Aus dem Internet-Observatorium #66
Digitale Doppelgänger / aiPhone-Moment / Twitter und Bluesky
Hallo zu einer neuen Ausgabe!
Digitale Doppelgänger ante portas
Die Dallas Cowboys, die wertvollste Sportmannschaft der Welt, haben seit dieser Saison eine neue Attraktion: Stadionbesucher können mit Jerry Jones sprechen, dem legendären Eigentümer des NFL-Teams.
Allerdings nicht mit dem echten Jones. Sondern mit einem Hologram, das mit einer KI hinterlegt wurde, die Fragen zu Biographie, Team und Klubgeschichte beantworten kann.
Bei einem Treffen dabei zu sein, kostet 55 US-Dollar.
Das klingt natürlich albern, aber das Thema digitaler Doppelgänger wird langsam interessant.
Ein Blick darauf, wer sich derzeit auf dem Markt tummelt (via The Information, $):
Das Unternehmen “Soul Machines” , die KI-getriebene Video-Avatare Golfers Jack Nicklaus, des NBA-Spielers Carmelo Anthony, des Musikers Will.i.am und des K-pop-Stars Mark Tua entwickelt hat.
Synthesia, die Firma hinter “Messi Messages”, die Kampagne einer Snack-Firma, in der ein Deepfake von Lionel Messi in sieben Sprachen per Video Freunde dazu auffordern kann, zum Fußballgucken zu kommen.
Hyperreal, das Unternehmen von Remington Scott, selbst Bilddirektor in Hollywood. Es verspricht Künstlern und Prominenten, einen digitalen Doppelgänger anzufertigen und verschiedene Lizenzierungsmöglichkeiten auszuloten.
Metaphysic, die vielleicht bekannteste Firma für Deepfakes bzw. Echtzeit-Gesichtstausch.
“Deep Voodoo”, ein Deepfake-Start-up der beiden South-Park-Erfinder Trey Parker und Matt Stone.
Travis Cloyd, Chief Technology Officer der Lizenrechte-Firma CMG Worldwide, skizziert im Information-Artikel dann ein Szenario, das nach Geld für Schauspieler, Künstlerinnen und sonstige Prominente riecht (übersetztes Zitat, Fettungen von mir):
“Sie haben Ihre digitale menschliche Performance-Doppelgängerin, die Sie vielleicht Filmemachern lizenzieren, vielleicht Game-Produzenten, vielleicht an Experience-Creator. Es könnte eine ältere oder jüngere Version von Ihnen geben. (…) Es könnte eine Version von Ihnen sein, die eine andere Sprache für eine andere regionale Vertriebslösung spricht.”
Letzteres bietet übrigens künftig Spotify an: Eine KI, die Podcasts mit samt der Stimme in andere Sprachen überträgt.
Aber auch sonst zeigen sich in den vergangenen Tagen zeigen Möglichkeiten und Probleme, die sich in diesem Zusammenhang auftun.
Denn mit Meta ist der erste Großkonzern in dieses Geschäft eingestiegen. Allerdings in abgespeckter Form: Konkret hat man mittels des Llama-2-Sprachmodells 28 KI-Charaktere erschaffen, die auf Prominenten wie Snoop Dogg, Tom Brady, Kaitlyn Jenner oder Mr. Beast beruhen.
Allerdings erscheinen die Promis nur in den PR-Videos als sprechende Personen, die eigentliche Interaktion mit der KI findet nur im Messenger und ohne echtes Bewegtbild statt. Und, eine weitere Einschränkung: Die Charaktere können nur über sehr spezielle Themenfelder chatten. Beispiel: Tom Brady heißt “Bru” und kann nur Fragen zu Sport beantworten.
Entsprechend hölzern erschien dann auch die Demo von Mark Zuckerberg:
Angesichts dieser drögen Einlage scheint es sogar spannender, mit Saddam Hussein in der App “Historical Figures” über die Bundesliga zu chatten. Aber das nur am Rande.
Dieses Meta-Gimmick ist vermutlich nur der Anfang: Casey Newton sieht die Zeit für synthetische soziale Netzwerke heranziehen - ähnlich den Gedanken, die ich Anfang März in Ausgabe #41 formuliert hatte (immer noch der wichtigste Text, den ich dieses Jahr hier veröffentlicht habe).
Newton schreibt (übersetzt, gefettet von mir):
“Man kann sich die nächsten Schritte hier gut vorstellen. Ein Bot, der deine Eigenheiten kennt; sich an deine Lebensgeschichte erinnert; dir Coaching, Nachhilfe oder Therapie anbietet; dich genau so unterhält, wie du es magst. Ein synthetischer Begleiter, nicht unähnlich den echten Menschen, denen du tagsüber begegnest, nur klüger, geduldiger, einfühlsamer, verfügbarer.”
Womöglich basieren diese Bots auf bekannten Charakteren und/oder echten Prominenten. In Ausgabe #49 hatte ich über solche Influencer-Assistenzsysteme einmal spekuliert:
“In den USA kann man seinem Waze-Navigationssystem schon seit 2016 die Stimme ausgewählter Prominenter wie Shaquille O'Neal geben. Ein Gimmick, sicher. Das sich aber weiterdenken lässt: Wenn mir Shaq den Weg sagt, wieso soll er mich nicht auch auf meinem Lebensweg lotsen?”
Das Ganze wäre keine gute Idee, findet Richard Gutjahr (Fettungen von mir):
“Welches Kind, welcher Teenager würde nicht gerne mit seinem Star über Liebeskummer, über den Ärger in der Schule oder den Krach mit den Eltern reden? Was wir in diesen Tagen erleben ist die Geburt von Synthetic Social Media, soziale Netzwerke, in denen wir nicht länger mit Menschen, sondern mit künstlichen Personas interagieren. (…) Falsche Freunde, denen wir unsere intimsten Gedanken, Sorgen, Wünsche und Ängste anvertrauen, damit IT-Konzerne unsere Stärken und Schwächen lebenslang auf ihren Servern speichern, auswerten und an Dritte verkaufen? Was könnte dabei wohl schiefgehen?”
Der Weg dorthin ist noch nicht vorgezeichnet: Dass Meta die Stars nur unter den Voraussetzungen verpflichten konnte, dass sie bestimmte Charaktere darstellen und über ein einziges Themengebiet sprechen, signalisiert gewisse Vorbehalte. Noch möchte niemand in Sachen KI-Assistent aus Promi-Persönlichkeit “all-in” gehen. Und rechtlich sind bestimmte Haftungsfragen (z.B. “KI-Snoop-Dogg rät jemandem, sich umzubringen”) oder auch das genaue Wertschöpfungsmodell noch gar nicht wirklich adressiert, wie auch die aktuellen Tarif-Auseinandersetzungen in Hollywood zeigen.
Und dann wäre da noch die Sache mit dem “Reverse Engineering”. Vergangene Woche warnte Tom Hanks seine Fans davor, dass ein DeepFake von ihm in einem Werbevideo für eine Zahnversicherung Werbung macht. Und ein indisches Gericht mag dem Schauspieler Anil Kapoor (Slumdog Millionaire) bestätigt haben, dass seine Persönlichkeitsrechte und konkret Merkmale wie Stimme, Bild oder Ähnlichkeit vor der Reproduktion mittels Künstlicher Intelligenz geschützt sind. Aber wie genau will er das bei einer dezentral verfügbaren Technologie durchsetzen?
Denn auf dem digitalen Spielfeld hat niemand die Kontrolle über seinen digitalen Doppelgänger. Selbst als Prominenter nicht.
Warten auf den aiPhone-Moment
Wenn man die Leute liest, die bei der Demonstration der Audio-Assistenzfunktion für ChatGPT dabei waren, braucht es allerdings womöglich gar keine Prominenten. Von einem sehr großen Nutzen und sehr überzeugender Kommunikation ist die Rede, und natürlich wird wieder einmal das “Her”-Szenario in den Raum geworfen.
Noch ist das Smartphone das Werkzeug. Und doch scheint es für “Ambient Computing” unzureichend, wie Ben Thompson nach der ChatGPT-Demo konstatiert. “Ambient Computing” bezeichnet Systeme, die sich in Form und Inhalt reibungslos dem Kontext des Nutzers / der Nutzerin anpassen. Und zwar rund um die Uhr.
Es könnte also sein, dass KI-Assistenzsysteme zu einem neuen Form-Paradigma führen, einer Alternative zum Smartphone. Bloomberg schreibt elegant vom “aiPhone”. Zitat (übersetzt):
“Mehr als 15 Jahre nach der Einführung des iPhones könnten ChatGPT und andere generative KI-Dienste bald die Grundlage für eine neue Art von Hardware-Gerät und eine völlig andere Art der Interaktion zwischen Menschen und Computern bilden.”
Geräte wie Alexa hat sich als Form des Ambient Computings bislang noch nicht etablieren können. Nun schickt sich offenbar OpenAI selbst an, eine Alternative zu entwickeln, wie verschiedene Medien berichten: Das Unternehmen möchte mit Geld von Softbank Ex-Apple-Designchef Jony Ive für ein Projekt gewinnen, das der KI des Unternehmens einen Hardware-Körper gibt. Das dürfte allerdings, sollte das Projekt zustande kommen, Jahre dauern.
Etwas näher an der Gegenwart: Metas ebenfalls vergangene Woche vorgestellte Ray-Ban-Smartglasses, in die das KI-Sprachmodell Llama 2 integriert wurde. Die Brille soll - wie gut das funktioniert, wird sich noch zeigen - zum Beispiel Tipps bei Heimreparaturen geben oder im Ausland Text auf Schildern, Tafeln und ähnlichem übersetzen können.
Mark Zuckerberg dazu in The Verge (übersetzt):
"Wenn Sie also einen KI-Assistenten entwickeln möchten, der wirklich Zugang zu allen Inputs hat, die Sie als Person erleben, dann sind Brillen wahrscheinlich der richtige Weg. Es ist eine ganz neue Perspektive mit Blick auf intelligente Brillen. Ich dachte eigentlich, dass wir erst in fünf bis zehn Jahren darüber sprechen, aber durch diese seltsamen Weg, den die Technologie-Entwicklung nimmt, könnten wir das vielleicht sogar noch vor extrem hochwertigen Hologrammen erleben."
Wir sind also einerseits wieder bei Mixed Reality, kombiniert mit KI. Aber eben nicht als “System” wie Siri, sondern als Assistenzsoftware mit Persönlichkeit. Womöglich mit einer bekannten Persönlichkeit, siehe oben.
Ben Thompson stellt dazu fest: Metas Vorgehen ist die Umkehrung der Metaverse-Strategie des Konzerns. Übersetztes Zitat mit meinen Fettungen:
"Es geht hier nicht darum, ein Metaversum aufzubauen und dann eine schlechte Nachbildung auf Ihrem Handy anzubieten; vielmehr knüpfen Sie durch die heute verfügbaren einfachen Mittel eine Beziehung zu einer KI und deren Fähigkeiten steigern sich im Laufe der Zeit und gipfeln in einem immersiven Erlebnis. Es ist so, als würden Sie zu einem Freund reisen, mit dem Sie hauptsächlich über Chat oder Telefonate kommunizieren. Es ist eine subtile Unterscheidung, aber ich denke, eine wichtige."
Wie dieser “Freund” dann aussieht - ob wir ihn aus den Medien kennen oder er 100 Prozent synthetisch ist: Ich nehme an, dass es verschiedenste Angebote dafür geben wird. Nur “wo” dieses immersive Erlebnis stattfindet, ob in einer Form von “Metaverse” oder ob diese Audio-Intimität bereits ausreich - dazu sind derzeit noch keine Prognosen möglich.
XTwitter-Dynamiken und Bluesky
Der deutsche X/Twitter-Exodus in Richtung Bluesky ist beachtenswert. Am Ende wird aber keine der beiden Plattformen “die Diskursplattform” in Deutschland sein. Es gibt derzeit keinen Ersatz für Twitter, sondern eine Fragmentierung des textbasierten Social Media (und eine abnehmende Relevanz von Text in den sozialen Medien insgesamt).
Und wir sind auch nicht im Jahr 2009. Das ritualisierte Sich-Ankacken wird auch auf Bluesky eine große Rolle spielen. Genau wie der Drang nach Gefälligkeit und Clout. Twitter mag für bestimmte Teile der ehemaligen Heavy-User irrelevanter werden, aber Twitters Datenbank-Dynamiken haben unser Verhalten “im Netz” jahrelang geprägt. Und je voller es wird, desto deutlicher wird das zu merken sein, befürchte ich.
Was die XTwitter-Zukunft angeht: Ich glaube an eine Abfolge, die ich teilweise in Ausgabe #51 skizziert hatte.
Elon Musk wird Twitter weiter zum amerikanischen Fox News des Internetzeitalters ausbauen. Die Folgen, sowohl in den USA als auch international, sind weiterhin nicht zu unterschätzen.
Entsprechend wird er in Kauf nehmen, dass X in der EU wegen fehlender Compliance irgendwann geblockt wird oder sich zurückziehen muss. Und er wird eine Märtyrer-Geschichte dazu erzählen.
(Neu) Irgendwann wird Musk die Lust verlieren und das Ganze an die Saudis, Katar oder sonstwen verkaufen.
Ansonsten halte ich mich hier mit Twitter-Takes weiter zurück. Musk ist als trumpartige Figur inzwischen sowieso nur noch eine emotionale Projektionsfläche; in den Augen seiner Kritiker mal Chaos-Prinz, mal Mastermind einer reaktionären Social-Media-Hegemonie. Dass sich “Chaos” und “Mastermind” eigentlich widersprechen, fällt da nicht weiter ins Gewicht.
Hollywoods erste KI-Einigung
Hier die Punkte zur Künstlicher Intelligenz, die die Autorengewerkschaft WGA anlässlich der Einigung mit den Studios veröffentlicht hat:
KI darf keine literarischen Materialien schreiben oder umschreiben, und von KI generierte Materialien werden nicht als Quellenmaterial betrachtet (…), was bedeutet, dass KI-generierte Materialien nicht verwendet werden können, um das Ansehen eines Autors oder dessen getrennte Rechte zu untergraben.
Ein Autor kann sich dafür entscheiden, KI bei der Ausführung von Schreibdienstleistungen zu verwenden, wenn das Unternehmen zustimmt und der Autor den Unternehmensrichtlinien folgt. Das Unternehmen aber kann den Autor nicht dazu verpflichten, KI-Software zu verwenden (…) bei der Ausführung von Schreibdienstleistungen.
Das Unternehmen muss dem Autor mitteilen, ob ihm Materialien zur Verfügung gestellt wurden, die von KI generiert wurden oder KI-generiertes Material enthalten.
Die WGA (Writers Guild of America) behält sich das Recht vor, zu argumentieren, dass die Ausbeutung von Autorenmaterial zur Schulung von KI durch das MBA (Minimum Basic Agreement) oder andere Gesetze verboten ist.
Links
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes