Liebe Internet-Beobachtende,
2023 hat begonnen - ich hoffe, es wird für euch/sie ein gesundes und erfreuliches Jahr! Im Bild zu sehen: Wie sich DALL-E den Jahreswechsel im Internet-Observatorium vorstellt.
Hier in diesem Newsletter ändert sich eine kleine Sache: Ab sofort zähle ich alle Ausgaben mit der bekannten Nummerierung durch - egal, ob es ein längeres Essay ist oder eine Mischung aus kurzen Notizen. Eigentlich ist das nur für mich selbst, um die Sachen besser zu finden.
Acht Fragen an das Jahr 2023
Wie meistens verzichte ich auf Prognosen. Das vergangene Jahr hat schließlich gezeigt (siehe Musk und Twitter, siehe Crypto-Entwicklungen, etc.), dass die Realität oft viel seltsamer ist, als wir es uns vorstellen können. Deshalb an dieser Stelle: Fragen an das Jahr 2023.
Hat Mixed Reality das Zeug zum neuen Paradigma?
Eine Art dunkle Skibrille mit einem Drehknopf, um zwischen VR und AR umzuschalten, dazu einen Akku an die Hüfte geschnallt: So ungefähr muss man sich laut The Information ($) Apples Mixed-Reality-Brille vorstellen, die (mit etwas Glück) Ende des Jahres vorgestellt wird.
Speziell der anvisierte Hardware-Preis spricht gegen einen sofortigen Erfolg im Massenmarkt: Mit 3000 US-Dollar liegt der deutlich höher als seinerzeit beim ersten iPhone. Was wiederum auch gegen ein neues Paradigma spricht - zumindest bis gegen Ende des Jahrzehnts. Andererseits zeigen Beispiele wie die Apple Watch, dass ein Apple-Produkt kein Knüller sein muss, um dann doch seinen Markt zu finden.
Wie schon beim iPhone wird es am Ende um die Anwendungen gehen, die Apple und dann auch die externen Entwickler bieten können. Laut The Informationen ist - wie bei Meta - Videoconferencing als Killer-Anwendung gedacht. Das klingt erstmal langweilig, aber die Businesskundschaft ist nicht zu unterschätzen.
Mit dem Unterhaltungsbereich hat Apple zugleich eine Vertikale für das Consumer-Feld, die sich gut verknüpfen lässt. Ein Deal mit der NFL, die Sonntagsspiele bei Apple TV Plus und in VR zu zeigen, wäre sicherlich für die Massen-Adaption interessant gewesen.
Ihr ahnt an dieser Aufzählung: Ich werde mich nicht festlegen, was aus Mixed Reality wird, ich weiß ja noch nicht mal, wie die Apple-Brille am Ende aussehen wird. Ich glaube aber, dass die menschliche Sichtbarkeit der Nutzer dahinter (vgl. als Negativbeispiel Google Glass) eine entscheidende Rolle spielt. Und wenn Apple - auch ohne Jony Ive - die Kombination aus Technologie und Formfaktor nicht hinbekommt, dann wird es niemand schaffen. Dafür ist Hardware zu aufwändig.
“Generative AI”: Wie geht die Urheber-Debatte weiter?
Sind wir nur Content-Produzenten, die unseren künftigen KI-Lehensherren Futter für die Übernahme des Internets liefern? Diese Frage wird 2023 nicht geklärt. Allerdings stehen - siehe der nihilistische Kreativ-Kreislauf bei Stockphotos - diverse Urheberrechtsfragen im Raum.
Die Frage des Wertes kreativer Erzeugnisse, die mit Hilfe maschineller “Co-Kreativität” entstanden sind, fesselt mich dabei weniger - irgendwie fühle ich mich immer an die Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert, ob die Fotografie die Malerei ablöst und wenn ja, ob Fotografien überhaupt Kunst sein können. Allerdings weiß ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich ein Buch lesen würde und am Ende herausfände, dass es weitestgehend von ChatGPT geschrieben wurde. Die Begegnungen im Uncanny Art-Valley dürften auf jeden Fall zunehmen in den nächsten Jahren.
Aber zurück zu dem, was mich eigentlich interessiert: Nämlich die Frage, wohin das Wegschnorcheln von Content zum Trainieren von Software wie GPT-4 ff. in der Urheberdebatte führen wird. Theoretisch lässt sich Data Mining schon jetzt qua EU-Urheberrichtlinie untersagen (in Deutschland § 44b Abs. 3 UrhG), im Online-Kontext nur in maschinenlesbarer Form (robots.txt, nehme ich an).
Etabliert sich robots.txt hier als Standard oder entwickelt sich der Bedarf, das auszudifferenzieren bzw. auf die Content-Ebene (ähnlich eines Wasserzeichens als Trainingsdatennutzungsverbots-Kennzeichen) herunterzubrechen? Letzteres deutet sich in der Diskussion über die die Stil-Imitationen durch DALL-E und Co. an. Ohnehin rückt die Metadaten-Ebene durch die wachsende Menge an synthetischem Content nochmal stärker in den Fokus. Ob es hier kluge Ideen zur Weiterentwicklung geben wird: Auch das eine interessante Frage für 2023.
Wie wahrscheinlich wird ein TikTok-Verbot in den USA?
Der geopolitische Konflikt zwischen den USA und China verschärft sich zusehends (auch wenn es zuletzt einige Deeskalationssignale gab). Und damit rückt auch die Frage in den Mittelpunkt, was aus TikTok wird. Das jüngst verhängte Verbot auf US-Regierungshandys zeigt, dass es in Washington nicht nur Skepsis, sondern offene Feindseligkeit gegenüber TikTok gibt. Sehr zur Freude von Meta, nehme ich an. Mit der Überwachung kritischer US-Journalisten und -Journalistinnen hat ByteDance ebenfalls Unterstützung verspielt.
In diesem Jahr dürfte erst einmal der Transparenz-/Datenverwaltungs-Deal zwischen TikTok, der US-Regierung und Oracle final umgesetzt werden. Aber ein Verbot kann durch vieles ausgelöst werden: Echte oder konstruierte Beweise für einen größeren chinesischen Zugriff auf die Daten (möglich), Hinweise auf ideologische Manipulationsversuche (unwahrscheinlich) oder für ein extremes Data-Mining westlicher Nutzer zum Zwecke der Katalogisierung inklusive Gesichtsdatenbanken (nicht ausgeschlossen).
Meine Skepsis gegenüber TikTok und meine Befürchtung, dass es sich um eine gewaltige Datenbank für den chinesischen Staat handelt, habe ich hier häufiger hinterlegt. 2023 ist wahrscheinlich zu früh, aber ich halte eine staatliche TikTok-Blockade in den USA und Europäischer Union in den nächsten Jahren weiterhin für sehr wahrscheinlich. Womöglich, wenn die App in ein paar Jahren ihre kulturelle Vormachtstellung eingebüßt haben sollte.
Quo Vadis, Krypto?
Eine Frage mit vielen Ebenen: Das FTX-Debakel ist eingeschlagen wie ein Meteor. Der NFT-Hype scheint vorbei, auch wegen hoher Scam-Anfälligkeit. DAO-Erfolgsgeschichten fehlen bislang. Kurz: Alles deutet auf einen Krypto-Winter hin. Oder gibt es einige Aspekte, die einen Lazarus-Moment erleben?
Wird sich dezentrale Moderation bewähren?
Zur Professionalisierung von Mastodon gehört auch die Diskussion über Organisationsformen und Infrastruktur für die Moderation. Bislang steckte einiges in den Kinderschuhen, inklusive Fragen nach einer Feature-Erweiterung. Letztlich wird aber die Realität, der regelmäßige Zufluss von Nutzern, genau solche Fragen (Umgang mit “Hatespeech”, Löschung vs. Unsichtbarkeit, Regulierungsvorstöße) in den Mittelpunkt rücken. In einem Jahr werden wir schlauer sein - auch darüber, wie das twitter-artige Info-Ökosystem nach Twitter aussehen wird.
Wie wird Google auf ChatGPT reagieren?
Das hier ist einfach: Die Antwort werden wir in Form von Prototypen auf der Google I/O 2023 erfahren. Gut möglich, dass die Konferenz von Mai auf Juli o.ä. geschoben wird. Bis dahin dürfte es auch erste Fachsoftware mit ChatGPT im B2B- oder Forschungsbereich geben (und Microsoft wird ChatGPT womöglich als Prototypen in seine Suche integriert haben, ohne dass es Bing irgendwie interessanter macht… aber ich wollte ja keine Prognosen abgeben).
Macht sich Deutschland auf den Weg in Richtung Datenökonomie?
Der “EU Data Act”, “AI Act”, die Datenstrategie der Bundesregierung, die Schaffung unterschiedlicher Datenräume - es klingt alles sehr abstrakt und langweilig, was dieses Jahr politisch in Sachen Datenökonomie passiert. Und doch ist es hochspannende - denn es geht gerade um die entscheidenden Weichenstellungen, wenn wir uns in Richtung einer digitalisierten Volkswirtschaft aufmachen wollen.
Auch hier spielen viele Faktoren eine Rolle: Standardisierung, Praktikabilität beim Tausch von Daten, Fachwissen (heißt auch: Fachwissen, keine Schlangenöl-AI einzukaufen) und letztlich die Bereitschaft, in einer konkurrenzgetriebenen Wirtschaft auch zusammenzuarbeiten. Ich bin selbst gespannt, was Ende des Jahres auf der Habenseite stehen wird. Ein, zwei erfolgreiche neue Geschäftsmodelle oder sogar nur Use Cases könnten schon viel in den Köpfen bewegen.
Wie wird die Rückkehr Donald Trumps auf die Großplattformen aussehen?
Meta wird im Laufe des Januars entscheiden, ob Donald Trump wieder bei Facebook aktiv sein darf (wo immerhin seine Stammwählerschaft online zu finden sein dürfte). Ich gehe davon aus, dass er wieder zugelassen wird. Unklar aber ist, wie Trump Facebook und Twitter nutzen wird. Einerseits ist er an seinen Vertrag mit Truth Social gebunden, seine Postings dort zuerst abzusetzen. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass Trump im beginnenden Vorwahlkampf auf Twitter und Facebook verzichtet. Vorstellbar ist allerdings durchaus, dass seine Tweets deutlich weniger mediale Resonanz als in der Vergangenheit finden - so wie Twitter insgesamt gerade an Relevanz für Journalisten verliert (okay, okay, dieser Satz ist eher Wunschdenken).
Links
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Bis zur nächsten Woche!
Johannes