I/O vom 20. Oktober 2022
Online-Kultur als Sozialtechnik, Meta-Leiden, Algorithmen und Monopole
Hallo in die Runde! Wenn der Bundestag Sitzungswoche hat, benötigt dieser Newsletter manchmal etwas länger auf dem Weg in meine Out- und eure Inbox.
Online-Kultur als Sozialtechnik
Eines der spannendsten (und längsten!) Digitalisierungs-Denkstücke der vergangenen Wochen ist Toby Shorins Essay “Life After Lifestyle”. Shorin befasst sich mit der Rolle von Marken in einer vernetzten Welt, gehört aber nicht zum Heer der Verkäufer, Evangelisten und Schwätzer, das dazu publiziert.
In seiner Komplexität und Verästelung kann ich den Inhalt nicht komplett wiedergeben. Ich versuche es einmal mit der wichtigsten Tangente:
Shorin beginnt mit dem Aufstieg der Direktverkaufs-Marken seit der Finanzkrise 2008 (und einhergehend mit dem Massen-Durchbruch von Social Media) - ein Phänomen, das in den USA durch Marken wie Warby Parker nochmal deutlich verbreiteter war als hier.
Die Zehnerjahre folgen, und mit ihnen eine Veränderung der Kultur zur “Lifestyle-Ära”. Marken docken an existierende kulturelle Kontexte an, deren Konjunkturen in der Regel von Social Media abhängig sind. Und diese Umarmung der Marken ist derart intensiv, dass die kulturelle Produktion irgendwann nur noch die Vorarbeit für die Warenproduktion übernimmt (Adorno würde zustimmen). Der Zugang zu Billigproduktionsketten ist ein weiterer Faktor, der dieses Modell zum fliegen bringt.
“Stare long enough, and you begin to see the whole: an economy where culture is made in service of brands. To be even more literal: cultural production has become a service industry for the supply chain.”
Das zentrale Symbol für dieses System: Das Starterpack-Meme. Der Mensch als Konsument als Nutzer, definiert durch sehr nischige Referenzpunkte und die Konsum- und Gebrauchsgüter, die diese Identität ausdrücken (oft ausgewählt und präsentiert mit Hilfe von automatisiertem Online-Profiling).
Das waren die Zehnerjahre. In den Zwanzigern zeichnet sich eine Verschiebung ab. Sie beginnt mit der gegenwärtigen Zwischenphase der Vibe Economy, wie die Künstlerin Rachel Rossin sie nennt (“It is as much about buying the sneaker, posting it and reselling it as it is going out and standing in line.”) - Marketing eines Gefühls, das verschiedene Phasen von der Produkterwartung bis zum Weiterverkauf umfasst (Apple könnte man meiner Meinung nach als Pionier dieser Methode sehen).
Shorin sieht das aber nur als Zwischenphase, die auf etwas Umfassenderes hinweist. Das greifbare Produkt wird nur zu einem der vielen Aspekte einer Marke als Kulturträger. Zitat:
“We are transitioning out of the era of Lifestyle, and into an era where the production of culture is valued—both subjectively and financially—on its own terms. From an era where brands are designed to sell products to an era where brands are designed to be culture, to transform lives, to instill beliefs.”
Als gegenwärtige Beispiele nennt Shorin diverse Sportmarken, die weniger Kleidung verkaufen (obwohl sie dies auch tun), als eine Art Club-Modell gemeinsamer Aktivitäten ins Zentrum zu stellen. Er meint wohlgemerkt eben nicht den ”Nike Laufclub” als Identitätsgimmick, sondern ein ernsthaftes Angebot für Selbstverwirklichung und Sinnfindung. Denn wir erleben eben genau das Gegenteil des “Marken mit Ironie tragen” der Nullerjahre war: Marken werden als Angebote für Community und Sinnsuche akzeptiert. Und haben damit auch das Potenzial, zu Ideologien bis hin zur Sekte zu werden. Shorin betont in diesem Zusammenhang auch die Rolle von web3 und Crypto-Gemeinschaften, die de facto solche Marken sind und finanziell unterfüttern können.
“In the 2010s, supply chain innovation opened up lifestyle brands. In the 2020s, financial mechanism innovation is opening up the space for incentivized ideologies, networked publics, and co-owned faiths. Liquid cryptocurrency tokens empower speculative cultural projects with monetary policies that create FOMO (e.g. Ethereum, FWB); NFTs enable membership and monetization of whole aesthetics (e.g. Milady, Nouns).”
Kurz: Die Kultur wird das Produkt. Und das wird unsere gesellschaftliche Entwicklung massiv prägen. Diese neue Organisationsform könnte Hybridformen zwischen Marken und Ideologien entstehen lassen - und auch eine Alternative zum “einsamen Creator” sein, der sich in den Mühlen der Plattform kaputt arbeitet.
Menschen wie der Kickstarter-Mitgründer Yancey Strickler bauen auf dieser Erkenntnis (und im Referenzrahmen der Indielabels des 20. Jahrhunderts) Kollektive auf (metalabel), die eben nicht der Produktion von Content oder Waren dienen - sondern ein Angebot für Sinnstiftung und Kollektiv sein wollen.
Das alles klingt natürlich erst einmal aufregend. Andererseits neigen wir rund um Marken, Marketing und Kultur dazu, einen Überbau (Unterbau?) für echte und vermeintliche Trends zu finden, der sich einfach nur als Altbekanntes entpuppt.
Allerdings: Dass die Zeit reif ist für neue Quasi-Religionen ist, würde ich sofort unterschreiben. Die gegenwärtige Politisierung und Ideologisierung aller unserer Lebensaspekte liefert dafür deutliche Indizien. Und wo, wenn nicht im Kontext der digitalen Vernetzung sollten solche Entwicklungen verortet werden?
Das Spiel der falschen Realität
Als pessimistische Interpretation der Realität, wie sie in “Life After Lifestyle” geschildert wird:
“Der schlimmste aller Fehler und peinlichen Entscheidungen des Internet-Zeitalters ist es, erwischt zu werden. Ich habe jede Hoffnung aufgegeben, dass es anders wird. Wir marschieren absichtlich in eine Richtung, die uns schon vorgegeben wurde: eine kuratierte und erschaffene digitale Welt, zu der wir verzweifelt dazugehören wollen. Für die wir uns Persönlichkeiten basteln, Charaktere, Marken - alles, um dabei sein zu dürfen. Ja, du machst mit, ob du willst oder nicht - wenn du drüber redest, wirst du nur noch tiefer reingezogen. Und es gibt niemanden, der dich rettet. Alles, was die Massen wollen, ist jemand Neuen zu finden, dem sie eine mitgeben können.”
Brad Esposito: Everything Is Wrestling Again
Esposito erinnert mich (und Yancey Strickler) indirekt daran, dass es illusorisch sein könnte, in dieser neuen Welt der “Kultur als Produkt” auf so etwas wie Authentizität zu hoffen. Zumindest, solange die Aufmerksamkeitsökonomie die Anreize setzt, die sie nun einmal setzt.
Meta-Leiden
Über die Probleme des Zuckerberg’schen Meta-Konzerns, das Metaversum zum Laufen (hihi, Laufen, Beine) zu bekommen, wurde bereits viel geschrieben. Und diese Passage aus dem Wall Street Journal ist jetzt schon legendär:
“On a recent night, a female Journal reporter visited one of Horizon’s most popular virtual worlds, the Soapstone Comedy Club. It had about 20 users in it, all appearing as avatars. When the reporter introduced herself and tried to conduct an interview with a small group, one user replied: “You can report on me, baby.” The same user then asked her to expose herself.
One user who was flirting with a woman in the crowd was interrupted by what appeared to be his real-life girlfriend yelling obscenities at him in the background. (…)
The next day, a male Journal reporter visited a “house party” in which he was one of two people in attendance. He and the other avatar jumped into a boxing ring and fought for a round while wearing jack-o-lantern sparring headgear, then played beer pong. The other avatar never spoke and the game ended after about 10 minutes. The reporter’s avatar later fell into the pool and couldn’t figure out how to get out. There was no one around to help.”
Darüber hinaus halte ich es mit den Kollegen vom Social Media Watchblog: Ob das Ganze wirklich ein Flop wird, ist noch nicht gesagt. In Ausgabe #21 hatte ich ausführlicher meine Gedanken dazu notiert und auch auf die Idee des “inversen Metaversums” verwiesen: Internet-Communities, die in die Fleischwelt wandern und letztlich irgendwann als echte Metaversum den Unterschied zwischen “innen” (IM Internet) und “außen” (“IRL”) einfach kollabieren lassen. Womit wir wieder beim Kollektiv-Thema oben wären.
Dennoch will ich zum Meta-Thema noch kurz Ryan Broderick zitieren, der sich auf die schlechten Nutzungszahlen der Spiele auf Facebooks VR-Plattform bezieht:
“In fact, it’s, frankly, very weird that a social media company like Meta thinks what they do would be the evolutionary branch that gets us to the Metaverse. Meta doesn’t have any experience with hardware really and they don’t have any experience with game design. But for some reason they’ve decided they want to attempt to do both at the same time.”
Algorithmische Entscheidungen in Monopol-Situationen
Vermieter und Immobilienfirmen in den USA nutzen oft die Software YieldStar: Das Programm der Firma RealPage macht anhand von Markt-, Vertrags- und konkreten Wohnungsdaten Vorschläge, wie hoch sie die Miete ansetzen sollen. In 90 Prozent der Fälle übernehmen die Nutzer den Vorschlag.
Pro Publica hat eine Recherche über das System und seine Auswirkungen veröffentlicht. Ein Fazit:
“RealPage claims its software will increase revenue and decrease vacancies. But at times the company has appeared to urge apartment owners and managers to reduce supply while increasing price.”
Konkret steigen nicht nur die Mieten, sondern die Software rät bei Leerständen dazu auch oft zum Warten, statt zu niedrigeren Preisen zu vermieten.
Das YieldStar-Problem besteht allerdings nicht (nur) aus einer bestimmten Algorithmus-Programmierung. Sondern aus zwei weiteren Faktoren:
Der Anbieter RealPage hat in den vergangenen Jahren durch Fusionen derart an Marktmacht gewonnen, dass die Software quasi eine Monopolstellung hat. Es gibt also kein echtes Alternativprodukt zu einer solchen Mietenberechnung.
Noch zentraler: Die Software hat Zugriffe auf die Vermietungsdaten seiner Kunden. Und kann durch diesen “God Mode” etwas tun, was man zwischen Vermietern als (unerlaubte) Preisabsprachen bezeichnen würde.
Eine ehemalige Mitarbeiterin der US-Handelsbehörde FTC sagte bereits 2017 dazu: Man ersetze einfach das Wort "Algorithmus” durch “A Guy Named Bob”, also ein Typ namens Bob.
“Is it OK for a guy named Bob to collect confidential price strategy information from all the participants in a market and then tell everybody how they should price?” she said. “If it isn’t OK for a guy named Bob to do it, then it probably isn’t OK for an algorithm to do it either.”
Das sind tatsächlich zwei entscheidende Fragen, die mit dem zunehmenden Einsatz von Machine Learning noch an wettbewerbsrechtliche Brisanz zunehmen werden: Gibt es Alternativmodelle, auf die Nutzer zurückgreifen können? Und: Wie löst das Wettbewerbsrecht die Aggregation von Daten, die nicht nur im Plattform-Kontext stattfindet?
Die Causa Schönbohm (Redux)
Ich habe drüben beim Deutschlandfunk die Freistellung des BSI-Chefs Arne Schönbohm kommentiert. Das Bundesinnenministerium gibt eine ganz, ganz schlechte Figur ab. Und kann sich schon einmal auf Informationsfreiheitsanfragen zur Causa einstellen, denn die aufgetischte Begründungssuppe ist so dünn, dass sie nicht einmal eingefleischten Ampel-Koalitionären schmecken sollte.
Ich nehme trotz aller Verwerfungen an, dass Schönbohm bald Georg Thiel beim Statistischen Bundesamt ablösen wird (und sich jetzt jemand anderes, dem der Posten womöglich schon versprochen war, ärgern könnte).
Thiel ist 65 und geht entsprechend bald in Pension. Und gilt als derart unsäglicher Chef (Vorwürfe: “Klima der Angst”, Mobbing), dass die Belegschaft vergangenes Jahr sogar massenhaft Postkarten an den damaligen Innenminister Horst Seehofer schickte, um für seine Ablösung zu werben.
Bis nächste Woche!
Johannes