Hallo in die Runde - ich hoffe, Ihr müsst (anders als ich) diese Woche noch nicht arbeiten. Und seid gut reingekommen in ein Jahr, für das ich Euch alles Gute, vor allem natürlich Gesundheit wünsche!
Im vergangenen Jahr habe ich in der ersten Ausgabe “Fragen an das Digitaljahr” gestellt. Und mich damit um Prognosen gedrückt. Schade eigentlich, denke ich heute - und stelle zumindest mal ein paar Thesen für 2024 auf.
Eure Prognosen, Themen und Gedanken zum Digitaljahr 2024 würden mich ebenfalls interessieren - ich freue mich über eine E-Mail (einfach antworten)!
P.S.: In der Substack-Kontroverse habe ich mir noch keine wirkliche Meinung gebildet. Ich fand das, was Ken White geschrieben hat, sehr hilfreich. Mehr vielleicht in der nächsten Ausgabe.
Intro: Ein Blick auf die Antworten 2023
Anfang 2023 hatte ich Fragen an das Digitaljahr gestellt - hier die Antworten:
Hat Mixed Reality das Zeug zum neuen Paradigma?
Ich selber hatte mich nicht festgelegt, außer bei der Feststellung “Wenn es Apple nicht schafft, schafft es niemand”. Nun, die Antwort steht immer noch aus, da die Vision Pro erst in Q1 2024 auf den Markt kommt (zu einem sehr teuren Preis). Entsprechend spielt das Thema auch dieses Jahr eine Rolle.
“Generative AI”: Wie geht die Urheber-Debatte weiter? Robots.txt als Möglichkeit, Internet-Inhalt von KI-Crawlern auszuschließen, hatte ich erwähnt. Tatsächlich haben Google und OpenAI das Format adaptiert.
Insgesamt kochte die Urheber-Debatte immer mal wieder hoch. Der “AI Act” sieht für große Sprachmodelle eine gewisse Transparenzpflicht vor, welche urheberrechtlich geschützten Inhalte man für das Training verwendet hat. Insgesamt aber sieht es im Moment danach aus, als würden nun Gerichte die wichtigsten Fragen klären. Dass OpenAI einen Deal mit Springer geschlossen hat und Apple mit verschiedenen Verlagen verhandeln soll, zeigt, dass gerade bei Medieninhalten der Wunsch nach Rechtssicherheit besteht. 2024 könnte auch das Jahr sein, in dem Australiens und Kanadas Leistungschutzrecht auf KI ausgeweitet wird, vermutet Casey Newton.
Wie wahrscheinlich wird ein TikTok-Verbot in den USA?
Mein Eindruck damals war: sehr wahrscheinlich, aber noch nicht 2023. Im Moment allerdings scheint das Thema wieder in den Hintergrund zu rücken, zumal ein Gericht das Verbot des US-Bundesstaats Montana bereits kippte. Allerdings könnte das Thema 2025 mit einer Trump-Präsidentschaft wieder sehr aktuell werden.
Quo Vadis, Krypto?
Bitcoin und Ethereum steigen gerade wieder, was aber offenbar a) mit der möglichen Zulassung erster börsengehandelter Fonds mit Bitcoin und b) mit dem anstehenden Halbierungsjahr zu tun hat (der echte Anstieg kommt traditionell aber erst nach April). Kryptobörsen - zuletzt Binance - sind wiederum derart in Verruf geraten, dass es schwer vorstellbar scheint, dass seriöse institutionelle Investoren hier absehbar wieder einsteigen. Ein Lazarus-Moment scheint mir noch nicht in Sicht, aber die Spekulationsbereitschaft ist abseits des Mainstreams weiter groß.
Wird sich dezentrale Moderation bewähren?
Ein weiteres Thema, das nicht so wirklich eine Rolle spielte - auch, weil das Fediverse sich noch in einer Frühphase befindet, trotz regelmäßiger Lobeshymnen auf die Idee und anstehender Threads-Anbindung. Ich glaube aber, dass die Frage relevant bleiben wird.
Wie wird Google auf ChatGPT reagieren?
Die Antwort lautete: Mit eigenen Chatbots auf LLM-Basis, die bislang aber entweder noch nicht online sind oder in ihrer Verlässlichkeit zu wünschen übrig lassen. Was nicht bedeutet, dass Ende 2024 nicht doch ein Google-Produkt mit ChatGPT gleichgezogen hat. Denn Alphabet ist zwar organisatorisch unübersichtlich und agiert strategisch diffus, hat aber technisch und finanziell weiterhin die besten Voraussetzungen dafür, die weltweit beste KI-Assistenzsoftware anzubieten.
Macht sich Deutschland auf den Weg in Richtung Datenökonomie?
Ein bisschen. Im Bereich Gesundheitsdaten geht man ins Risiko, um als Standort auf Augenhöhe mit Großbritannien und Israel zu gelangen; viele Projekte aber (Mobilitätsdatengesetz, Forschungsdatengesetz, Rechtsanspruch auf Open Data etc.) sind aber im Verzug oder Richtung Ende 2024 terminiert worden. Die größeren Impulse (Stichwort Data Act) kommen erwartbar weiter aus der EU, wobei mir hier nicht so ganz klar ist, ob der Rahmen mit seinen zahlreichen Ausnahmen wirklich für eine Datenökonomie sorgt, wie sie sich die Politik vorstellt.
Wie wird die Rückkehr Donald Trumps auf die Großplattformen aussehen?
Die Antwort: Ein einziger Tweet, aber viel Facebook-Content, ansonsten ziemlich unspektakulär. 2024 dürfte da anders werden.
Thesen für 2024
Generative Künstliche Intelligenz: Die Hype-Phase bleibt auf Plateau-Niveau
So wie oben sah das 2023 laut Gartner aus - generative KI wie ChatGPT auf dem Gipfel der “übertriebenen Erwartungen”. Wird 2024 schon zum Jahr der Desillusionierung? Zumindest wird der Hype abflauen, weil zwar weitere Modelle veröffentlicht werden, die ungefähr die Stärke von GPT-4 erreichen, aber keinen Durchbruch darüber hinaus. Aufgefangen wird die Ernüchterung vermutlich durch verstärkte Integration von generativer KI in Software-Anwendungen aller Art, nicht immer zielführend, aber teilweise völlig neue Felder (Stichwort: autonome Agenten, siehe Ausgabe #72) eröffnend.
Irgendjemand wird sicherlich auf Hardware-Seite ein Firephone des KI-Zeitalters auf den Markt bringen. Vermutlich sogar Amazon. Worüber wir sicher mehr reden werden: Open-Source-Modelle und ihre verschiedenen, teils problematischen Anwendungen.
Die interessantere Entwicklung könnten bei den kleineren Modellen liegen: Jenen, die auf Smartphones funktionieren und solchen, die von größeren Modellen mittels “Knowledge Distilation” abgeleitet werden. Und die wichtigsten Ergebnisse verstecken sich wahrscheinlich nicht in einer Konsumenten-Anwendung, sondern in einer Reihe KI-unterstützer wissenschaftlicher Durchbrüche. Okay, jetzt habe ich mich für einen Laien ziemlich aus dem Fenster gelehnt.
Spatial Video wird Maßstäbe setzen
Apples Vision Pro, das lassen die ersten Ausprobier-Berichte vermuten, hat eine Killer-App: Spatial Video, also die Möglichkeit, räumliche Videos anzusehen und sich damit direkt in Szenen aus der eigenen (gefilmten) Vergangenheit zu versetzen. Ich weiß nicht, in wie vielen Jahren Mixed-Reality-Headsets zur Standard-Ausstattung ab der oberen Mittelschicht gehören - aber 3D-Videographie auf dem Smartphone und die entsprechende Abspiel-Hardware wird ein entscheidendes Kauf-Argument sein.
DSA bringt kleine Veränderungen, der DMA große
Mitte Februar, wenn der “Digital Services Act” vollständig in Kraft tritt, werden die meisten Länder noch nicht mit der Vorbereitung fertig sein. Das wird entsprechende Prüfverfahren und Entscheidungen, ob sich Online-Plattformen an die neue EU-Regulierung halten, verzögern. Allerdings dürften wir vorbereitend einige Maßnahmen sehen, zum Beispiel die Aufstockung von Moderationskapazitäten bei Meta und YouTube (nicht aber bei XTwitter, dass ich weiterhin auf den Weg zum Twexit bzw. X-it sehe, sofern der Besitzer nicht wechselt).
Beim Digital Markets Act wird es konkreter: Hier müssen bald die Firmen ihre Selbsteinordnung vorlegen. Danach dürfte es gleich eine ganze Reihe von wettbewerbsrechtlichen Prüfverfahren bzw. bzw. Auflagen für Gatekeeper geben. Speziell die Bedingungen bei den App-Stores, aber auch auf dem Amazon-Marketplace könnten sich im Laufe des Jahres deutlich verändern. Voraussetzung ist natürlich, dass die entsprechenden Klagen von Amazon, Apple, Meta und Co. gegen ihre Gatekeeper-Einordnung keinen Erfolg haben.
Mäßige Zeiten für Text, gute Zeiten für Video
Gut, dass US-Wahlen sind: Dadurch wird das textbasierte Social Web eine gewisse Relevanz behalten. Insgesamt aber zeigt der Trend für Social Text, wie auch für publizistische Online-Texte insgesamt (und damit auch das WWW) nach unten. Ersteres wird immer weniger genutzt, Letzteres mit nachlassendem Interesse gelesen (und, wenn es um reine Informationen geht, bald immer stärker von KI-Systemen vermittelt). Zwar wird der Siegeszug von Videos als Format nicht ewig anhalten, aber vieles wird - von Memes über kulturelle Trends und Shopping-Pläne bis zur Hegemonie im vorpolitischen Raum - bei TikTok, Instagram Reels und YouTube verhandelt. 2024 noch stärker als 2023.
Wahlen 2024: Desinformation von ganz oben
Mehr als vier Milliarden Menschen dürften 2024 wählen (allerdings nicht alle in echten Demokratien). Wir werden zwar viel über Desinformation reden, aber wahrscheinlich gar nicht über externe Kampagnen oder Grassroots-Beeinflussung, sondern von Regierungen und größeren politischen Bewegungen, die mit Hilfe ihrer Anhänger (und einigem synthetischen Content) die Wahrheit bis zur Lüge verdrehen, dem Zeitgeist entsprechend natürlich mit klaren Feindbildern verbunden.
Digitalisierungspolitik in Deutschland: Es wird zäh
Keine Überraschung, das. Gerade der Haushalt 2025 wird wahrscheinlich noch weniger Platz für Beschleunigungen oder Ehrgeiz bei den Digitalisierungsprojekten der Bundesregierung lassen - weil Letzteren auch bislang niemand im Kabinett entwickelt hat.
Das gilt auch für die messbaren Ziele: Ob die 15 Fokusleistungen in der Verwaltungsdigitalisierung alle bis Ende 2024 flächendeckend online sind? Man darf skeptisch sein. Solche kurzfristigen Versäumnisse dürfen aber nicht über die strukturellen Probleme bei der Finanzierung (z.B. Digitalverwaltungs-Betrieb & Registermodernisierung, Digitalpaket Schule 2.0 , nationale Bildungsplattform. Smart eID) oder Organisationsstrukturen (z.B. föderale Mischzuständigkeiten, Gematik-Reform) hinwegtäuschen, die viel problematischer sind.
Synthetischer Content: Das Kennzeichnungsproblem wird allmählich gelöst
Ist die Unterscheidung zwischen “echtem” und “synthetischem” Content vielleicht gar nicht so ein großes Problem? Zumindest bei Fotos setzt sich einerseits auf Seiten der KI-Anbieter der Standard durch, KI-generierte Bilder mit digitalen Wasserzeichen zu versehen. Aber auch auch “echte” Bilder werden sicherer: Ein Bündnis aus Foto-, Nachrichten- und Digitalbranche etabliert gerade einen Standard, der Fotos mit digitalen Signaturen versieht. Damit sollen zum Beispiel professionelle Fotografen nachweisen können, dass ihr Bild nicht computergeneriert oder -manipuliert wurde.
Links
Token-Utopie - eine Podcast Reihe (Teil 1, Teil 2, Teil 3) - Disclosure: Habe den Podcast beratend etwas begleitet.
2023: Das Jahr, an dem die Online-Anonymität in China endgültig verschwand.
KI-Nationalismus und seine Grenzen. ($)
Das UN-Beratungsgremium zur KI hat einen ersten Zwischenbericht vorgelegt.
Wird das Internet 2024 endlich wieder seltsam?
Aufstieg und Fall von Alibaba. ($)
KI-generierte Influencer erhalten viel Interesse ($).
Wir posten nicht mehr so viel auf Social Media, oder?
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes