Aus dem Internet-Observatorium #72
Amerikas Tech-Branche, ein bisschen dekonstruiert / Autonome Agenten / Synthetisches Hollywood
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Gleich ein kleiner Programmhinweis: Die nächste Ausgabe erscheint erst in 14 Tagen, weil ich derzeit beruflich und terminlich ziemlich eng getaktet bin.
Und an dieser Stelle noch ein Veranstaltungshinweis, den ich gerne weitergebe: Ich werde zwar nicht dort sein können, aber in den kommenden Tagen findet wieder die Würzburg Web Week statt. Hier geht es zum Programm, wer im Einzugsgebiet lebt, findet dort eine ganze Palette von Veranstaltungen rund um die Digitalisierung.
Amerikas Tech-Branche, ein bisschen dekonstruiert
Ich habe zu diesem Abschnitt noch keine einheitliche Theorie, vermutlich fehlt mit die Zeit zum Nachdenken. Aber zuletzt kamen mir ein paar Texte unter, die für eine bodenständigere Einschätzung der (US-)Techbranche hilfreich sind.
So hat
jüngst in seinem Substack eine interessante Frage gestellt: Wenn man sich den Stellenabbau im Tech-Sektor seit dem vergangenen Jahr ansieht, müsste man angesichts der Größe eigentlich davon ausgehen, dass die Krise auch auf den Rest der US-Wirtschaft überschwappt. Das ist aber nicht passiert. Woran liegt das?Smiths Antwort: Womöglich ist der Tech-Sektor gar nicht so relevant für eine Volkswirtschaft. (übersetztes Zitat)
"Man muss bedenken, dass die meisten makroökonomischen Modelle von sektoralen Rezessionen von Netzwerkeffekten abhängen - wenn eine Branche zusammenbricht, kauft sie weniger Zwischengüter und Dienstleistungen von anderen Branchen, und diese anderen Branchen brechen ebenfalls zusammen. Aber wenn Software ein relativ eigenständiges Produktionsnetzwerk ist, werden diese Verknüpfungen schwächer sein."
Software is eating the world ist aus dieser Perspektive nur semi-korrekt: Ja, alles ist Software. Aber Software ist nicht alles. Beziehungsweise: Sie ist überall, aber doch gewissermaßen isoliert. Um Smith noch einmal zu zitieren:
“Anders ausgedrückt, könnte die Softwarebranche eine Art “Equity-Tranche” für die US-Wirtschaft darstellen – ein Hochrisiko-, Hochbelohnungsphänomen, sozusagen das Sahnehäubchen. Wenn es gut läuft, schafft sie enormen Wert, und wenn es schlecht läuft, bringt sie die restliche Wirtschaft nicht zum Absturz – oder zumindest nicht zu stark. Ich finde, das ist ein Pluspunkt für die Software – je mehr wir uns auf Branchen verlassen, die nicht das tun, was die Finanzwelt im Jahr 2008 getan hat, desto besser. Aber das bedeutet auch, dass Leute aus der Softwarebranche etwas albern aussehen können, wenn sie ihre Schlussfolgerungen aus ihrem eigenen kleinen Bereich der Welt zu weit ziehen."
Allerdings muss man auch konstatieren, dass ein Teil der “Tech-Rezession” vor allem eine Wertkorrektur aufgepumpter Firmen im Kontext steigender Refinanzierungszinsen war.
Dennoch ist das Ganze hilfreich. Genau wie einige Texte aus der aktuellen Silicon-Valley-Serie bei Crooked Timber. So kommt dort Dave Karpf gleich im ersten Satz zum Kern seines Essays:
“Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das wesentlichste Element der Ideologie des Silicon Valley sein kollektiver Glaube an technologische Beschleunigung ist.”
Dem lässt sich natürlich nicht widersprechen, Simon Hurtz hat zum Beispiel jüngst in der SZ (€) aus San Francisco im Kontext Künstliche Intelligenz darüber berichtet. Die Frage ist: Erleben wir eine ständige technologische Beschleunigung, also Moore’s Law am Werk, und zwar gesellschaftlich?
Karp argumentiert: Es kommt auf den Vergleichsmaßstab an. So merkt er an, dass Sam Altman in seinem Text “Moore’s Law for Everything” aus dem Jahr 2021 auf 15 Jahre und die bahnbrechenden Veränderungen in diesem Zeitraum zurückblickt (Smartphones! Apps! Social Media!). Hätte er aber zehn Jahre, also die Zeit zwischen 2011 und 2021, als Maßstab genommen, wäre die Bilanz ernüchternder ausgefallen: Denn rasender technologischer Fortschritt sei in dieser Zeit als Endanwender kaum zu erkennen gewesen.
Karpf vergleicht die vergangenen Jahrzehnte mit anderen Phasen technologischer Entwicklung. Zitat (übersetzt):
“1980-2020 umfassen den Aufstieg des Personalcomputers, des World Wide Web, der Mobiltelefone und der Smartphones. Das sind sicherlich nicht unerhebliche Durchbrüche im Leben der Massenverbraucher. Aber bedeutet das tatsächlich eine Zunahme der Rate technologischer Innovationen? 1940-1980 war das Zeitalter des Fernsehens, der Atombombe und der Antibabypille. 1900-1940 war die Ära des Automobils, des Radios, der frühesten kommerziellen Fluglinien und des Telefons. 1860-1900 umfassten die Massenelektrifizierung und das Ende der Sklaverei. 1820-1860 markieren im Grunde den Beginn der industriellen Revolution. Moores Gesetz scheint nur deshalb besonders zu sein, weil es die Ära ist, durch die wir gerade gelebt haben.”
Mit der Adaption Künstlicher Intelligenz stecken wir natürlich gerade am Beginn einer weiteren, mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit ebenfalls sehr folgenreichen Veränderung auf der Basis von (unter anderem) Moore’s Law. Dennoch wissen wir auch hier am Ende nicht, wie viel anders die Welt zum Beispiel am Ende des Jahrzehnts aussehen wird.
Aber, und hier ist vielleicht die Klammer, die ich oben gesucht habe: Manchmal ist es nicht schlecht, an Digitaltechnologien Maßstäbe anzulegen, die außerhalb ihrer selbst und ihres direkten Wirkkreises liegen.
Autonome Agenten
Vergangene Woche schrieb ich über KI-Plattformen und die Frage, ob OpenAI gerade ein erfolgsversprechendes Ökosystem baut - einen “App Store für KI-Anwendungen”. Inzwischen haben einige Menschen die “GPTs” genannten Mini-Anwendungen ausprobiert. Ethan Mollick ist einer davon und kommt zu dem Schluss: GPTs könnten die frühe Form von “Autonomous Agents” sein, also KI-Anwendungen, die über Systeme hinweg agieren. Zitat (übersetzt und gefettet von mir):
“Es ist einfach, GPTs zu entwerfen, die beispielsweise Ausgabenberichte bearbeiten können. Sie hätten die Erlaubnis, alle Ihre Kreditkartendaten und E-Mails nach wahrscheinlichen Ausgaben zu durchsuchen, einen Bericht im richtigen Format zu erstellen, diesen bei den zuständigen Behörden einzureichen und Ihr Bankkonto zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Zahlung erfolgt. Und man kann sich noch ambitioniertere autonome Agenten vorstellen, denen ein Ziel gegeben wird (verdiene so viel Geld wie möglich für mich) und die dieses auf jede ihnen geeignet erscheinende Weise umsetzen.”
Wenn wir aber solche KIs auf sensible Datenbereiche zugreifen oder wir ihnen die Möglichkeit geben, für uns unabhängig Aufgaben zu erledigen, birgt das ein gewisses Risiko:
“Man kann sowohl kurzfristige als auch langfristigere Risiken dieses Ansatzes erkennen. In naher Zukunft werden KIs mit mehr Systemen verbunden sein, und das kann problematisch sein, da KIs unglaublich naiv sind. (…) Und natürlich: Sobald diese Agenten beginnen, wirklich eigenständig zu handeln, tauchen noch mehr Fragen bezüglich Verantwortung und autonomem Handeln auf. Wir müssen die Entwicklung dieser Agenten genau beobachten, um die Risiken und Vorteile dieser Systeme zu verstehen.”
Vermutlich ist das Konzept von “Agents” für den KI-Bereich sinnvoller als die klassische Vorstellung von “Apps”. Das zeigt auch der der AI-Pin des viel-gehypten Startup Humane. Ich will das jetzt nicht alles zusammenfassen, sondern auf diese (bissige) Rezension bei ArsTechnica verweisen. Und darauf hinweisen, dass in einem sprachgesteuerten, bildschirmlosen System natürlich Apps als Konzept, wie wir es vom Smartphone oder PC kennen, keine Rolle mehr spielen. Auch hier ist die Idee von Agents, die ihrerseits automatisiert im Backend angesteuert werden und Ausgaben ausführen, sehr viel sinnvoller.
Zwei Lesetipps zum besseren Verständnis
Dieser Newsletter beschäftigt sich oft mit Konzepten und Gedankengängen, die eher abstrakter Natur sind. Deshalb möchte ich an dieser Stelle zwei Longreads empfehlen, die ein Digitalisierungsthema jeweils sehr konkret beschreiben.
Da wäre dieser Wired-Text (metered $) über die Vermarkter/Manager, die mögliche TikTok-Influencer aufspüren. Es geht darum, wie Viralität - zum Beispiel die Popularität eines Hobbysongs - mittels eines internen Influencer-Netzwerks erzeugt und dann auf anderen Plattformen (wie Spotify) monetär abgeschöpft wird. Wenn ich sehe, dass in den USA 250.000 US-Dollar für komplette Neulinge gezahlt wird, kann ich mich nur wiederholen: Dass die Berichterstattung über die Branche in Deutschland hierzulande derart brach liegt, stattdessen die Medienseiten voll mit irrelevanten Informationen über die alte Medienwelt sind, ist wirklich tragisch.
Der zweite Text ist aus der Financial Times (kostenlos, wenn man den Link bei Google eingibt) und beschäftigt sich mit der Transparenz von Algorithmen. Konkret: 700 Menschen warten in Großbritannien auf eine Leber-Transplantation. Ein Algorithmus im nationalen Gesundheitssystem sortiert die Vergabe-Reihenfolge nach bestimmten Kriterien. Aber nach welchen? Eine britische Familie hat versucht, das rauszufinden.
Dabei wird deutlich, dass sich an jeder Ecke ethische Fragen ergeben: Ist es zum Beispiel sinnvoll, auf eine Senkung der Sterblichkeit innerhalb von fünf Jahren nach der Transplantation hin zu optimieren? Oder sollte die “gesunde” Lebenszeit einberechnet werden, die junge Menschen während ihrer Wartezeit auf ein Organ verlieren? Und alleine schon die Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Parameter hier herauszufinden, zeigt die Relevanz von algorithmischer Transparenz.
Synthetisches Hollywood
Die Regisseurin Justine Bateman kritisiert die Einigung der Hollywood-Schauspieler mit den Filmstudios. Vor allem die Möglichkeit für Studios, künftige “synthetische Performer” oder “KI-Objekte” einzusetzen, hält sie für ein gefährliches Einfallstor. Im übersetzten Zitat:
“Die Voraussetzungen des Vorsprechens werden sich ändern. Eine Audition zu gewinnen, könnte sehr schwierig werden. Denn Sie konkurrieren nicht nur mit den verfügbaren Schauspielern, die Ihrem Typ entsprechen. Sondern nun mit jedem Schauspieler, ob tot oder lebendig, der sein “digitales Double” zur Miete zur Verfügung gestellt hat, und zwar in verschiedenen Altersstufen passend zum Charakter. Außerdem stehen Sie im Wettbewerb mit einer unendlichen Anzahl von KI-Objekten, die die Studios/Streamer frei nutzen können. Und eine ganze Besetzung durch KI-Objekte anstelle menschlicher Schauspieler macht ein Set oder eine Crew überhaupt überflüssig.”
“KI-Objekte”, also völlig synthetische Figuren, sind in ihrer noch ein paar Ecken von uns entfernt, meint David Auerbach. Allerdings ist auch die Be- und Verarbeitung von menschlichen Schauspielern durch den neuen Tarifvertrag noch einmal deutlich ausgeweitet worden (z.B. Veränderung der Mundbewegungen für Synchronisation, aber auch digitale Veränderung von Bewegungen, Gesichtsausdrücken und Ähnlichem). So wie ohnehin bereits “digitale Doubles” für bestimmte Szenen eingesetzt werden, hinter denen allerdings jeweils menschliche Body-Doubles stehen.
Das alles werde, so Auerbach, einen Gewöhnungseffekt haben (übersetzt und gefettet):
“KI-generierte Schauspieler aus einzelnen oder sogar mehreren Akteuren kommen definitiv, aber nicht sofort. Die Ironie besteht darin, dass die mit menschlichen Schauspielern unterlegten “digitalen Doubles” bis dahin so regelmäßig verändert und verarbeitet worden sein werden, dass die Verbindung zu ihren ursprünglichen menschlichen Darstellern ohnehin ziemlich schwach geworden sein wird. Wenn nicht-gespielte KI-Akteure auftauchen, wird “Schauspielerei” bereits stark digital verändert worden sein.”
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Bis zur nächsten Ausgabe in zwei Wochen!
Johannes