I/O vom 23. November 2022
FTX und das Krypto-Kartenhaus: Die Ermöglicher / Shitposting und Worldbuilding / Trade & Tech
Hallo in die Runde,
mit Grüßen aus der Haushaltswoche im Bundestag gesendet…
Das Kryptofinanzsystem und FTX: Die Ermöglicher
Nach dem Kollaps von FTX und dem beginnenden Domino-Effekt auf Krypto-Handelsplattformen steht die Frage im Raum: Wie konnte das passieren? Meine Frage diese Woche lautet: Wer gehört zu den Enablern, also den Möglichmachern? Jenseits der üblichen Krypto-Jünger und VCs.
Die Aufsichtsbehörden
Jeff John Roberts fasst es ganz gut zusammen: Die US-Aufsichtsbehörde SEC hat publikumswirksam Kim Kardashian wegen unerlaubter Krypto-Werbung belangt. Und gleichzeitig den einsetzenden Krypto-Kollaps nicht ernst genug genommen. Mehr noch: SEC-Chef Gary Gensler steht im Verdacht, FTX zu große Beinfreiheit gelassen zu haben, als um den Versuch ging, eine regulatorisch-bedingtes Monopolstellung zu gewinnen. Roberts schreibt (Fettungen von mir):
“According to Washington insiders I spoke with, the reason behind Sam Bankman-Fried’s decision this summer to obtain control over BlockFi was to benefit from the troubled crypto lender’s recent settlement with the SEC—basically extending the amnesty BlockFi had received to FTX. Meanwhile, FTX’s recent tie-up with securities exchange IEX (of Flash Boys fame) would also help Bankman-Fried’s empire come under the U.S. regulatory umbrella. All of this would clear FTX to have the U.S. market to itself as the company lobbied for legislation that could have torpedoed competitors like Binance as well as the emerging DeFi sector.”
Die Politik
Sam Bankman-Fried (kurz SBF) war in diesen Zwischenwahlen der größte Mega-Spender der US-Demokraten nach George Soros. Auch als Republikaner erhielt man Geld, sofern man sich für eine softe Krypto-Regulierung durch die Commodity Futures Trading Commission einsetzt. FTX-Co-CEO Ryan Salame war ebenfalls ein Großspender.
Noch in der Woche vor dem FTX-Kollaps schmiss Bankman-Fried eine Party in seinem Washingtoner Townhouse, bei dem sich Funktionäre, Büroleiter und Lobbyisten versuchten, seine Aufmerksamkeit und Gunst zu sichern. In diesem NBC-Stück wird seine Stellung im politischen Betrieb so zusammengefasst:
“SBF visited the White House, attended a congressional retreat, and held countless meetings with lawmakers and top regulators. He got chummy with Bill Clinton after paying the former president to speak at a conference. He spent $12 million getting a referendum on the ballot in California. And he earned praise during Senate testimony from Sen. Cory Booker, D-N.J., for a “much more glorious afro than I once had.”
In just two years since Bankman-Fried's first political donation, his money hired dozens of top-flight lobbyists and political operatives, made major investments in newsrooms like ProPublica and Semafor, and made him the second-biggest Democratic donor of the 2022 midterms, behind only the 92-year-old financier George Soros. He said $1 billion would be a “soft ceiling” for his spending in 2024.”
Eine Handvoll politischer Kandidatinnen und Kandidaten haben angekündigt, die Spenden des mutmaßlichen Krypto-Betrügers weiterzugeben. Aber bei weitem nicht alle. Der Eindruck ist verheerend - Erinnerungen an die Einflussnahme von Charles Keating Ende der 1980er werden wach. Und wir sind hier gerade erst am Anfang der Aufarbeitung.
Die Medien
Damit gemeint ist natürlich die Personalisierung, der Hype des Krypto-Kid-will-Superbanker-werden, wie oben im Fortune-Titel zu sehen. Na gut, Fortune hatte gefühlt noch alle Finanzbetrüger seit Al Capone auf dem Titel.
Aber es geht noch um etwas anderes. Nämlich das, was Jessica Lessin ($) so beschreibt: Die Mainstream-Medien haben Krypto-Handelsplattformen (genau wie das Metaverse) abgetan, statt sich mit dem Ökosystem zu beschäftigen, das vor ihren Augen entsteht. Lessin weiter (Fettungen von mir):
“For the press to do its job, we must learn this lesson and learn it fast: The most disruptive technology doesn’t work by disrupting things we already understand. It builds new systems right under our noses. To serve readers amid this massive period of technological change, we must be open enough to see that—and then skeptical enough to find the flaws before it is too late.”
Um das zu ermöglichen, ist IMO auch dringend journalistische Spezialisierung notwendig. Wer beschäftigt sich denn in Deutschland tiefgründig, kritisch und gleichzeitig unvoreingenommen ausschließlich mit den Themen Krypto und web3? Aber nicht nur dort: Wer hat denn im Bereich Machine Learning/ “Künstliche Intelligenz” ein Fach- und vor allem Praxiswissen, das seriöse Berichterstattung und Wissensvermittlung ermöglicht? Wo sind die deutschen Ryan Brodericks und Taylor Lorenz, die nicht über “Internet-Kultur” berichten, sondern digital-vermittelte Lebenswelten ernst nehmen? Ich zähle da nur wenige Akteure, in einigen Bereichen niemanden. Das ist zu wenig.
Musk und die Roaring Shitpost 20s
Was zum Verständnis von Twitter unter Elon Musk beiträgt: Ein Bewusstsein für die gegenwärtige Shitposting-Kultur. Die letzten Tage haben gezeigt, dass es hier offenbar noch Nachholbedarf gibt.
Die Anekdote, dass Musk den Verantwortlichen für die Sicherheitsbadges feuert und ihn dann zu Hilfe holt, als er nicht mehr in die Twitter-Zentrale kommt: Erfunden, Teil eines Shitpostings, auf das Musk einstieg.
Genau wie die Geschichte Rahul Ligma. Das ist jener Unglücksrabe, der angeblich bei Twitter rausflog, um wenige Tage vor dem Zusammenbruch bei FTX unterzukommen. Und am Ende mit seinem Kumpel Daniel Johnson wieder von Musk eingestellt zu werden. Eine absurde Geschichte, die aus der TV-Serie Silicon Valley stammen könnte. Und ein Prank war. Bei dem Elon Musk ebenfalls mitspielte.
Shitposting und Pranks: Das ist die Online-Kultur und Szene, als dessen Teil sich Musk begreift. Genau deshalb wird das Ganze eine Spur unberechenbarer, Chan-iger, realitätsferner als bislang. Auf Twitter schrieb jemand von den “Roaring Meme & Pank 20s”. Eine durchaus treffende Beschreibung.
Musks Shitposting-Spektakel sollte allerdings nicht von etwas anderem ablenken: Twitter selbst wird als Firma nach der Übergangsphase wahrscheinlich nochmal deutlich intransparenter als zuvor sein.
Worldbuilding
Tumblr lebt - und damit meine ich nicht, dass man ActivityPub-Anschluss auf die Roadmap nimmt. Sondern dass Tumblr nach Monaten wieder anlaufender Aktivität mit Goncharov erstmals wieder ein Meme produziert, das XXL-Nutzerbeteiligung und relevante kulturelle Reichweite erreicht.
Was ist Goncharov? Ein Scorsese-Film von 1973, der nie existiert hat. Knowyourmeme:
Goncharov is a non-existent 1973 movie about a Russia-born Mafia boss named Goncharov directed by Martin Scorsese, which spawned a spontaneous collective writing project and an unreality fandom on Tumblr in November 2022. As a part of the fandom efforts, users collectively outlined the central themes, plot elements and homoerotic undertones of the film and created fan soundtrack, posters and other content for it. Goncharov has also since been referenced in numerous memes and other jokes.
Diese Mischung aus Fandom & Unreality ist auf keiner anderen Social-Media-Plattform möglich.
Ich dachte an das Goncharov-Meme, als ich kurz danach auf Terry Nguyễns zweiteiliges Essay zum Thema Worldbuilding stieß. Worldbuilding, also kollektiv erschaffene oder weiter entwickelte fiktionale Realitäten als Phänomen unserer Zeit.
Nguyễn spannt den Bogen von antiken Erzählungen über Disney und Franchise-Produktionen bis zu Fandoms, MMORPGs und NFTs. Sie schreibt:
“The mechanics of worldbuilding are now relevant to all kinds of content producers — advertisers, start-ups, consumer brands, and even individuals (who are effectively brands) — competing for eyeballs within a congested content landscape.It’s a tactic to keep audiences immersed in the product or the character (which is essentially a product) by way of a broader narrative world. (…) Whether the world is entirely fictional or rooted in realism is beside the point: The consumer’s attention (by way of their participation) is all that matters. Worldbuilding is, in effect, brand-building — an experience constructed for participatory consumption.”
Worldbuilding gibt es in verschiedenen Facetten. Wenn Musk auf Shitpostings eingeht, zieht er das Twitter-Spektakel in eine Unrealität, die erst auf den zweiten Blick erkennbar ist. Im politischen Kontext erleben wir die Umdeutung oder Erfindung von Vergangenheiten, um am Ende irgendwie bei QAnon zu landen (siehe Ausgabe #01). Und dann gibt es Marken im weiteren Sinne und ihre von mir neulich skizzierte Rolle als Angebot für Sinnstiftung und Kollektiv, mittelfristig vielleicht als neue Quasi-Religionen oder Ideologien.
Ich habe noch keine vereinheitlichende Theorie dazu. Womöglich gibt es sie auch nicht. Aber je weiter wir in den 2020ern voranschreiten, desto deutlicher scheint mir, dass wir kollektives digitales Worldbuilding nicht nur im Kontext Roblox, Rollenspiele, Metaverse oder Fanfiction betrachten können. Sondern sie als Kulturtechnik begreifen müssen, die (wenn man Baudrillard'schen Konzepten folgen mag) das bestimmende Element unserer Hyperrealität werden könnte
Trade & Tech: Der aktuelle Stand
Vor dem transatlantischen Treffen des Trade and Tech Councils (TTC) am 5. Dezember listet der unentbehrliche Mark Scott bei Politico sechs Ankündigungen auf, die als Entwurf vorliegen. Vier davon sind digitalrelevant:
Mit zwei Telekom-Finanzierungsprojekten (in Jamaika und Kenia) treten EU und USA erstmals in direkte Konkurrenz mit China, wenn es um die Bereitstellung digitaler Infrastruktur in Entwicklungs- und Schwellenländern geht.
Bei “vertrauenswürdiger Künstlicher Intelligenz” will man auf Basis von OECD-Vorarbeiten gemeinsame Definitionen und Grundsatz-Richtungen festlegen.
Es soll ein gemeinsames Lieferketten-Warnsystem für den Halbleiter-Bereich geben.
EU und USA planen ein gemeinsames Pilotprojekt zur einheitlichen digitalen Zoll-Abfertigung, das dann weltweit Standards setzen könnte.
Besonders Punkt 1 ist natürlich seeeehr interessant. Allerdings muss man alles im Kontext sehen, dass es derzeit in Handelsfragen wieder massive Verstimmungen zwischen Brüssel und Washington gibt (wie ja auch Christian Lindner immer wieder erwähnt). Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob sich im Bereich Digitaltechnologien in nächster Zeit eine wirkliche transatlantische Dynamik entwickeln kann. Ohnehin weiß niemand, wie die Lage in den USA ab Januar 2025 sein wird.
Links
Der nachdenkliche Krypto-Kritiker Stephen Diehl im FT-Porträt (€)
Masayoshi Son schuldet Soft Bank 4,7 Milliarden US-Dollar (€)
Vor dem Internet Governance Forum: Vision und Realität der UN-Digitalpolitik
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Unstable Diffusion, der nächste (crowdgesourcte) Versuch eine AI-Porno-Generators
Evernote existiert noch (und wird an ein Mailändisches Start-up verkauft)
Die Rolle von Sensoren und Algorithmen bei der Fußball-WM
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Happy Thanksgiving an alle Leser und Leserinnen in den USA! Hier eine kleine Vorwarnung:
Vielen Dank fürs Lesen - und bis nächste Woche!
Johannes