Aus dem Internet-Observatorium #78
Substack und die Nazi-Debatte / rabbit r1 und der Hype
Hallo in die Runde! Das neue Jahr ist schon wieder ziemlich nachrichtenreich (mehr dazu in meinem Blog oder meinem anderen Newsletter) - außer im Bereich Digitalisierung und Tech. Deshalb diese Woche zwei eher kleinere Themen.
Substack und die Nazis
Ich gebe zu: Ich habe keine Lust auf dieses Thema. Das Ganze ist nicht nur sehr US-zentriert, sondern in diesem Zuge eben auch Teil des Kulturkampfs, in dem ohne Ende gehebelt und gesponnen wird, um die gewünschte Interpretation zu erreichen.
Wer verpasst hat, was passiert ist, hier eine kurze Zusammenfassung: Ende November schrieb Jonathan Katz im Atlantic einen Artikel, in dem er Substack vorwarf, ein Nazi-Problem zu haben. 16 Newsletter, die er entdeckt habe, hätten Nazi-Symbole gezeigt, Dutzende weitere rechtsextreme Inhalte verbreitet. Substack erlaubt das nicht nur, sondern erlaube den Newslettern vor allem, Geld mit Abos zu verdienen.
247 Autorinnen und Autoren forderten daraufhin in einem offenen Brief Substack dazu auf, sich dieser Kritik zu stellen und die Nazis rauszuwerfen. Eine weitere Gruppe dagegen forderte, dass Substack nicht eingreifen sollte. Woraufhin Substack-Mitgründer Hamish McKenzie sich in einem Blogeintrag äußerte, der wiederum nicht ganz unzutreffend mit “Wir mögen keine Nazis, aber ¯\_(ツ)_/¯” zusammengefasst werden könnte. Das führte dazu, dass einige Autoren und Autorinnen die Plattform verließen, andere das androhten.
Auch Casey Newton stellte in den Raum, seinen sehr erfolgreichen Newsletter Platformer zu einem anderen Dienst zu verlegen. Newton erklärte Anfang Januar, man habe eine Liste mit problematischen Substacks an die Firma geschickt und erwarte, dass Substack Verantwortung übernehme. Das führte dazu, dass Substack einige Tage später erklärte, einen Teil der Accounts gelöscht zu haben, wie Newton berichtete.
Nazis raus, Problem gelöst? Nicht ganz. Und schon sind wir bei den Dingen, die mich an der “Kontroverse” (an die sich in ein paar Wochen niemand mehr erinnern wird) nerven.
Da wäre das Unternehmen Substack: Sowohl hinter der Verteidigung des bisherigen Kurses, als auch hinter der Kursänderung steckt nicht viel mehr als kommerzielles Interesse. Die Seite hat mit “kontroversen” oder “heterodoxen” Figuren wie Bari Weiss oder Matt Taibbi, denen man größere Vorschüsse für den Plattform-Wechsel gezahlt hatte, auf einen Bedarf nach Anti-Mainstream-Medien-Content gesetzt. Jetzt macht man einige Zugeständnisse, weil Promis wie Newton oder Margaret Atwood Kritik üben. Im Umkehrschluss lautet das vermutlich aber auch: Die Prinzipien der Moderation werden von der Größe des Shitstorms abhängen. Nicht gut.
Dann wäre die Frage nach dem Ausmaß des Problems. Bezeichnend dafür ist das, was Newton auslässt: Er und sein Team meldeten nämlich genau sechs Accounts an Substack, von denen die Firma fünf löschte. Gesamt-Abonnentenzahl aller Newsletter zusammen: Ungefähr 100. Die Möglichkeit, mittels Bezahlabos Geld zu verdienen, hatte niemand aktiviert. Die sechste, nicht gelöschte Publikation, hat offenbar 29 Bezahlabos.
Nun ist das wohl kein Überblick: die Autoren des mir - bislang unbekannten - Newsletters Thread Intel gehen von mindestens 75 Konten mit 100.000 Leserinnen und Lesern aus. Um das Ganze in Relation zu setzen: Ich weiß nicht, wie viele Substacks es insgesamt gibt, aber vergangenes Jahr verdienten laut Substack 17.000 Autorinnen und Autoren Geld mit der Plattform.
Vor allem landen wir bei der “Nazi-Frage” bei Definitionsfragen. Richard Spencer (ebenfalls bei Substack)? Würde ich als Neonazi bezeichnen, auch wenn er bei Substack auch Depeche-Mode-Alben rezensiert. Richard Hannania dagegen gehört für mich ins reaktionär-libertäre Lager, soweit ich das vom Querlesen beurteilen kann. Aber unter den Kritikern, die jetzt ein härteres Vorgehen von Substack fordern, sind auch Menschen, die selbst Autoren wie Nate Silver und Matt Yglesias als “reaktionäre Zentristen” bezeichnen.
Und das ist eben der Punkt: Teile des progressiven Amerikas sind unerbittlich nach links gerückt. Und verleihen den Titel “Nazi” nach Geschmack, nicht nach Prinzip. Egal was Substack tut: Es wird ihnen nicht genug sein. Einfachmal durchspielen was hier passieren würde, wenn jemand wie Tucker Carlson auftauchen sollte. Das macht die Schmähkritik (“Seht Ihr, die Progressiven sind die Gesinnungsnazis”) der politischen Rechten nicht richtig, aber natürlich haben wir es mit ideologischer Abschottung zu tun.
Das Ganze verläuft ungefähr wie bei Twitter: In den frühen 2010er-Jahren interessierte es fast niemanden, dass dort amerikanische Rechtsextreme unterwegs waren. Das änderte sich mit Trump und vor allem dem Charlottesville-Aufmarsch 2017. In der Praxis führte das im Stile von Shitstorms durchgeführte Lobbying für Account-Sperren zwar dazu, dass Rechtsextremisten teilweise von Twitter, Facebook verschwanden. Aber die Online-Hegemonie verloren die amerikanischen Progressiven trotzdem.
Seit Musk ist X/Twitter tatsächlich ein besonders krasses Fox News des Social-Media-Zeitalters. Aber es gibt eben einen Unterschied zu hier: Niemand muss dort lang nach solchem Content suchen. Bei Substack dagegen ist das ein absolutes Randphänomen, das Zeug wird nicht algorithmisch verstärkt, ich muss es aktiv suchen. Was Jonathan Katz getan hat, um daraus einen Artikel zu machen. Was womöglich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führt: Denn wenn jetzt die extremen Rechten die Plattform entdecken und die Progressiven abhauen, bekommt Substack wirklich ein Nazi-Problem.
Und das macht mich alles müde. Substack ist ein Saftladen und hat bislang noch nicht mal wirklich funktionierende Flagging-Instrumente entwickelt (das soll sich jetzt ändern). Aber man ist auch einer politischen Dynamik ausgesetzt, die da heißt: Entweder du bist eine Heimat für das Lager A [links + linksprogressiv + Mittelinks] oder eines für das Lager B [Mitterechts - libertär - konservativ - reaktionär - rechtsextrem]. Bislang konnte Substack diesem Schema entgehen, das wird sich nun ändern, befürchte ich.
Finde ich es gut, eine Plattform mit Richard Spencer zu teilen? Nein, aber das war auch schon bei Twitter so. Wenn man Spencer rauswerfen sollte, dann wegen dem, was er schreibt, sofern es gegen die Geschäftsbedingungen (oder Gesetze, darum geht es ja beim DSA in Europa) verstößt. Nicht wegen dem, was er ist.
Publizistisch betrachtet entspricht die Existenz von Spencers und meinem Substack auf einer gemeinsamen Plattform ungefähr einem Zeitungskiosk, an dem man die Wirtschaftswoche genauso kaufen konnte wie die Junge Freiheit oder irgendwelche Landser-Heftchen (auch wenn Substack nicht nur ein Kiosk ist, aber das führt zu weit).
Vielleicht mache ich es mir damit zu einfach. Aber ich halte das vieldiskutierte Substack-Nazi-Problem für ein kleineres Problem als den Trend, einen immer engeren Cordon sanitaire um das eigene Denken zu ziehen. Und die Erfahrung lehrt, dass Versuche, mit großangelegtem Deplatforming ein Extremismus-Problem zu lösen, bislang gescheitert sind. Freddie deBoer hat recht, wenn er schreibt (übersetzt):
“Das Problem sind nie die Äußerungen, die man unterdrücken möchte, sondern die Existenz der Menschen, die sie zum Ausdruck bringen. Und diese Menschen sind letztendlich das Produkt von Bedingungen in der Welt, die man nicht kontrollieren kann. Man kann Hass nicht aus der Welt schaffen, und niemand der Lebenden wird das Ende des Faschismus als Idee erleben. Was wir tun können, ist, die negativen Auswirkungen des Hasses so gut wie möglich abzumildern ... indem wir versuchen, eine überzeugendere und attraktivere Vision zu präsentieren als die Faschisten.
rabbit r1 und der Hype
Es gibt offenbar ein Hype-Thema auf der CES in Las Vegas: Der rabbit r1 der gleichnamigen Firma Rabbit - eine neue (?) Form von KI-Hardware. Übersetztes Zitat Techcrunch:
“Die Idee hinter dem r1 (Preis: 200 US-Dollar) ist einfach: Sie können Ihr Telefon in der Tasche behalten, wenn Sie eine einfache Aufgabe erledigen müssen, z. B. ein Auto zu Ihrem Standort bestellen, ein paar Restaurants suchen, in denen Sie sich mit Freunden treffen, oder welche finden Unterkunftsmöglichkeiten für ein Wochenende an der Küste.”
Die Idee ist, die Bedienung von Apps an den r1 als Assistenzsystem auszulagern - also letztlich eine Oberfläche für den Einsatz von KI-Agenten (siehe u.a. Ausgabe #72), die all die lästigen Smartphone- und App-Bedienoberflächen überflüssig macht. “Large Action Model” (LAM) nennt man das System, das letztlich vor allem im Hintergrund Klicks für mich übernimmt. Das Design stammt von Teenage Engineering und stößt auf viel Zustimmung
Dabei stellen sich Fragen. Funktioniert das Ganze? So wie ich das verstehe, interagiert das System mit Online-Seiten, WebApps und (vor allem) APIs. Heißt im Umkehrschluss: Hat meine iOS-App keine Schnittstelle oder Webseite, kann das System nicht darauf zugreifen, das könnte nur Apple selbst auf Betriebssystem-Ebene veranlassen. Insgesamt sind sehr, sehr viele Fragen offen und in der Präsentation war auch etwas Täuschung dabei. Aber es geht ums Prinzip: Das Wegabstrahieren von Apps mit Hilfe von (teilautonomen) Agenten. Denn der r1 hat hat seinen Bildschirm de facto nur, um Befehle zu bestätigen und Prozesse manuell abzuschließen. Die Befehle selbst sind sprachgesteuert.
Daraus ergibt sich etwas weitere Frage, die sich stellt: Wieso gibt es so etwas nicht als App? Ein Argument ist, weil die Reibungslosigkeit durch Entsperren des Telefons etc. in dieser Form nicht existiert. Was aber auch dafür spricht, dass es in Zukunft ähnliche Produkte von Apple, Samsung und Google geben könnte (oder Apple das in die Watch packt). Wobei es natürlich weiterhin sehr schräg anmutet, eine Maschine für das Bedienen einer Maschine zu verwenden.
Unter dem Strich würde ich das Ganze erstmal unter “nett, aber eher ein Prototyp” einordnen. Aber es zeigt, wie groß das Interesse an einem neuen Benutzungsparadigma, einem “aiPhone-Moment” (siehe Ausgabe #66) ist.
ChatGPT im Auto
VWs Software-Einheit Cariad gilt als Mischung aus Kafkas “Das Schloss” und dem “This is fine”-Meme. Während man in Wolfsburg weiterhin versucht, dem Konzern irgendwie geregelte Software-Entwicklung beizubringen, stürzt man sich in die Pseudo-Digitalität. Anders lässt es sich zumindest nicht erklären, dass man nun serienmäßig ChatGPT ins Cockpit holen möchte. Was soll hier ein sinnvolles Nutzungsszenario sein? Wer berät diese Menschen?
Links
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes