Liebe Internet-Beobachtende,
anbei mal wieder ein etwas längerer Text (nicht, dass es den “Kurzausgaben” daran mangeln würde).
Thema der Woche: Das Ende vom Anfang
Vor wenig sollte man sich im Leben - und damit auch in der Digitaltechnologie-Berichterstattung - stärker hüten als vor Narrativen. Allerdings gibt es auch Momente, in denen etwas so deutlich spürbar in der Luft liegt, dass man es (in Worte) packen und einzugrenzen versuchen sollte.
Im Kontext Social Media hatte ich im Sommer diesen Vibe Shift bereits zu beschreiben versucht. Heute würde ich noch einen Schritt weitergehen. Ich denke, wir erleben das Ende vom Anfang der Mega-Digitalisierung.
Mega-Digitalisierung, das ist mehr als nur ein Synonym für das Zeitalter von “Big Tech”. Sondern all das, was in den letzten 20 Jahren begonnen hat. Und natürlich das, was in den nächsten Jahrzehnten und vielleicht Jahrhunderten noch passieren wird.
Sicher, der in den Nullerjahren begonnene Siegeszug der GAFA-Konzerne ist zwar mit Phänomen wie Social Media, Smartphones, E-Commerce oder der grundsätzlichen Schwerpunktverlagerung von Leben, Kultur und Alltagsorganisation in die mobil vernetzte Infosphäre verbunden.
Aber zum Fundament der Zettabyte-Ära gehört noch eine Reihe von anderen Bausteinen, vom Breitband-Ausbau über neue Berufsbilder bis hin zu Micropayments und Super-Apps in Regionen außerhalb des Westens. Und ja: Speziell in den USA auch die Infrastruktur, die im Zuge der Dotcom-Blase aufgebaut worden war und in den Nullerjahren den Schub ermöglichte.
Was also deutet auf dieses Ende vom Anfang, von dem ich rede? Drei Entwicklungen der letzten Wochen und Monate:
Der offensichtliche Niedergang von Twitter und Facebook, den Social-Media-Plattformen der ersten Generation.
Der massive Stellenabbau bei allen großen und kleinen westlichen Digitalfirmen auf der einen Seite; die durch steigende Zinsen entstehenden Investment-Löcher bei Start-ups auf der anderen.
Die Insolvenz von FTX und die dadurch zu erwartende Lawine von Misstrauen rund um den Krypto-Handel, auf Nutzer- wie auf Investorenseite.
Genügt das, um einen Epochenwechsel zu diagnostizieren? Zoomen wir etwas heraus, werden einige geopolitische Hintergründe deutlich sichtbar:
Die deutlich zutage tretenden Spannungen und Abreiß-Bewegungen in den Handelsbeziehungen zwischen China und dem Westen. Die digitalen Sphären existieren ohnehin bereits weitestgehend getrennt, nun entwickelt sich aus dem Chip-Konflikt die Grundsatzfrage, wo sich die nächsten digitaltechnologischen Paradigmen manifestieren: In den USA oder in China. Diese Frage ist fast ausschließlich eine politische - was die sich verändernden Machtverhältnisse zwischen Digitalökonomie und Politik deutlich macht.
Die Zinswende - und damit einhergehend das Ende des billigen Geldes zum Hebeln von Investments, aber auch eine sinkende Attraktivität von riskanten Krypto-Geschäften.
Grundsätzlich die aktuellen konjunkturellen Aussichten, die Folgen für die Geschäftsaussichten von werbebasierten Modellen, Kundenakquise für Digitalprojekte, R&D-Budgets und Wachstumsmöglichkeiten insgesamt haben.
Die Rückkehr des Leviathan in der Digitalisierung: Die Politik, die sich weltweit unterschiedlich anschickt oder bereits begonnen hat, direkter auf Firmenpolitiken Einfluss zu nehmen und Bereiche wie Datenverarbeitung, Inhalte-Veröffentlichung, Schattenwährungen und Machine-Learning-Anwendungen detailliert zu regulieren. Oder vielleicht grundsätzlicher: Eine deutlich stärkere Verstrickung von Politik und Tech bei deutlich unterschiedlichen Zielen.
Speziell im Bereich Digitalwirtschaft und Digitalisierung kommt hinzu:
Die absehbare (aber noch nicht spürbare, fair enough) Bremsung von Moore’s Law.
Das Ende der Illusion vom digitalen Superwachstum nach Covid.
Die zutage tretenden Probleme, wenn es um die digitale Orchestrierung logistisch aufwändiger oder mit Grundkosten versehenen Fleischwelt-Prozessen geht (siehe Ridesharing, Instant Delivery).
Drängender werdende Fragen zur Durchführbarkeit, Effektivität und letztlich Legalität von hyper-personalisierter Werbung, in Gang gesetzt durch Apples Tracking-Politik (ATT).
Das Problem von Datengenerierung und -konsolidierung “at scale”, also im großen Stil, bei Prozessen aus der vordigitalen Welt.
Zurück zum Ende der derzeitigen Social-Media-Ära, den Entlassungen in Tech und zum Krypto-Crash. Alle drei Aspekte lenken bestimmte Entwicklungen in andere Bahnen: Das Paradigma bei Social Media wandert offenbar in Richtung des Media-Aspekts, algorithmisiert ausgespielte Video-Unterhaltung statt öffentlicher, textbasierter Thread-Debatten. In diesem eher nischigen Dasein der vernetzten Textkultur könnte jedoch auch eine kleine Chance liegen, den Tribalismus der letzten Jahre hinter uns zu lassen.
Stellenabbau und das Ende des billigen Geldes führen wiederum zu einer Konzentration auf das Kerngeschäft: Bei Start-ups heißt das, Wege zur Profitabilität aufzuzeigen. Im Falle von Alphabet und Facebook bedeutet das dagegen, mit Hilfe von Machine-Learning-Vorhersagen Werbung personalisiert auszuspielen, ohne die dafür notwendigen Informationen zwangsläufig zu besitzen. Bei Apple geht es darum, sich Reshoring-Szenarien zu überlegen. Insgesamt gehen die Budgets für R&D zurück - beziehungsweise werden dafür eingesetzt, die vertikale Integration voranzutreiben (vgl. Chip-Design etc.). Was angesichts diverser Verirrungen in Nebenprojekten der vergangenen Jahre auch nachvollziehbar ist (Hi, Larry Page!).
Und schließlich ist da der FTX-Supergau, für dessen Details ich einmal mehr an Matt Levine verweise. Die Kettenreaktion ist in Gang gesetzt, Krypto-Einlagen dürften von viele Handelsplätzen nach und nach abfließen, weil sie - so die Lehre aus FTX - selbst beim Platzhirschen nicht entsprechend finanziell unterfüttert waren. Das wird zu einer Form von Zusammenbruch und zu stärkerer Regulierung führen - und auch Folgen für den Bereich web3 haben. Welche genau das sein werden, lässt sich noch nicht sagen. Aber klar scheint: Krypto, Decentralized Finance und web3 als neue Paradigmen, die Superstar-Unternehmen und -Plattformen der nächsten Generation hervorbringen - diese stets umstrittene Vision ist nicht mehr glaubwürdig.
Die Ära der Mega-Digitalisierung steht also aus einer Weggabelung, die nicht beschildert ist. Wir reden nicht von einer platzenden Blase, sondern von realistischeren Erwartungen. Die grundsätzlichen Trends sagen unverändert: Die Digitalisierung geht unvermindert weiter, die Unterscheidung von Online und Offline macht zunehmend weniger Sinn und das Smartphone bleibt im Zentrum unseres Lebens.
Mit der begonnen Adaption von AI im Mainstream und einer möglichen Augmented-Reality-Oberfläche für Apple-Geräte zeichnen sich bereits neue Paradigmen ab, die Verhalten und Umfeld der Menschen verändern werden. Und nicht zuletzt: Das Silicon Valley und die Greater Bay Area in Südchina sind nicht mehr die einzigen Schauplätze für Produktentwicklung und Digitalinnovation.
Wie gesagt: Wir erleben nicht den Anfang vom Ende, sondern das Ende vom Anfang.
Was Twitter war
“What Twitter became, as it evolved from a startup into a fixture of the Internet in the 2010s, was nothing less than a machine for the production of new genres of being human.”
Ben Tarnoff ($)
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Bis nächste Woche!
Johannes