Liebe Internet-Beobachtende,
eigentlich hatte ich Sorge, dass im Sommer wenig passiert und ich mir die Themen aus den Fingern saugen muss. Von wegen: Ich finde gar nicht Platz für das alles, was passiert. In diesem Sinne: Hier mal wieder ein Essay.
Thema der Woche: Social Media vor dem Vibe Shift?
“A Vibe Shift is Coming“, prophezeite Allison P. Davis im Spätwinter im New York Magazine: Der (pop-)kulturelle Zeitgeist ändert sich. Wie, das erschien nach der Lektüre des Stücks vage genug, um den “Vibe Shift” zum geflügelten Wort zu machen. Zitiert, kopiert, persifliert.
Nun also steht Social Media vor einem “Vibe Shift”. Zumindest ist das der Eindruck, den die Analysen einiger amerikanischer Fachgelehrten erwecken. Anlass ist der intensivierte Schwenk der Meta-Plattformen Facebook und Instagram in Richtung eines algorithmisierten Dauer-Feeds und Vollbild-Videos, die den TikTok-Stream der totalen Unterhaltung imitieren - statt wie bisher vorwiegend Content von Freunden, Gefolgten und Bekannten zu priorisieren. Discovery Engine statt News Feed @ Social Graph, sozusagen.
Scott Rosenberg von Axios zum Beispiel sieht den “Sonnenuntergang des Sozialen Netzwerk[zeitalter]s” anbrechen. Was bleibt: Discovery Engines, also der personalisierte aber unpersönliche Unterhaltungsstream auf der einen Seite, Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Telegram auf der anderen. Klassisches Social Media? Irrelevant.
Tyler Cohen wiederum sieht zumindest eine große Wahrscheinlichkeit, dass Social Media seinen Zenit überschritten hat. Und auch er nennt Video und private Kommunikation als das, was die Evolution übrig lassen wird. Das, und Gerüchte, die mittels privater Messenger-Kanäle ohne öffentliche Nachvollziehbarkeit um die Welt gehen.
Ich bin bei solchen Prognosen zunächst einmal skeptisch. Der Wunsch nach Paradigmenwechseln in den Digitaltechnologien war schon immer groß. Bei Meta kommt meinem Eindruck nach noch einmal dazu, dass sich fast alle wünschen, dass die Firma bedeutungslos wird und etwas weniger Aggressivem Platz macht.
So nachvollziehbar das ist: Ich glaube, dass wir erst einmal definieren müssen, wer für Meta die Kunden sind. Das sind aus meiner Sicht in erster Linie Werbekunden und in zweiter Linie Creator/Influencer. Also diejenigen, die mit Instagram oder Facebook entweder Produkte verkaufen oder Geld verdienen. Der Rest ist: Ein Publikum aus Testpersonen für Verhaltensforschung. Entsprechend orientiert sich der Konzern bei seinen Entscheidungen an vielem, aber nicht an den “Nutzern” im herkömmlichen Sinne.
Und wenn wir uns diese beiden Kundenstämme angucken, sieht es für Meta gar nicht so schlecht aus. Ben Thompson verweist darauf, dass Reels a) wächst und b) noch nicht völlig in die Werbeanzeigen-Maschinerie integriert ist, weil Werbekunden sich mit Kurzvideos noch nicht richtig wohl fühlen.
Ganz nebenbei scheint es so zu sein, dass auch die Werbeplätze vor Reels - anders als die Plätze im Bilderfeed - bei weitem noch nicht ausgereizt werden. Und am Ende geht es mir als Marketer nicht darum, was gerade hip ist, sondern wo ich am besten meine Ziele erreiche. Und da hat Meta de facto (noch) Vorteile gegenüber TikTok - zum Beispiel im Targeting, aber auch in der Bedienbarkeit.
Ähnlich sieht es bei den Influencern aus. Apples Anti-Tracking-Politik wird dazu führen, dass in den nächsten Jahren einiges an Budgets weg von den kleineren Anzeigenetzwerken geht, teilweise hin zu Influencern. Diese Prognose deutet das an:
Auch hier: Die professionellen Influencer gehen nicht einfach zu TikTok, sondern Instagram bleibt vorläufig das monetarisierbare Maß aller Dinge (de facto muss man ohnehin alle Plattformen bespielen, in der man Reichweite hat). Auch Influencer gucken vor allem darauf, wo sie Geld verdienen können. Und da ist TikTok in Sachen Reichweite noch volatiler als Instagram (siehe Ausgabe letzte Woche). Von weiteren TikTok-Länder-Sperren aus geopolitischen Gründen ganz zu schweigen.
Das alles kann sich ändern, sicher. Und: Nichts davon spricht erst einmal gegen die These, dass die Pole aus Entertainment-Stream und Messaging die neuen Paradigmen stellen. Phänomene wie streamende Influencer in China, die live Produkte verkaufen, gehen ja in diese Richtung.
Allerdings tendieren wir seit der MySpace-Verdrängung dazu, Paradigmenwechsel mit vollständiger Ablösung einer bestimmten Form gleichzusetzen. Dabei zeigen die völlig überfrachteten User Interfaces der gegenwärtigen Social-Media-Apps, dass man irgendwie weiter alles sein möchte. Ryan Broderick fragt in diesem Zusammenhang durchaus mit Recht, warum Meta keine eigene App veröffentlicht, was IMO natürlich damit zu tun hat, dass die Nutzerbasis die Migration nicht zwangsläufig mitmachen würde (siehe auch Twitter und Periscope oder die Instagram-Apps Boomerang und Hyperlapse).
In der letzten Woche schrieb ich zu den regelmäßigen Veränderungen:
“Die ständige Anpassung an die Software-Mechanismen führt inzwischen dazu, dass “Creator” und Influencer alle paar Monate Ausweich-Strategien für die Bindung von Fans oder Zuschauern entwickeln müssen. In der “Creator Economy” gewinnen am Ende weiterhin vor allem: die Plattformen.”
Das ist aber nur bedingt richtig: Auch die Social-Media-Plattformen sind ständig gezwungen, sich den veränderten Gewohnheiten und Moden in der Nutzerschaft anzupassen. Nur eben nicht unbedingt denen ihrer eigenen Nutzerschaft.
Linktipps
“Tech firms have been able to tell a compelling story that profits today are immaterial compared with the potential future profits that come from 'disrupting' and dominating an emerging market. But Netflix is barely a tech company. It’s a media company.”
Der DSA ist kein Grundgesetz fürs Internet – gut so
“Dabei ist es vielleicht ganz gut, dass der DSA kein neues Grundgesetz für das Internet geworden ist. Denn an mittelbar auch die Plattformen bindenden Grundrechten fehlt es nicht – DSA hin oder her. Was fehlt, sind anwendbare klare Regelungen.”
“The real long-term trend (…) is that the historic separation between rent on one side and advertising and marketing on the other is now disappearing - ‘how do you reach your customer?’ becomes one question and one budget.”
1 Tweet
Viele Grüße und bis nächste Woche!
Johannes