I/O vom 9. November 2022
Twitter: Hot Takes und Infrastruktur-Fragen / FTX und der Kryptoplattform-Winter / Tech und die Entlassungen
Hallo in die Runde,
die Meta-Diskussionen auf Twitter rund um Elon Musk nehmen beinahe Züge der Trump-Ära an. Und auch sonst gibt es einige Ähnlichkeiten…
Das aber nur am Rande, beziehungsweise als Intro.
Foto via AEMarling, Reddit
Twitter: Die interessantesten Hot-Takes
Twitter sollte eine Bezahl-Pflicht für Konten mit vielen Followern (z.B. 10.000) einführen. (Ben Thompson, $)
Twitter kann seine Infrastruktur- und Server-Betriebskosten deutlich senken / nicht deutlich senken. (Hackernews-Diskussion)
Twitters Nutzer-Mittelbau ist deutlich stärker geschrumpft, als der erste Eindruck erahnen lässt. (Marcel Weiß)
Werbekunden-Boykotte lösen nicht das Problem übergriffiger Online-Werbung. (Zeynep Tufekci)
Twitter wird in den kommenden Monaten technisch immer unzuverlässiger werden (Ben Krueger, Twitter-Alumni)
Elon Musk kann Maschinen bauen, aber versteht den menschlichen Faktor nicht. (Charlie Warzel, $)
Elon Musk ist zu mächtig, um in seiner Umgebung noch andere Leute als Yes-Men zu haben. (Chris Sacca)
Elon Musk ist kein guter Poster. Heißt: Er kann Popularität und Witz nicht miteinander verbinden. Daran ändert auch nicht, dass er das ganze Forum gekauft hat. (David Thorpe von Something Awful)
@Horse_ebooks kann Twitter retten. (Weird-Twitter-Alumni)
Twitter, Social, Infrastruktur-Fragen
Nostalgiker können bereits das Tweet-Museum besuchen. Zeitgeistig, scheint doch zum ersten Mal ein tatsächliches Verschwinden Twitters möglich. Zumindest ein Verschwinden der globalen Relevanz.
Twitter lässt sich jedoch nicht nachbauen. Das ist nur einer der Gründe, weshalb ich trotz der beachtlichen Migrationsbewegung dorthin Mastodon nicht für die neue Alternative halte (hier natürlich trotzdem ein Link auf mein Platzhalter-Profil). Bedienkomfort, relativ intuitive Verständlichkeit des Systems: Das sind Faktoren, die für den Erfolg von Software relevant sind, speziell bei “sozialer Software”. Mastodon hat nichts von beidem. Aber Mastodon ist natürlich auch keine “Plattform” im klassischen Sozialmedien-Sinn.
Eigentlich absurd: Jetzt wäre genau die Zeit für dezentrale Strukturen. Aber schon ActivityPub (auf dem Mastodon basiert) ist, nach allem was ich lese und höre, kein allzu gutes Protokoll. Selbst die Integration mit Wordpress ist für Laien mit einigem Aufwand verbunden. Es fehlt all diesen dezentralen Bestandteilen an Reife und Zusammenhang. Das liegt auch daran, dass das Fediverse in den vergangenen Jahren weitestgehend eine Sache für Bastler oder Micro-Entrepreneure wie Manton Reece war. Ich war 2018 in Austin mal auf einem Treffen der Microblog-Leute, und bei nur einem Dutzend Anwesender waren eigentlich alle versammelt, die relevante Software oder Plugins dafür gebaut hatten.
Ich weiß nicht, ob die Entwickler der großen Social-Media-Firmen alle besonders viel können und wirklich die Besten sind - aber sie wurden gut dafür bezahlt, die Produkte zu entwickeln und zu pflegen. Und es sind und waren viele Entwickler.
Dezentrale Alternativen wären auf einem Massenmarkt nicht völlig chancenlos - zum Beispiel, wenn ein große E-Mail-Anbieter wie Google Gmail-Konten mit ActivityPub-tauglichen Profilen ergänzen und personalisiert gleich die entsprechenden Themenserver anbieten würde. Aber weder sehe ich da Interesse von Google, noch ein Endprodukt, das nicht auf seine sterile Google-Art grauenvoll wäre.
Und letztlich - ich wiederhole mich - führt auch der Gesamttrend weg von einem “Twitter 2.0” und hin zu algorithmisiertem Video-Entertainment. Zu diesem sich abzeichnenden Abflauen der öffentlichen und semi-öffentlichen Text-Kommunikation würde ein Twitter-Exodus passen. Und trotzdem fühlt sich das für nicht mehr ganz so junge Text-Web-Menschen wie mich komisch an.
Am Ende reden wir aber wahrscheinlich nicht von einem Paradigmen-Wechsel, sondern von einer Longtail-isierung. Kein einzelner Twitter-Nachfolger, sondern eine Auffächerung in ein Facebook-2022-artiges Twitter, in die Discord-Kanäle, Subreddits, Whatsapp- oder Signal-Gruppen. In TikTok- und Instagram-Kommentare. Und für Mega-Eierköpfe, die sich gerne extra Arbeit aufladen, auch Substack-Newsletter wie dieser, nur dialogischer (Trackback-Funktion, aber pronto, bitte). Übrigens ein bisschen traurig, dass ich Blogs in dieser Liste nicht erwähnen kann.
Und vermutlich würde diese Veränderung niemandem außer den Twitter-Kernnutzern überhaupt auffallen.
Der Flaschenhals ist real
Maria Farrell bei Crooked Timber über die Reaktionen der “Twitter-Elite” auf die Übernahme:
“There are now tens of thousands of journalists, policymakers, academics and various other thought-leader types who viscerally get what it is to be trapped inside a monopolistic tech platform, and for it to be costly and painful to leave. (…) A week ago, almost none of Twitter’s elite had ever thought about platform lock-in or federated social spaces or decentralisation. (Or about how the status symbol of the blue tick is also a lifeline and protection for people dealing with real jeopardy.) A bit like Musk himself, they seemed to think being on top – whatever that means – was something inherent to them, not something that could be taken away on a whim. As well as an exercise in humility and a lesson in how elite markers like blue ticks truly function, lots of real-life influential people now understand in their bones why platform concentration and monopoly is a terrible, terrible thing. It makes them subject to the whims of one rich man. (…) Consequences, not just for little people. But more importantly, an experience-based understanding that Internet infrastructure chokepoints are political, and the politics can really hurt.”
FTX und der Kryptoplattform-Winter
Das Krypto-Drama zwischen FTX und Binance ist ziemlich, ziemlich kompliziert. Diese Zusammenfassung und diese etwas spekulativere Interpretation sind ein guter Einstieg.
Der Versuch, es hier zu erklären (ich bin kein Krypto-Experte): FTX, eine der wichtigsten Krypto-Handelsplattformen, hat womöglich Nutzer-Einlagen zur Stützung seines zugehörigen Krypto-Hedgefonds Alameda Research zweckentfremdet. Das wurde bekannt und ging mit Gerüchten über FTX-Liquiditätsprobleme einher. Liquiditätsprobleme hätten bedeutet, dass die Einlagen der Nutzer wertlos geworden wären, weil kein FTX kein Kapital mehr zur Deckung zum Umtausch in Fiatgeld gehabt hat.
Ein Krypto-Bank-Ansturm begann, den der Konkurrent Binance befeuerte, indem er seinerseits alle Positionen bei FTX liquidierte. Ob Binance von dem FTX-Alameda-Deal wusste und absichtlich den “Knopf drückte”, ist noch nicht klar. FTX versuchte, Investitionen von einer Milliarde Dollar bei Banken und im Silicon Valley einzusammeln, aber vergeblich. Kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehend, musste man einen Vorvertrag für eine Übernahme durch Binance unterschreiben. Inzwischen hat die Rechtsabteilung das Unternehmen verlassen.
Zu diesem ganzen Kram gehört auch noch, dass FTX-Chef Sam Bankman-Fried (einer der größten Geldgeber für die Demokraten im Midterm-Wahlkampf) und Binance-Chef Changpeng Zhao Vorzeigekinder der Krypto-Szene sind. Die jetzt ziemlich an Glaubwürdigkeit verloren hat. Genau wie sich in Deutschland kuriose Szene-Gestalten wie Kyle Hoss, ein bekannter deutscher Krypto-Youtuber (zuvor als etwas weniger bekannter Antwortvideo-Youtuber “Pharao” unterwegs), jetzt für ihren FTX-Hype rechtfertigen müssen.
Das alles klingt skurril, ist aber Teil des überdimensionierten Pyramidensystems, an dem Krypto-Plattformen inzwischen drehen. Hier hier schön bei Dirty Bubble Media illustriert:
Aber dieses Rad kann, ja darf sich nach der FTX-Geschichte nicht mehr weiter drehen. Der Krypto-Winter hatte angesichts diverser Pleiten, Coin-Diebstahl und Betrügereien schon begonnen. Eigentlich müsste jetzt die Eiszeit einsetzen. Denn das Vertrauen ist zerstört. Gegen die Tokens der Krypto-Szene wirkt Bitcoin fast schon wie ein seriöses Investment.
Tech und die Entlassungen
Meta entlässt 11.000 Mitarbeitende. Eine hohe Zahl, die allerdings auch in den Zusammenhang mit dieser Personalentwicklung gesehen werden muss: Seit 2018 hatte die Firma ihr Personal von 35.000 auf mehr als 71.000 verdoppelt.
Ob es wirklich so war, dass die Tech-Konzerne sich einen regelrechten Wettbewerb in Sachen Mitarbeiterwachstum geliefert haben - das wird gemunkelt, aber mir fehlt die Fantasie, an einen solchen Wahnsinn zu glauben.
Werbefinanzierte Tech-Firmen stehen angesichts der anstehenden Rezession unter Druck und erhöhter Aufmerksamkeit. Das bekommen vor allem die Kleinen zu spüren. Der echte Krisen-Indikator für die “Großen” ist für mich nicht Meta, sondern Alphabet. Denn Google schwebte bislang in der Personalentwicklung immer ein Stück über den Konjunkturen.
Bis nächste Woche,
Johannes