I/O vom 2. November 2022
Nu Twitter / Ende des "Dual Use" / Gesucht: Ein europäisches Citizen Lab
Guten Abend in die Runde!
Elon Musk, wie er mit dem Twitter-Vogel dem Sonnenuntergang folgt (Bild via Midjourney AI).
Nu Twitter
Okay, okay. Diese Woche komme ich wohl nicht um Musk und Twitter herum. Dabei wird über dieses Thema schon so viel geschrieben, kolportiert und gemeint, dass das Internet den Eindruck erweckt, von Meinungen zu Musk überzuquellen.
Wie dem auch sei. Dieser Text von Nilay Patel bei The Verge wurde allgemein herumgereicht, auch ich kann ihn empfehlen. Genau wie die Problemanalyse von Noah Smith. Und das Essay von John W. Herrman (btw. wie cool ist es, dass er wieder regelmäßig schreibt!). Denn mit der ihm eigenen Trockenheit entblättert Herrman einen nicht unwichtigen Aspekt der Twitter-Nutzung.
“At the core of every successful social network is a glowing nugget of shame, a little radioactive power source mined from the depths of human weakness. (…)
Twitter is a pretty good tool for discovering people you’d like to keep up with. It’s an even better tool for discovering people you’ll despise, but otherwise wouldn’t know, and making sure you never forget about them. Twitter’s house rhetorical style is: Look at this fucking asshole. By the way, he thinks you’re a piece of shit. As much as this sounds like a reason Twitter should be destroyed, this little rod of behavioral plutonium probably helped keep it alive, or at least relevant.”
Aber zurück zur Übernahme. Gratulieren muss man tatsächlich Parag Agrawal, dem inzwischen gefeuerten CEO. Ein ähnliches Husarenstück gab es in diesem Bereich seit dem Verkauf von StudiVZ an Holtzbrinck nicht mehr, ja vielleicht seit der Übernahme von Myspace durch News Corp.
Eine Firma wie Twitter, die legendär erfolgreich im tatenlosen Zusehen bei der Verwahrlosung des Kernprodukts ist. Die erstaunlich sinnlose Features wie den Instagram-Stories-Klon Fleets, die legendären “Moments” oder die sensationell lieblosen “Communities” ins Twitterversum bugsierte; die mit Vine und Periscope nichts anzufangen wusste; die sich an sämtlichen Fragen von Design bis Moderationspolicy überfordert und/oder desinteressiert zeigte; die schlecht im Steigern der TKPs und gut im Vergraulen von Heavy Usern ist; deren langjähriger CEO Jack Dorsey nicht nur nebenbei eine andere börsendotierte Firma führte, sondern sogar irgendwann ankündigte, einfach für ein paar Monate nach Afrika zu gehen; die in den Zehnerjahren zwischenzeitlich Aktienoptionen in Höhe der Hälfte des kompletten Firmenumsatzes an die Mitarbeiter, speziell die Chefetage, ausgab.
Diese preisverdächtige Shitshow in einer an Shitshows nicht armen Branche verkauft Agrawal nun für einen absurd hohen Preis. Oh, und seine 38,7 Millionen Dollar Abfindung (neben den Aktienerlösen) wird er gerichtlich sicher problemlos einklagen können.
Okay, man ahnt vielleicht, was ich von Twitter als Firma halte.
Aber zurück zum Thema: Pech haben natürlich die Tesla-Aktionäre, denn irgendwie ist man jetzt mit dem Twitter-Schicksal verbunden (stock dilution ist ja ohnehin ein Problem bei Tesla). Eine Milliarde Dollar Zinsen pro Jahr für Musks Kredite sind auch nicht wenig, wenn auch machbar. Selbst für die Banken lauern Risiken, falls sie ihre Kredite nicht weiterverkaufen können. Und auch politisch: Elon Musk, womöglich zwischen Tesla-Interessen an Absatzmärkten und den politischen Zensurwünschen dort eingeklemmt. In einer Zeit, in der der DSA in Kraft tritt und in den USA Gerichte die Haftungsfreistellung (Section 230) für Content kippen könnten.
Insofern ist Musk um seine Aufgabe nicht zu beneiden, denn mit ein paar Bezahlmodellen und einer besseren Ad-Engine ist es nicht getan (guter Hinweis von Ben Thompson: Ein Bezahlmodell für das Lesen von Tweets wäre am klügsten, würde aber mit dem Werbemodell kollidieren). Allerdings wird mir trotz des sichtbaren Chaos etwas viel Aufhebens um Entscheidungen gemacht, die viele andere Investoren wahrscheinlich auch sofort getroffen hätte (Personalabbau, Verwaltungsrat-Auflösung, externe Berater).
Im April habe ich den Zustand von Twitter als “tot und lebendig zugleich” beschrieben. Mitten in einem fortgesetzten Niedergang, der aber lange andauern kann und wird. Jetzt im Herbst 2022 erscheint der Twitter-Verkauf kulturell nochmal deutlicher symbolisch aufgeladen. Ein Sinnbild für die Zäsur, die wir erleben. Im August habe ich das zu Ende gehende Zeitalter bislang kulturell dominierender Sozialmedien “Vibe Shift” genannt: Eine Zukunft hält mehr Video, privatere Diskussionskanäle, stärkere algorithmische Steuerung, mittelfristig auch stärker synthetischer Content bereit.
Ob für Twitter dort Platz ist? Oder umgekehrt: Ob Twitter relativ schnell kaputt geht? Ich bin neulich auf das Konzept der “kritischen Hefe” (critical yeast) gestoßen, das eigentlich auf soziale Bewegungen angewendet wird. Aber sich auch irgendwie auf Migrationsbewegungen bei Social Media anwenden lässt (Fettungen von mir).
“Rather than critical mass, commonly believed to be the moment of shift when large enough numbers of people get behind an idea or movement, critical yeast does not focus on producing large numbers of people. Critical yeast asks the question in reference to social change: who within a given setting, if brought together, would have the capacity to make things grow toward the desired end? The focus is not on the number, but on the quality of people brought together, who represent unique linkages across a wide variety of sectors and locations…”
Und genau in dieser speziellen Mischung unterschiedlichster Charaktere und Schwerpunkte hat Twitter historisch seine Stärken, aber aktuell auch große Probleme. Umgekehrt ist jedoch schwer vorstellbar, dass andere Plattformen oder Protokolle wie Mastodon oder Blue Sky genau dieses Setting der “einzigartige Zusammenkunft unter ganz speziellen Bedingungen” erfüllen können. Vielleicht werden sich die öffentlichen Communities der Zukunft, siehe vorletzte Ausgabe, tatsächlich granular entlang von Marken und “Influencern” im weiteren Sinne gruppieren, und zwar mittels unterschiedlichster Software.
Ende des Dual Use
Noch aufgeregter als Elon Musk wird in Deutschland über China diskutiert. Was absolut seine Berechtigung hat, aber im Falle einer veralteten Dortmunder Chip-Fabrik wieder mal in panischster Weise am Thema vorbei geht.
Was mich zum Begriff des “Dual Use” bringt. Es scheint, als habe er im Zuge einer gepolitischen Blockbildung vor dem Hintergrund moderner Wirtschaften mit omnipräsenter Hochtechnologie seine Bedeutung verloren. Beziehungsweise: Alles ist “Dual Use”. Chips? Passen in Waschmaschinen, aber auch in Panzer. Drohnen? Lassen sich zivil nutzen, aber auch als Kamikaze-Waffe. Bilderkennung per Machine Learning? Für Robotik und moderne Diagnostik genauso vielversprechend wie für staatliche Rundum-Überwachung. Undsoweiter.
Im Moment scheint mir daraus politisch der Wunsch nach einem Decoupling abgeleitet zu werden, das durchaus Dimensionen des kalten Kriegs erreichen könnte (Cui Bono? Offenbar auf jeden Fall Eric Schmidt). Doch eine Stärkung dieser “Souveränität” hat konkrete Auswirkungen, nicht nur auf das Wirtschaftsmodell einer Volkswirtschaft. Meines Erachtens können wir auch mit einer Drosselung der Innovationsgeschwindigkeit und deutlich wachsenden block-internen Abhängigkeiten und Monopol- und Oligopol-Strukturen rechnen.
Ein europäisches Citizen Lab
…fordern hier Maarten Toelen und Arthur de Liedekerke, und ich kann dem nur zustimmen. Denn “Access-as-a-service” durch die Hacking-Industrie ist kein russisches, israelisches oder chinesisches Phänomen. Zitat aus besagtem Artikel.
“DSIRF, an Austrian surveillance firm, has been pinpointed by Microsoft as having helped in running intrusion operations for its customers.
Tykelab, an Italian outfit, is suspected of having enabled surveillance operations on targets in countries such as Libya, Pakistan, Malaysia, Iraq, and Mali, as well as in Greece, Macedonia, Portugal, and Italy.
Intellexa, a grouping of different firms offering cyber offence technologies and services based in Cyprus, has inked deals with “Bangladesh and an unnamed ‘Arab country’”. Sources additionally suggest the firm offers more than mere “installation and initial training” and provides actual “‘technical, operational and methodological’ support in OCC – with the latter term meaning intelligence practices.””
Auch an FinFisher sei an dieser Stelle nochmal erinnert. Was das Citizen Lab in Toronto gut macht, ist nicht nur die forensische Analyse. Vielmehr hat man inzwischen eine Autorität, die Aufmerksamkeit für Berichte und Enthüllungen garantiert. Und Aufmerksamkeit fehlt in diesem Thema. Das Ausmaß der Pegasus-Überwachungsfälle in Europa ist trotz eines entsprechenden Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament selbst der interessierten Öffentlichkeit nicht bewusst.
Links
Die Zukunftsaussichten von Meta sind gar nicht mal so schlecht, schreibt Ben Thompson.
Falschinformationen vor den US-Zwischenwahlen: Folgen der Dezentralisierung
Instant Delivery - die Blase platzt ($)
Bis nächste Woche!
Johannes