Aus dem Internet-Observatorium #141
USA: Stablecoin-Gesetz und das Finanzsystem / Autoritäre DPIs
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Es wird etwas sommerlicher, auch in der Themendichte. Okay, im Tech-Bereich. Nicht, was das politische Weltgeschehen betrifft natürlich…
Genius-Act: Stablecoin-Gesetz und das Finanzsystem
Mit einer deutlichen Mehrheit von 68 zu 30 Stimmen hat der US-Senat so genannte “GENIUS Act”, das Stablecoin-Gesetz, verabschiedet. Damit steht die ohnehin poröse Brandmauer des amerikanischen Finanzsystems zu Krypto-Währungen kurz vor dem Fall (vgl. Ausgaben #121 und #139).
Das Fundament des Krypto-Schwenks ist, wie so einiges in der US-amerikanischen Politik, weniger ideologischer, sondern finanzieller Natur. Krypto hat 2024 wie keine andere Branche Wahlkampf-Millionen lockergemacht; Trumps Familie selbst ist mit World Liberty Financial Teil des Krypto-Geschäfts (siehe Ausgabe #137), die Trump-Token (“USD1") sind derzeit zwei Milliarden Euro wert.
Krypto-Fundamentalisten hätten sich sicherlich mehr als eine rechtliche Infastruktur für Stablecoins gewünscht. Denn eigentlich waren dezentrale digitale Währungen ja dazu gedacht, das klassische Zentralbankgeld zu ersetzen. Stablecoins aber ersetzen den US-Dollar nicht, sondern sind an ihn gekoppelt: Stablecoins und US-Dollar sind in der Regel in einem Umtauschkurs von 1:1 miteinander verbunden und das aus gegebene Stablecoin-Volumen eines Anbieters muss auch mit US-Dollar hinterlegt sein. Der Vorteil: Damit sind Kursschwankungen, wie wir sie von klassischen Kryptowährungen kennen, in der Theorie ausgeschlossen.
Der ehemalige griechische Finanzminister und Finanzwirtschaftskritiker Yanis Varoufakis kann sich dennoch einen gewissen Spott nicht verkneifen, wenn er schreibt (übersetzt):
“Stablecoins sind das uneheliche Kind von Eltern, die scheinbar ständig im Streit miteinander liegen: die libertäre Krypto-Community und die staatsgläubigen Dollar-Anbeter. Stablecoins basieren auf der Blockchain-Technologie, mit der die Finanzoligarchie (Wall Street und Fed) zerschlagen werden sollte, sind jedoch durch einen 1:1-Wechselkurs an das größte Totem derselben Oligarchie gebunden: den US-Dollar. Das Ergebnis ist ein vermeintlich unpolitisches Geld, das mit der politisch dominierenden Geldform verbunden ist.”
Die Tokenisierung ist für Stablecoin-Anbieter ein gutes Geschäft: Stablecoin-Guthaben werden nicht verzinst, die eingetauschten Dollar aber kann ein Token-Anbieter verzinsen lassen, indem er sie zum Beispiel in US-Staatsanleihen investiert (oder schlicht auf dem Bankkonto lässt).
Neben diversen Startups arbeiten auch Zahlungsanbieter wie Visa, Stripe und PayPal an Token-Infrastrukturen. Kein Wunder, denn ihre Position als Zahlungsdienstleister ist durch Stablecoins in Gefahr - Firmen wie Walmart und Amazon überlegen, eigene Token auszugeben, um zum Beispiel Transaktionsgebühren zu sparen. Oder eben die Zinsen für die eingetauschten US-Dollar mitzunehmen und Kunden ans eigene Ökosystem zu binden.
Auch andere Vertreter von “Big Tech” liebäugeln mit eigenen Währungen. De facto wird also nicht nur ein System neuer dollargebundener Tauschmittel/Digitalwährungen geschaffen, sondern auch eine Vielzahl an “Neubanken” (weshalb auch immer wieder darüber diskutiert wird, ob Stablecoin-Ausgeber im Kern Banken sind).
Wie oben beschrieben, muss ein Stablecoin-Anbieter immer liquide genug sein, theoretisch alle Rücktausch-Geschäfte bedienen zu können - also letztlich Dollar-Guthaben oder andere als sicher definierte Anlagevermögen wie kurzfristige Dollar-Staatsanleihen in Höhe der ausgegebenen Stablecoins halten.
Allerdings ist das der Umtausch “1:1” kein Naturgesetz: Im März 2023 geriet der Stablecoin USDC von Circle während der Krise um die Silicon Valley Bank unter Druck. Der Grund: Ein Teil der Dollar-Reserven lagen bei der insolventen Bank, woraufhin der USDC-Kurs kurzzeitig auf unter 90 Cent fiel. Circle sicherte zwar zu, jeden USDC weiterhin zum vollen Wert von einem Dollar einzulösen, aber es waren die US-Behörden, die mit ihrer Einlagen-Garantie die Lage beruhigten.
Noch sind Stablecoins kein großer Faktor, das ausgegebene Volumen liegt ungefähr bei 250 Milliarden US-Dollar: In den kommenden kommenden Jahren könnte es allerdings auf bis zu zwei Billionen Dollar anwachsen. Der GENIUS Act soll Stablecoins zu legitimen Zahlungsmitteln machen und sie damit aus der bisherigen Rolle als Spekulations- und Transaktionsinstrument für dubiose Geschäfte auf den volatilen Krypto-Märkten herauslösen.
Eine Verknüpfung mit dem “echten” Finanzsystem birgt allerdings verschiedene Risiken. Wenn Stablecoin-Besitzer den Verdacht haben, dass ihre Einlagen unsicher sind, könnte ein Stablecoin-Run losbrechen. Die Stablecoin-Anbieter müssten dann ihre Einlagen bei den Banken, in denen sie ihre US-Dollar geparkt haben, abziehen - was wiederum gerade die Banken in Liquiditätsschwierigkeiten bringen könnte.
Das Horrorszenario hier: Eine rasche Liquidation einer großen Menge US-Staatsanleihen durch einen Stablecoin könnte direkte Auswirkung andere Stablecoin-Emittenten und Geldmarktfonds haben. Eine Kettenreaktion, die zu einer Finanzkrise führen würde.
Die Ansteckungsgefahr ist mit der neuen Stablecoin-Dollar-Verbindung zweiseitig: Sorge um die Stabilität von Stablecoins könnten die Besitzer dazu bringen, sie umzutauschen, woraufhin die Stablecoin-Anbieter ihrerseits massiv Bankeinlagen abziehen müssen. Umgekehrt können Sorgen darüber, dass die Bankeinlagen selbst nicht sicher sind, Stablecoins ins Wanken bringen (siehe: Silicon Valley Bank).
Ein Kernproblem dabei ist auch die Struktur der Regulierung: Der GENIUS Act sieht vor, dass Firmen mit ausgegeben Stablecoins im Wert von weniger als zehn Milliarden US-Dollar von ihren jeweiligen Bundesstaaten reguliert werden.
Die Qualität der Aufsicht in den einzelnen Staaten dürfte aber sehr unterschiedlich sein. Fraglich, dass alle 50 US-Staaten gewährleisten können, dass die Stablecoins in ihrem Staat auch wirklich 1:1 mit US-Dollar hinterlegt sind. Und die Versuchung, mehr Coins auszugeben als vorhandene Dollarreserven verfügbar sind, ist krypto-erfahrungsgemäß groß. Trotz bestimmter Compliance- und Reporting-Vorgaben.
Stablecoins sind explizit keine Einlagen, sondern eine neue - im Gesetz nicht genau benannte - Form von Anlage. Entsprechend fallen sie auch nicht unter die Einlagensicherung. Und doch sind sie laut Gesetzentwurf damit verknüpft: Wenn eine Bank, die die Rücklagen eines Stablecoin-Emittenten aufbewahrt, in die Insolvenz geht, erhalten die Forderungen der Stablecoin-Anleger Vorzug vor den Forderungen der regulären Bankkunden, die ihre Einlagen zurückbekommen wollen. In der Praxis bedeutet das: Die Einlagen regulärer amerikanischer Bankkunden fungieren quasi als Versicherung für die Stablecoin-Einlagen.
Interessant wird es, wenn man noch bedenkt, dass Stablecoins zwar dollargebunden sind, aber international funktionieren. Zum Beispiel hat jüngst die französische Bank Societe Generale angekündigt, einen Stablecoin auf den Markt zu bringen. Entsprechend ist auch das Risiko einiger oben skizzierten Szenarien nicht auf die USA beschränkt; vielmehr könnte der größere Zusammenbruch eines großen außeramerikanischen Stablecoins dazu führen, dass ein Bailout nötig wird, hierfür aber der entsprechenden Zentralbank der Zugang zum Dollar fehlt (oder man im Falle einer Stablecoin-Finanzkrise wieder davon abhängig ist, dass die Fed wie in der Finanzkrise Swap-Lines einrichtet).
Das Stablecoin-Gesetz birgt also massive Risiken. Auf politischer Ebene ergibt es aber Sinn: Die USA können mit Stablecoins dafür sorgen, dass dem Markt für US-Staatsanleihen (als Sicherheiten) zusätzliches Geld zufließt, die Zinsen für das hochverschuldete Land also langfristig niedrig bleiben. Mehr noch: Durch die Kopplung von Digitalwährungen an den US-Dollar sorgt man dafür, dass die eigene Währung auch in der digital vernetzten Welt eine Hegemonialstellung einnimmt, selbst wenn der Dollar selbst abgewertet wird (was ja Trumps Ziel ist).
Menschen, die in Ländern mit instabilen Währungen leben, können von Stablecoins profitieren: Sie haben nun eine neue Möglichkeit, ihr Geld zu sichern, es von politisch bedingten Währungsschwankungen im eigenen Land abzukoppeln und nicht von der klassischen Infrastruktur des Finanzwesens abhängig zu sein. Das entspricht noch am ehesten den Zielen, die einst mit “Decentralized Finance” (DeFin) verbunden waren.
Denn insgesamt markiert US-Stablecoin-System das vorläufige Ende der dezentralen Krypto-Träume und den Beginn einer staatlich eingefassten Digitalfinanz-Architektur. Freischwebende Krypto-Währungen wie Tether haben in diesem System keinen Platz.
“Compliance statt Code”, so hat Vagisha Srivastava diesen Paradigmenwechsel bezeichnet. In der Praxis heißt das aber auch: Es werden am Ende wahrscheinlich erneut wenige große Player als “Neubanken” auf dem Stablecoin-Markt reüssieren. Und dies mit ausführlichen Datamining der Transaktionen verbinden.
Ist diese Zukunftsperspektive wirklich das ganze Risiko wert, auch im Vergleich zu Alternativen wie digitalen Zentralbankwährungen (deren Einführung in den USA nun verboten wird)? Man ahnt, dass die Antwort “Nein” lautet, aber diese Antwort angesichts der geschäftlichen Interessen von alter und neuer Finanzindustrie keine Rolle spielt.
Autoritäre DPIs
Digital Public Infrastructures sind digitale Identitätssysteme, Zahlungsplattformen und Datenübertragungsprotokolle, die darauf ausgelegt sind, skalierbar, interoperabel und sowohl für staatliche als auch private Akteure zugänglich zu sein. Ich habe sie hier mal im Kontext EuroStack erwähnt (siehe Ausgabe #129). Damals ging es darum, dass EU-Länder theoretisch viel von DPIs in Brasilien und Indien lernen können.
Und siehe da: Mark Scott schreibt in seinem Newsletter, dass DPIs das Hype-Thema der Stunde sind. Aber nicht nur im positiven Sinne (übersetztes Zitat):
“Im Zeitalter der verstärkten “digitalen Souveränität” hat sich die Definition von DPI zu einem Sammelbegriff für jede Form von technologischer Infrastruktur entwickelt, über die Politiker die Kontrolle haben wollen. Meistens hat dies wirtschaftliche Gründe, da die politischen Entscheidungsträger außerhalb der USA versuchen, ihre Abhängigkeit von Unternehmen wie Google, Microsoft und Amazon zu verringern. Aber es hat auch eine eher protektionistische (und in einigen Fällen autoritäre) Tendenz angenommen. (…)
In dieser Weltanschauung ist DPI ein notwendiges Mittel, um 1) die Abhängigkeit von hauptsächlich US-amerikanischen Technologieunternehmen zu verringern, 2) die staatliche Kontrolle über das zu erhöhen, was viele als zentral für die künftigen Wachstumsaussichten der Länder ansehen, und 3) (im schlimmsten Fall) den nationalen Anführern einen immer größeren Überblick darüber zu verschaffen, was die Menschen über die digitale Infrastruktur in öffentlichem Besitz online tun.
(…) Derartige Konzepte müssen außerhalb der verworrenen Bereiche der Organisationen der Vereinten Nationen erst noch bekannt werden. Aber da viele Länder der globalen Mehrheit darauf erpicht sind, ihren eigenen Weg im Bereich der Technologie zu gehen, drängt China viele dieser Nationen dazu, eine Version seiner eigenen autoritären Version von DPI anzunehmen, die im grundlegenden Widerspruch zur Funktionsweise des aktuellen Internets steht.”
Hier zeigt sich einmal mehr die Doppelbödigkeit des Diskurses rund um “digitale Souveränität”. Denn Länder wie China, Russland oder Iran können von sich behaupten, digital weitestgehend souverän zu sein. Zugleich geht mit dieser Souveränität aber auch digitale staatliche Kontrolle und Überwachung einher.
Auch in Europa ist eine Verschiebung dieses Begriffs angelegt, wenn auch noch nicht mehrheitsfähig. Aber je weiter die Idee frei-fließender Daten und eines interoperablen Internets gegenüber den Narrativen nationaler oder kontinentaler Selbstbehauptung in den Hintergrund tritt, desto wahrscheinlich wird es, dass auch wir unsere Vorstellung von “Offenheit” neu formulieren. Genau deshalb lauert hinter dem gegenwärtigen Anti-US-Big-Tech-Diskurs auch die Gefahr einer großen digitalen Regression.
Ein KI-Werbespot
Dieser Werbespot der Online-Wettplattform Kalshi lief während eines NBA-Finals (The Verge hat die Details). Der Clou: Das komplette Video ist KI-generiert.
Das Ganze ist ein Zeitdokument. Nicht nur als Deepfake-Spot, sondern auch weil Kalshi ebenfalls ein Produkt unserer Zeit ist: Kein reiner Sportwetten-Anbieter, denn diesen Markt haben in den USA DraftKings und FanDuel unter sich aufgeteilt. Sondern auch ein Wettanbieter für politische Ereignisse, technologische Entwicklungen und Alltagsfragen wie das Wetter. Also ein Prediction Market, bei dem munter um echtes Geld gezockt wird. Der Siegeszug der Online-Wetten und wie er unseren Blick auf Sport und die Welt verändert, ist eigentlich einen eigenen Artikel wert. Gamify until we die.
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Johannes