I/O 290426 (kurze Notizen aus dem Internet-Observatorium)
Twitter: Tot und lebendig / Obamas blinder Fleck / Gatekeeper vs. Ökosystem
I/O (Schnappschüsse) ist der Versuch, hier kurze Gedanken zu aktuellen oder semi-aktuellen Entwicklungen zu posten. Geplant jeweils zweimal wöchentlich. Danke für das positive Feedback!
Twitter, tot und lebendig
In meinem Deutschlandfunk-Kommentar diese Woche habe ich Twitter als “wichtigste Diskursarena unserer Zeit” bezeichnet. Vergangene Woche dagegen habe ich in meinem Blog von einem “Absterbeprozess” geschrieben, in dem sich Twitter befindet.
Das klingt erst einmal widersprüchlich. Und ist doch logisch, finde ich: Weil eben “Eliten” (auch wenn der Begriff es nicht genau trifft) Twitter nutzen. Die Software hat Relevanz, weil dort Politik, Politikanalyse, Medienmenschen, Prominenz und akademische Fachwissende und Augenzeugen des unmittelbaren Weltgeschehens unterwegs sind. Und weil das, was dort passiert, auf andere Medien überspringt (wann war das letzte Mal ein Instagram-Posting abseits der Promiflashs in den Nachrichten?).
Das ist schon einiges, aber eben bereits alles. Wo sind die jungen oder alten “Normalnutzer”, die jede Plattform groß machen? Wie viel Prozent der Nutzerschaft geben bei Twitter etwas Privates preis, was nicht der Pointe dient? Oder einfach: Welcher aktive Twitter-Nutzer sagt “hier finde ich es super”? Wer hat den Eindruck, Twitter in dieser Form noch in 4,5,6,7 Jahren zu benutzen?
Twitter erscheint also vital, die Arena ist voll und laut. Und doch naht ultimativ das Ende, ob in fünf, zehn oder 15 Jahren. Ob Elon Musk das ändern kann? Ich bin langsam fast bei Max Read und dessen Feststellung: Eigentlich will Musk gar kein wirklich anderes Twitter.
“The average person's experience with Twitter is, like, being ignored by celebrities they reply to and trying to figure out what the fuck "Loona" is. Elon Musk's experience with Twitter is that he tweets, and then, whatever he said, whatever the context, he becomes richer. Why would he do anything to change that?”
Das ist natürlich nur semi-ernst gemeint. Vielleicht hilft der Blick von einer anderen Perspektive, nämlich mittels Ivan Illich (via L.M. Sacasas) und seinem Fazit zu Werkzeugen. Fragen wir also: In welchem Sinne kann Musk überhaupt “Eigentümer” eines Werkzeugs wie Twitter sein? Illich in seinem Buch “Selbstbegrenzung” von 1973:
“The issue at hand is not the juridical ownership of tools, but rather the discovery of the characteristic of some tools which make it impossible for anybody to “own” them. The concept of ownership cannot be applied to a tool that cannot be controlled.
The issue at hand, therefore, is what tools can be controlled in the public interest. Only secondarily does the question arise whether private control of a potentially useful tool is in the public interest.
Certain tools are destructive no matter who owns them, whether it be the Mafia, stockholders, a foreign company, the state, or even a workers’ commune.”
Ich gebe zu: Das ist eine ziemlich statische Sichtweise. Aber sie bedeutet nicht, dass nichts passieren wird. Denn das Musk die Linken/Progressiven hasst, macht er in echter Trollmanier drüben gerade fast stündlich deutlich.
Twitter: Die anstehende Entlassungswelle
Alleine schon für das Refinanzierung der Musk’schen Kredite muss Twitter deutlich profitabler werden. Ben Thompson hat ausgerechnet, dass er für die Erwirtschaftung der jährlich 564 Millionen Euro Kreditkosten (ich hatte am Dienstag noch von einer Milliarde geschrieben) etwa ein Fünftel der 7500 Beschäftigten entlassen müsste. Es sei denn, Twitter wird wie durch ein Wunder profitabel (ein Abo-Modell würde das nicht erreichen).
Ben weist aber auch auf einen zweiten Kostenfaktor hin: Nämlich Aktienoptionen, die durch die Übernahme als Geldprämie ausbezahlt werden würden. Weil aber die Aktienoptionen erst im Laufe der Zeit fällig werden, spart man sich das Geld wenn man: Leute vor den Stichtagen entlässt.
Vielleicht feuert Musk die Leute aber auch einfach nur, weil er sie demütigen möchte.
Obamas blinder Fleck
Ich bin erst gestern Abend dazu gekommen, mir Obamas Stanford-Rede zu Desinformation anzugucken. Wie üblich rhetorisch schön, ein bisschen Ursachen-Komplexität wagend, wie immer an die “better angels of our nature” appellierend.
Was allerdings auffällt: Selbstkritik übt zwar Obama daran, im Vorfeld der US-Wahl 2016 Desinformation und die Bereitschaft zu ihrer Aufnahme unterschätzt zu haben. Dass er die Tech-Großkonzern jahrelang nur als Wachstumsfaktor, ja sogar als amerikanische Wertevermittler im globalen Kontext betrachtet hat, er an ihrem Machtzuwachs beteiligt war (und nebenbei eine Menge Leute ins Weiße Haus geholt hat) - dazu kein Wort. Und so passt es, wenn er sagt (Fettung von mir):
A regulatory structure, a smart one, needs to be in place, designed in consultation with tech companies, and experts and communities that are affected, including communities of color and others that sometimes are not well represented here in Silicon Valley, that will allow these companies to operate effectively while also slowing the spread of harmful content. In some cases, industry standards may replace or substitute for regulation, but regulation has to be part of the answer.
Regulierung, in Absprache mit den Digitalfirmen natürlich. Denn, und das ist offenbar Obamas blinder Fleck: Für ihn scheinen Digitalfirmen weiterhin prädestiniert zu zu sein, die für Probleme der Menschheit eine Lösung finden. Selbst wenn sie die Probleme selbst geschaffen haben.
Gatekeeper- vs. Ökosystem-Ansatz
Bei dieser Bundestagsanhörung zum Digital Markets Act argumentierte Achim Wambach, der ehemalige Vorsitzende der Monopolkommission, dass es einen durchaus wichtigen Unterschied zwischen dem neuen deutschen Digitalkartellrecht (GWB-Novelle) und dem europäischen Digital Markets Act gibt: Letzterer bezieht sich auf Gatekeeper/Plattformen, also Unternehmen und Dienste; die GWB-Novelle nimmt Ökosysteme in den Blick.
Das klingt erstmal nicht besonders unterschiedlich: Denn das Bundeskartellamt weist ja de facto im Prozess dann auch Gatekeeper aus, die unter besonderer Beobachtung stehen. Aber der Blick auf Ökosysteme ist natürlich ein anderer als der auf Unternehmen: Konkret könnte er vielleicht ein kurzfristigeres Eingreifen bei der Regulierung neuer Digitalmärkte (z.B. Metaverse-Plattformen) etc. erlauben. Zum Beispiel wenn - völlig hypothetisches Beispiel - nicht Meta/Facebook oder Amazon, sondern z.B. Stripe aus irgendeinem Grund virtuelles Shopping ausrollen. Das aber nur als Theorie, vielleicht will Wambach auch nur unauffällig dafür werben, das Bundeskartellamt gegenüber der EU nicht vollständig zu entmachten (mehr zum Thema DMA/DSA demnächst im Monatsessay).
Links
Quartalszahlen: Der Marktwert der meisten Tech-Megakonzerne ist im Jahresvergleich teils deutlich gesunken. Damit einhergehend die Frage: Verlangsamt sich die Aufmerksamkeitsökonomie?