer Machtfaktor sein - siehe Donald Trumps weiterhin unumstrittene Position als Anführer der Republikaner.
Im Falle von Swift verhält es sich so: Sie wurde in einer Zeit berühmt, in der es so einfach wie noch nie war, direkte Formen parasozialer Bindungen aufzubauen (Social Media), aber auch, sie zu monetarisieren. Zum Beispiel mit Meet & Greets, für viele Promis mit Diensten wie Cameo und im Falle von Swift mittels einer Art Wettbewerb unter den Fans und Stans, wer am meisten für Tickets und Merchandise ausgibt. Vielleicht lässt sich sage: Die Voraussetzungen waren kulturell und technisch vorhanden, Taylor Swift hat dieses neue System vermutlich besser als fast alle anderen Künstlerinnen und Künstler gemeistert.
Was aber sagt das mögliche Duell Trumpismus vs. Swifties über die gegenwärtige Kultur aus?
Erstens, dass wir in den USA so weit sind, dass Fandom zu einem zentralen Bestandteil politischer Mobilisierung wird, mit besonders großem Potenzial (auch für Flame-Wars) in der Stan-Community. Verhaltensweisen und Konzepte, die vor zehn Jahren vor allem in Nischen wie Tumblr, Fandom-Twitter oder 4Chan zuhause waren, sind inzwischen ein Teil des politischen Mainstreams und der politischen Strategie.
Zweitens, dass Konsumverhalten (in diesem Falle “welche Musik höre ich?”) nicht nur weiter politisiert wird, sondern (vor allem online) aktiv als Marker der eigenen politischen Identität genutzt wird.
Und drittens, dass in diese politische Identitätszuschreibung im Kern völlig politikfrei ist. Es wird entlang der Personalie Taylor Swift kein einziger politischer Inhalt außer politischer Stammeszugehörigkeit verhandelt. Aber zu erklären, Taylor Swift zu mögen, ist noch keine politische Betätigung.
Dass das aber offenbar einer wachsenden zahl von Menschen bereits als politischer Akt erscheint, ist ein Problem.
Arc, KI und dynamische Inhalte
Ich persönlich bin mit dem Browser “Arc” (von The Browser Company) bislang nicht zurecht gekommen. Aber zwei neue Werkzeuge dort sind dann doch sehr interessant.
Da wäre “Arc Search”, die mobile App. Die Idee: Ich will etwas über ein Thema wissen, der KI-getriebene Arc-Agent durchsucht für mich das Web und rendert daraufhin für mich ein eigene Website. Hier der First Screen am Beispiel Taylor Swift:
Da scheinen zwei Dinge durch: Einmal die Möglichkeit, KI-Agenten banale Klick-Tätigkeiten übernehmen zu lassen. Und eine Idee davon, wie die mobile Suche im KI-Zeitalter aussehen könnte. Wer in der Content-Branche arbeitet, sollte sich wirklich Sorgen machen. Denn bis zu den Quellen (die in der Regel oft Wikipedia, YouTube und Co sind) ganz am Ende der Seite wird fast niemand mehr scrollen, geschweige denn klicken.
Arc hat auch einige Features für seine Desktop-Version vorgestellt - unter anderem ”Instant Links”. Wer das Feature aktiviert hat (unter “Settings”, “Max”) und nach der Suchanfrage Enter+Shift drückt, wird nicht mehr zur Ergebnisliste seiner Standardsuchmaschine geschickt, sondern direkt auf die gewünschte Seite. Das wird Google erst einmal nicht weiter stören, aber auch bei diesem Klick-KI-Agenten wird deutlich: Der Ergebnisliste mit den blauen Links ist nicht die finale Erscheinungsform der Suche.
Creator-Dasein lohnt sich nicht
Joan Westenberg hat anhand von Patreon- und Substack-Zahlen ausgerechnet, ob sich das Creator-Dasein lohnt. Die Antwort lautet natürlich: In dieser großen Konkurrenzsituation nicht. Bei einer durchschnittlichen Bezahlquote von fünf Prozent braucht es im Schnitt 20.000 Abonnenten, um 1000 davon als bezahlende Abonnenten zu monetariseren.
Das wäre kein Problem, wenn wir es mit einem begrenzten Oligopol wie zu Zeiten der Druckerpresse zu tun hätten. Aber durch das ständig wachsende Angebot, das auf eine Nachfrage trifft, die schon fast am Limit ist, sind die 20.000 gar nicht so einfach zu erreichen.
Was wiederum in eine unfertige Theorie von mir hineinspielt: Die stärkere Unterscheidung von Influencern und Creators (sorry für die englischen Begriffe, aber so wirklich übersetzen lässt sich das ja nicht).
Content-Creators (wie ich) werden sich im neuen Medien-Umfeld nur sehr selten autark refinanzieren können - hierzulande erschwerend, weil man auf einer Nischensprache wie deutsch publiziert (und dann womöglich noch in einem Nischenmedium wie Text). Deshalb bleibt für Content Creator, wenn sie publizistisch tätig sein möchten, vor allem die abhängige Beschäftigung oder Dienstleistung für Dritte.
Weil diese Jobs aber relativ rar sind und durch KI noch seltener werden, werden wir eine Verstärkung eines Trends erleben: Creator entwickeln sich in Richtung Influencer. Heißt: Stärker versuchen, an Trends anzudocken, klare oder auch radikale Haltungen und Meinungen vertreten, manchmal auch eine Form von Nähe bis hin zum Voyeurismus zulassen, statt eher den Content in den Mittelpunkt zu stellen.
Ob diese Strategie aufgeht, ist letztlich noch einmal stärker von Faktoren Inszenierung, Persönlichkeit, Aussehen und auch Alter abhängig. Im Moment erleben wir die Phase, in diese Influencer-isierung sich zum Beispiel in den Themenfeldern Politik und Gesellschaft in starker Zuspitzung, Vereinfachung und tribaler Rhetorik ausdrückt. Und weil das gut funktioniert, übernimmt sich auch die Creator-Kaste diese Taktiken - zumindest, wenn sie selbst oder ihre Marken in der Aufmerksamkeitsökonomie in Konkurrenz um das Publikum der Influencer stehen. Was sich daraus entwickelt, ist mittelfristig noch mehr Identitätscontent - Inhalt, der darauf getrimmt ist, die Haltung der Zielgruppe zu bestätigen.
Wie gesagt: Das ist noch eine sehr grobe Theorie, aber ein paar Elemente davon sind für die Analyse der Creator-Economy in den kommenden Jahren womöglich hilfreich.
Apple Vision Pro in der U-Bahn: Gekonnt viral
Eine Lehrstunde in Viralität: Wenn von den ersten Erfahrungen mit der Apple-Brille die Rede ist, taucht häufig dieses Video auf:
Das Video stammt von Nikias Molina, einem Apple-Fanboy-YouTuber. Bislang war er unter anderem bekannt für ein Unboxing des iPhone 13 während eines Fallschirmsprungs.
Interessant an dem Video aus der U-Bahn: Molina lässt sich von jemand anderem filmen, und zwar so, dass es wie ein zufällig aufgenommenes Video aussieht. Diesen Eindruck (“oh Gott, irgendwelche Leute probieren ihre Vision Pro in der U-Bahn aus”) dürften wahrscheinlich auch die meisten Menschen gehabt haben, die das Video zum ersten Mal sahen. Denn das “Original” wurde natürlich Tausende Male kopiert und mit beißenden Kommentaren bei Social Media gepostet.
Was zwei Dinge zeigt:
Erstens: Molina ist es vermutlich völlig egal, ob sein Video kopiert wird und andere an den Preroll-Anzeigen verdienen. Es wird genügend Leute geben, die danach das Video irgendwo suchen und auf das Original stoßen.
Und zweitens: Es spielt überhaupt keine Rolle mehr, ob die Szene authentisch ist. Sie ist es objektiv nicht, Molina weiß, dass er gefilmt wird. Aber dieser Kontext geht im Zuge der viralen Verbreitung nicht nur verloren: Wir haben uns durch die TikTok-Formate derart an eine Form von “Inszenierung scheinbar zufälliger Szenen” gewöhnt, dass diese Information schlicht überhaupt keine Rolle spielt.
Links
Techno-Optimismus als relevante politische Strömung.
Ukraine-Krieg: Drohnen gegen Drohnen.
Quora beschleunigt seinen Niedergang durch KI-Antworten.
EU: Die Trilog-Verhandlungen zur Gigabit-Infrastrukturverordnung sind abgeschlossen.
Bob Lefsetz: Universal, TikTok und die verlorene Kontrolle über die Distribution.
Europcar: Angebliche Ransomware-Kundendaten wurden wohl mit ChatGPT erstellt.
Kein Cash: El Salvador forciert die Bitcoin-Nutzung.
20 Jahre Facebook: Die Hölle, das sind deine Facebook-Freunde.
Economist-Schwerpunkt über Cloud-Computing aus technischer Sicht. (€)
Frankreichs widersprüchliche Cloud-Strategie.
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Benedict Evans: Apples teilweises App-Store-Einlenken in der EU wird wenig ändern.
Paris Marx: Der “Apple Vision Pro” fehlt die Vision.
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Ein Auszug aus Zoe Schiffers anstehender Geschichte der Musk’schen Twitter-Übernahme.
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes