Liebe Internet-Beobachtende,
der aktuelle Beitrag ist etwas länger geraten, der Tatsache geschuldet, dass das “Metaversum” bei strukturierter Betrachtung zahlreiche (Meta-)Themen eröffnet. Ich formuliere es mal optimistisch als Angebot: Die zeitlichen Abstände zwischen den Newsletter-Ausgaben geben Zeit dafür, alles in Gänze zu lesen.
Thema der Woche: Das Metaversum und allgegenwärtiges Computing
Facebook heißt jetzt Meta, doch die echte Veränderung ist - es wurde bereits vielfach angemerkt - der strategische Schwenk des Konzerns von Virtual Reality zum Metaversum. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die mit dem Kauf von Oculus 2014 begonnenen VR-Bemühungen eher in eine Sackgasse zu führen schienen, als in Richtung eines neuen Tech-Paradigmas.
Die einfacheren Erklärungen sind geschäftlicher Art: Strategischer Druck trifft auf überquellende Barreserven. Der Druck: Das Ergrauen des Kernprodukts, die neuen Anti-Tracking-Einstellungen von iOS, drohende regulatorische Eingriffe, schlechte Presse.
Die Dimension der Reserven: 46 Prozent Umsatzwachstum, 26 Milliarden US-Dollar Gewinn in den ersten drei Quartalen, ein Aktienrückkauf-Volumen von 13,4 Milliarden alleine im abgelaufenen Quartal. Die zehn Milliarden US-Dollar, die Facebook in diesem Jahr für seine Metaversum-Sparte “Reality Labs” zurücklegt, wirken in diesem Kontext keineswegs überdimensioniert.
Schwieriger werden Erklärungen, was das Metaversum überhaupt sein wird. Die teils etwas bizarr anmutende Facebook-Videos dazu sind nicht viel mehr als eine Skizze, die wahrscheinlich eher der Klischee-Vorstellung von Zukunft erfüllt als wirklich die reale Zukunft vorwegzunehmen.
“What we can tell, from all of this, is that for Zuckerberg, the metaverse is an ill-defined hodgepodge of virtual productivity tools and lame wearables. It’s in line with this broader feeling in Silicon Valley right now that if you jam together a conference call and a FitBit, somewhere in the middle there, you’ll end up with the metaverse.”
kommentierte Ryan Broderick das Facebook(Meta)-Video (alle Zitat-Fettungen im Artikel meine).
Und da war noch nicht einmal das Video online, das Microsoft-Chef Satya Nadella ein paar Tage später veröffentlichte.
Was also ist das Metaversum?
“Like all the best buzzwords, ‘metaverse’ tries to link together lots of interesting things - in this case, VR, AR, games and crypto, and a few other things besides. But, all of these are questions.”
Das schrieb jüngst Benedict Evans. Eine ausführliche Version dieser vagen Beschreibung ist dieser New-York-Times-Artikel, was wiederum Max Read in einem bissigen Newsletter-Beitrag zur Feststellung verleitete:
“The metaverse" is not really even a ‘thing’ that one might know or care about, so much as it is a buzzword used to refer vaguely to a bunch of businesses, platforms, and technologies that might someday work together in some not particularly well-defined way.”
(aber Vorsicht, dein Chef könnte dich trotzdem demnächst fragen, wie eure Metaversum-Strategie aussieht)
Aber ich schweife ab: Der Tech-Analyst Matthew Ball hat vor längerer Zeit sieben Eigenschaften des Metaversums identifiziert, die als Konsens gelten. Es wird demnach
dauerhaft existieren, also unabhängig vom Ein- oder Ausstieg und ohne Pausen-Schalter funktionieren.
synchron und live sein.
keine Begrenzung der Nutzerzahl haben und die Nutzer mit einem individuellen Gefühl von “Präsenz” ausstatten.
ein funktionierendes Ökosystem mit Personen und Firmen sein, die auch über Geld miteinander interagieren.
sowohl die physische, als auch die digitale Welt umspannen (also nicht AR vs. VR, sondern beides). Geschlossen wie offen.
Interoperabel zwischen den einzelnen Plattformen sein.
voller “Content” sein, der von unterschiedlichen Akteuren bereitgestellt oder auch verkauft wird.
In der Gegenwart könnten wir am ehesten Spiele wie Fortnite, Minecraft, Animal Crossing oder Roblox als kulturelle Vorstufe des Metaversums betrachten: Endlose, immersive Welten für digitale Zerstreuung, Kreativität und Begegnung - natürlich durch digitale Bezahl-Objekte bereits “kommerzialisiert”.
Das “körperliche Internet”
All das ist allerdings Software, bei der wir (bis auf die VR-Versionen) weiterhin vor dem Bildschirm bleiben. Das Metaversum wäre etwas wie ein “3D-Web” (Zuckerberg spricht vom “körperlichen Internet”) mit Objekten, mit denen wir (wirklich über verschiedene Plattformen hinweg?) interagieren können. Auch das Konzept des digitalen Zwillings, also eine Portierung/ eine Darstellung physischer Objekte in die neue Ebene hinein, spielt eine Rolle.
Ob all das in einer Form umgesetzt wird, die Interesse weckt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt technischen: Es braucht ein Display, wahrscheinlich eine Brille, das eine gewisse Filigranität hat; einen (Hand-/Körper-)Computer, der die Umgebung fix digital rendert; für die völlig immersive Version und dazu eine Form von körpernahem Input, der ein bestimmte Körpergefühl vermittelt. Eine Batterieversorgung, die den Träger nicht durch ihr Gewicht o.ä. beeinträchtigt. Also eine ganze Menge Dinge, für die zehn Milliarden US-Dollar nur den Bruchteil dessen darstellen dürfte, was letztlich in dieses Segment fließt, sollte es “Realität” werden.
Nun lässt sich natürlich über diese ganze Idee lachen (oder ein Schreckensszenario ausmalen). Paul Skallas hat dazu zurecht angemerkt:
Eigentlich lässt sich sogar spekulieren, dass wir durch die Corona-Krise längst in einer Übergangsphase ins Metaversum leben. Genauer: Durch die zeitweise erlebte Entkopplung von Arbeit (in der oberen Mittelschicht) und zwischenmenschlichem Intensiv-Kontakt von der physischen Präsenz.
Diese Entkopplung kennen natürlich auch die Tech-Konzerne, weshalb nicht nur Microsoft, sondern auch Facebook (bzw. Meta) Geschäftsanwendungen in den Mittelpunkt der Metaverse-Ankündigungen stellte. Ben Thompson weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Business-Anwendungen schon oft Türöffner für Verbreitung unter Privatkunden waren.
Natürlich steigt niemand ins Metaversum, um dort Powerpoint-Präsentationen zu sehen. Vielmehr hat sich die Zoom- und Teams-Welt nach der ersten Euphorie als weitestgehend zweidimensional entpuppt: nämlich durch Bildschirm-Vierecke und abstimmungsbedürftige Sprech-Rituale limitiert, auf eine Weise formal, die unseren zwischenmenschlichen Bedürfnissen - zum Beispiel für kreative Arbeit oder persönliche Nähe - nicht gerecht wird.
Weder innen, noch außen: Die (post-)pandemische Welt
Ob Microsoft (bislang Software-Fokus, Geschäftskundenbasis) oder Facebook (bislang Hardware-Fokus, theoretische Privatnutzer-Basis) oder Apple hier zum Marktführer werden, wird in diesem Podcast ausführlich diskutiert. Für mich steht allerdings überhaupt noch nicht fest, dass die Business-Version des Metaversums überhaupt die richtige Perspektive ist, über das Thema als Ganzes nachzudenken. Denn viel lebensnäher ist das, was vor ein paar Tagen Drew Austin beschrieb.
Er war seit längerem mal wieder auf einer (Konferenz-)Party. Und schildert sein quasi post-pandemisches Erlebnis so:
“The faces of people I vaguely recognized from Twitter popped out at me as I wandered through the crowd, like avatars in a high-resolution video game—another artificial barrier between the digital and physical world dismantled. As an environment distinct from both my ordinary social life and the two-dimensional, text-based platforms in which I normally encountered these people during the many hours per day I spend online, this party somehow felt more virtual than both, a merging of two distinct spheres, a temporary manifestation of a Discord server in a nightclub for one evening.”
(…) Transforming a Discord community into an IRL party—transforming small circular social media avatars into embodied humans—felt like the actual metaverse, one that’s already basically here, and certainly a more exciting version than Facebook’s: meatspace enhanced by the internet and rendered more functional, augmented reality in the purest sense.“
Diese Beschreibung eines “inversen Metaversums” erinnert mich an die ersten Re:publica-Konferenzen beziehungsweise jede Form von Treffen, in der man Internet-Menschen wie Twitter-Avataren oder Twitch-Streamern plötzlich geballt “in echt” begegnet. Doch dieses “in echt” ist inzwischen eben etwas anderes: Der Gegensatz von “Internet” und “Realität” ist ohnehin seit langem überholt; heute ergibt aber auch jede Unterscheidung von “innen” und “außen” immer weniger Sinn. Vielleicht wird das Metaversum einfach der Punkt sein, an dem sie vollständig kollabiert.
Diese Vorstellung des Metaversums erscheint uns - obwohl sie natürlich auch auf Konzern-Software aufbaut - viel organischer als Metawelten, die komplett von Tech-Konzernen erbaut werden.
Weil wir natürlich ahnen, dass Problembereiche wie Daten-Sammlung, staatliche Überwachung, Kommerzialisierung von Interaktionen, Eigentums- und Zugangsfragen oder Kontext-Fragmentierung nicht nur bleiben, sondern womöglich sogar verstärkt würden.
Allgegenwärtiges Computing
Beruhigend dabei ist, dass Paradigmenwechsel zwar nach gewissen Logiken ablaufen, aber das Resultat von so vielen Faktoren abhängt, dass es auf lange Sicht kaum prognostizerbar sind. Hier will ich noch einmal Paul Skallas ins Spiel bringen: Er erinnert daran, dass von Beginn der Menschheit bis zur Erfindung des Phonographen im Jahr 1877 niemand in der Lage war, alleine Musik zu hören, ohne sie auch gleichzeitig selbst zu spielen. Es gab keine Aufzeichnungsmöglichkeit.
Und er verweist darauf, dass wir vor dem mobilen Internet (also ungefähr bis zum letzten Fünftel der 2000er) in der Regel ein “Computerzimmer” hatten, in dem wir online gingen. “Das Internet war ein eigener Bereich. Du warst entweder dort oder woanders.”
Dieses Paradigma hat sich völlig und in kürzester Zeit verändert. Unser Umfeld nimmt immer stärker die Form dessen an, was der Informatiker Mark Weiser bereits 1988 als “ubquitäres Computing”, also “Rechnerallgegenwart” bezeichnete. Weiser meinte damals eine Welt vernetzter Sensoren, in der klassische Endgeräte langsam verschwinden. Eine Prognose, die natürlich an den damaligen Kontext gebunden ist.
33 Jahre später erscheint uns “ubiquitäres Computing” zwar weniger revolutionär, als vielmehr völlig logisch. Dennoch können wir kaum seriös prognostizieren, welche Formen allgegenwärtige Rechenkraft im Laufe der nächsten Jahrzehnte annehmen wird - geschweige denn, welche und wie viele “Meta-Realitäten“ daraus entstehen.
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#CreatorEconomy Das Hohe Gericht in Islamabad hat die TikTok-Blockade durch die pakistanischen Telekommunikationsbehörde als verfassungswidrig bezeichnet. Die Video-Plattform biete Tausenden jungen Talenten ein Auskommen. Die Behörde und TikTok arbeiten inzwischen an einer Lösung, bestimmte Inhalte (Pornographie, antireligiöse Botschaften und Hass) zu filtern bzw. zu zensieren. Damit könnte es eine Einigung und TikTok-Rückkehr nach Pakistan geben, bevor der Fall am 22. November offiziell zur Anhörung kommt.
#Satoshi-Prozess In Miami hat der Zivilprozess um den Besitz eines großen Bitcoin-Vermögens begonnen, in dem es indirekt auch um die Identität des Bitcoin-Erfinders Satoshi Nakamoto geht. Der Australier Craig Wright behauptet, er stecke hinter dem Pseudonym Satoshi und habe die Cryptowährung erfunden. Nachweisen konnte er dies bislang nicht. Einige Experten bezweifeln zudem, ob die Bitcoin-Streitsumme überhaupt existiert.
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Bis zur Ausgabe #22!
Johannes