Hallo zu einer neuen Ausgabe! Grüße an alle, die das auf der SXSW oder auf dem Rückweg von dort lesen.
Auf dem Weg zum EuroStack?
Auf Reddit geht eine BuyFromEU-Gruppe durch die Decke, die EU-Kommission überlegt, in bestimmten Bereichen bei der öffentlichen Beschaffung EU-Quoten einzuführen. Kurz: Die Frage, wie man sich strategisch unabhängiger von amerikanischen (und chinesischen) Produkten machen kann, ist von anhaltend hoher Relevanz.
Da passen die EuroStack-Ideen, mit denen ich mich in den vergangenen Tagen beschäftigt habe, gut in den Zeitgeist. Oder zumindest in diese Überleitung. 😎
EuroStack ist eine Wegskizze hin zu einer europäischen digitalen Infrastruktur, die nicht mehr von den USA (und China) abhängig ist. Maßgeblich verfasst hat sie die italienische Ökonomin Francesca Bria (Bertelsmann/Mercaator-Paper vom Februar als pdf hier).
Das Positive nach meiner Lektüre: Das Papier bietet eine kompakte Analyse der Felder, die für eine stärkere digitaltechnologische Eigenständigkeit Europas angegangen werden müssten. 80 Prozent der digitalen Infrastruktur wird importiert, entsprechend muss Europa Schlüsselbereiche wie KI, Quantentechnologien, Cloud-Infrastruktur und Halbleiter stärker in die eigene Hand nehmen. Alleine diese gebündelte Problembeschreibung hat mit Recht eine relativ breite Fachdebatte angestoßen.
Mein Problem mit dem Papier: Die Lösungsvorschläge selbst sind zwar detailliert, aber merklich am Reißbrett gezeichnet. Heißt: Sie tragen der europäischen Realität nur bedingt Rechnung und sind entsprechend nur schwierig operationalisierbar.
Doch um von vorne zu beginnen, hier eine Zusammenfassung mit Hilfe von KI-Reasoning, was der EuroStack überhaupt ist:
“De EuroStack umfasst interoperable, sichere Plattformen für KI, Cloud Computing, eID-Systeme, Datenzugriff und digitale Währungen wie den Digitalen Euro, wobei harmonisierte europäische Lösungen priorisiert werden, um Fragmentierung zu überwinden und mit globalen Tech-Führern zu konkurrieren.
Europäische Kerninvestitionen fließen dabei in energieeffiziente Hochleistungsrechner (EuroHPCs), Basiskomponenten auf Open-Source-Basis, Next-Gen-Chips für KI-Anwendungen und skalierbare digitale Dienste.
Parallel werden souveräne KI-Clouds und föderierte Datenräume gefördert, die ethische Standards wahren, Marktzersplitterung reduzieren und branchenübergreifende Skalierbarkeit ermöglichen.
Europa strebt zudem eine Führungsrolle in Zukunftstechnologien wie Quantencomputing, Edge Computing und Künstlicher Intelligenz an, gestützt auf strategische Investitionen und einen europäischen Technologiefonds, der kritische Unternehmen vor Übernahmen schützt und Innovationslücken schließen soll.
Diese Initiativen zielen darauf ab, eine resiliente digitale Infrastruktur zu etablieren, die Europas Werte wie Datenschutz, Offenheit, Nachhaltigkeit und demokratische Kontrolle widerspiegelt.”
So weit, so gut. Der Weg dahin ist natürlich mit Investitionen verbunden: Ein 100 Milliarden Euro schwerer Sovereign-Tech-Fonds, der durch EU-Anleihen und die Mitgliedstaaten finanziert wird, soll zehn Milliarden Euro jährlich bereitstellen. Insgesamt soll das Ziel sein, 300 Milliarden innerhalb eines Jahrzehnts zu mobilisieren, wobei keine Details genannt werden (ich nehme an, ein Großteil soll aus der Privatwirtschaft kommen). Um den EuroStack Realität werden zu lassen, würden zehn Jahre auch benötigt, heißt es.
Die wichtigsten Akteure für die Umsetzung sind:
Auf der Governance-Ebene gilt die Europäische Zentralbank (EZB) als Vorbild. Ein EuroStack-Lenkungsausschuss, bestehend aus Vertretern der EU-Institutionen, Industrie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, soll die strategische Ausrichtung vorgeben. Ein Chief EuroStack Officer (CEO) übernimmt die operative Leitung. Arbeitsgruppen für die jeweilige Layer im Stack setzen Standards und arbeiten am Scaling.
Auf der operativen Ebene sollen etablierte europäische Firmen aus den jeweiligen Bereichen (sofern vorhanden), Forschungseinrichtungen wie Fraunhofer oder IMEC (Belgien), Startups und KMUs, sowie die Entwickler-Community aus dem Bereich Open-Source die einzelnen Projektteile vorantreiben.
Die Politik setzt den Rahmen, finanziert und organisiert Public-Private-Partnerships für die Entwicklung und sorgt für “kluge öffentliche Vergabe” an Firmen, die EuroStack-Technologien anbieten.
So sieht dann das Mapping aus:
Das alles zu koordinieren und auf mehrere “große Würfe” auszurichten, ist ambitioniert. Aber ist es auch realistisch? Bislang hat die EU mit digitalen Großprojekten eher wenige Erfolge vorzuweisen: Ich habe noch keine Evaluierung des deutlich kleineren Digital Europe Programme (DEP) gesehen, aber die Ausrichtung schien mir (bis auf die Großrechner) immer schon eher ein zielloses “macht mal ein bisschen Digitalität”. Das IPCEI für Subventionen privater Akteure hat zwar Standardisierungsprozesse (z.B. Cloud/Edge) in Gang gesetzt, aber ein wirklicher “Gamechanger” war es im Digitalisierungsbereich noch nicht, zudem ist die Umsetzung sehr komplex. Horizon Europe wiederum beschränkt sich auf Forschung und Pilotprojekte.
Entsprechend verweisen Kritiker darauf, dass der EuroStack am ehesten mit Gaia-X zu vergleichen ist. Ein hoffnungslos überfrachtetes und völlig politisiertes deutsch-französische Cloud-Projekt, das wegen fehlender Fortschritte politisch fallen gelassen wurde und nun als irrelevantes Industriekonsortium sein Dasein fristet.
Einige Learnings aus Gaia-X, zum Beispiel die nun stärker exekutiv angelegte Governance-Struktur, sind wohl in den EuroStack-Entwurf eingeflossen. Und doch frage ich mich, wie diese Vielzahl an Stakeholdern nicht nur motiviert, sondern auch in konstruktive Bahnen gelenkt werden können, in denen nicht erfolgreich verdeckte Eigeninteressen von nationalem Standort, Firma oder Branche verfolgt werden. Und zwar Bahnen, die nicht nur zu MVPs, sondern zu wirklich konkurrenzfähigen Produkten führen.
In diesem Zusammenhang ist auch der Mangel an Fachkräften und Expertise im Anwendungsbereich von Digitaltechnologien als Flaschenhals zu nennen, der einem Erfolg des Projekts entgegensteht (btw, wo ist eigentlich das große Anwerbeprogramm, um Menschen aus den USA angesichts der Trumpisierung des Landes hierher zu locken?).
Kurz: Ich bin nicht so wirklich überzeugt, auch wenn der Fokus auf gemeinsame Standards, Open-Source und verteilte Architekturen der Besonderheit des Standorts Europa nicht nur gerecht wird, sondern auch durchaus eine etwas andere Form des Digitalkapitalismus durchscheinen lassen. Schon das ist eine Bereicherung für die Diskussion (noch deutlicher ausformuliert wird ein “neuer” digitaler Weg von der Open Future Foundation).
Parallel steigt mit jedem Tag der Trump-Regierung der Druck, Lösungen jenseits großer Ideen und langfrister Projekte zu finden, besonders im Cloud-Bereich. Ich erinnere an die aktuelle Debatte über Remote-Abschaltfunktionen cloud-gekoppelten Militärgeräts oder auch das absehbare Ende der rechtssicheren Datenübermittlung im Sinne des transatlantischen Data Privacy Frameworks, sollte das von der Trump-Regierung gestutzte US-Beschwerdegremium Privacy and Civil Liberties Oversight Board (PCLOB) arbeitsunfähig bleiben.
Weitere Texte zum Thema:
Daniel Florian: Time for a “European tech flywheel”?
Luigi Gambardella: EuroStack - a plan disconnected from reality.
Martin Sandbu: The EU needs the courage to imagine a different digital economy. (€)
Vom EuroStack zum Global Stack?
Faszinierend an der EuroStack-Diskussion ist, dass sie auch mit einem Blick geführt wird, der über die 27 Mitgliedsstaaten hinaus geht. So fordern die Autoren dieses Papers die EU dazu auf, die eigenen Architekturen (z.B. die baltische X-Road-Architektur) als Best-Practice-Lösung auch außerhalb Europas zu bewerben. Und gleichzeitig Bemühungen für einen Tech-Stack jenseits chinesischer oder amerikanischer Technologien in die G20 und die UN zu tragen.
Nicht nur dieser Bericht, auch das EuroStack-Papier, betont die Relevanz von digitalen öffentlichen Infrastrukturen (DPIs): Digitale Identitätssysteme, Zahlungsplattformen und Datenübertragungsprotokolle, die darauf ausgelegt sind, skalierbar, interoperabel und sowohl für staatliche als auch private Akteure zugänglich zu sein. Also letztlich ein bürgerzentriertes Betriebssystem für den digitalen Kontakt mit Wirtschaft und Verwaltung sowie die Abwicklung von Geldtransfers.
Länder wie Indien, Brasilien, Estland oder die Ukraine gelten als Vorreiter bei den DPIs. Mit dem 50in5-Prozess gibt es bereits ein internationales Austauschformat, an dem aus Europa Estland teilnimmt. Die Debatten über DPIs als Grundlagen auf dem afrikanischen Kontinent zeigen wiederum, wie zentral der Ausbau solcher Infrastrukturen für den globalen Süden ist.
Auch hier könnte, ja müsste Europa eine Rolle als Teil des “Rest of the world” oder Treiber eines “Global Stack” spielen, bieten doch US-Konzerne wie Amazon oder Google längst “DPI in a box” als privatwirtschaftliche Alternativen mit Lock-In-Effekt an.
Links
Wenig Digitalisierungspolitik im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD.
Hype um chinesischen KI-Agenten bzw. Claude-Wrapper Manus.
Rumänien: Oberstes Gericht schließt (“TikTok-Kandidat”) Georgescu von der Wahlwiederholung aus.
Apple plant UI-Veränderungen auf allen Geräten.
“Dynotamics”: Larry Page mit neuem Startup (LLMs in Produktionsprozessen). ($)
Ex-Deepmind-Forscher wollen autonome Coding-KI entwickeln (entferntes Ziel: Superintelligenz). ($)
Nach der Trump-Entscheidung: Stablecoins werden Mainstream. (€)
Gigabit-Förderung: Nur 91 Millionen von 8,3 Milliarden Euro abgerufen.
Bekommt die Wikipedia endlich bessere Promi-Fotos?
Lob der kleinen Sprachmodelle.
Wie KI-Suche das Netz verändern wird.
Microsofts “Quanten-Durchbruch”: Wissenschaftler haben (weiter) Zweifel.
Probleme mit HP-Firmware-Updates, Teil 152
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes