I/O 17/August/2022
Rest der Restrealität / Deutschtwitter Downward-Spiral / Social-Media-Verschmutzung
Hallo zu einer neuen Ausgabe der Kurzbeobachtungen. Ich freue mich über Feedback (und Wetterumschwünge).
Der Rest der Restrealität
Nach der US-Wahl 2020 hatte ich über die USA geschrieben:
“Der “Kampf um die Vergangenheit” war schon immer ein zentraler politischer Konflikt - und wenn wir uns die Kulturkämpfe der Gegenwart angucken, geht es dort eigentlich fast ausschließlich darum, wie wir Vergangenheit interpretieren. Doch im 21. Jahrhundert gibt es immer weniger Instanzen, die im Zusammenspiel (oder Konflikt miteinander) die Zahl der diskutierbaren Vergangenheiten eingrenzen.
Im vernetzten Zeitalter konkurrieren deshalb unzählige, mit unterschiedlichem Realitätsbezug ausgestattete Vergangenheiten miteinander bzw. um Follower. Entsprechend kann daraus keine gemeinsame Zukunftsidee entstehen. Was wiederum nahe legt, dass unsere Zukunft sehr chaotisch und unübersichtlich wird.”
Die jüngste Kontroverse um Wikipedia ist ein Beispiel dafür, wie einer der letzten Orte (halbwegs) gemeinsamer Realität beschädigt wird.
Konservative und Libertäre, darunter Elon Musk, hatten Wikipedia vorgeworfen, den Eintrag zu “Recession” zugunsten der Biden-Regierung zu ändern (denn die USA hatten gerade zwei Quartale in Folge mit Minuswachstum gemeldet). In Wirklichkeit hatte es offenbar Diskussionen über die Definition einer Rezession gegeben, woraufhin die Seite entsprechend des Protokolls gesperrt und die Frage in die Artikel-Diskussion wanderte. Aber solche Details stören im sozial-medialen Kontext nur. Und welche Bedeutung hat in den USA überhaupt ein Ausdruck wie “in Wirklichkeit” noch?
Ich habe in diesem Fall - anders als bei der Diskussion um Schulbücher - nicht einmal die Vermutung, dass es sich um eine echte Strategie handelt. Jenseits der üblichen Verbreitung des Narrativs “Die Demokraten manipulieren unsere Institutionen” natürlich. Und der Traffic gibt nicht unbedingt her, dass “Alternative Online-Enzyklopädien” wie die Wiki-Fork Conservapedia besonders viel Aufmerksamkeit erhalten.
Aber die spannende Frage ist tatsächlich: Wie weit geht der Aufbau von Parallelstrukturen im Zeitalter der Hyperrealitäten, also unterschiedlichsten Interpretationen von Fakten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft? Rein technisch erweitern sich die Möglichkeiten, sich hermetisch von der Wirklichkeit abzuschotten, ja in den nächsten Jahrzehnten absehbar. Und der Wunsch, zurück zu einer konsensualen Wirklichkeitsfindung zu kommen, scheint global derzeit wenig ausgeprägt.
Deutschtwitter Downward Spiral
Vor fünf Jahren, als mir Twitter noch irgendwie am Herzen lag, schrieb ich in meinem Blog das hier:
“Müsste ich meinen Eindruck von Twitter 2017 ™ beschreiben, ich würde das Bild einer Party wählen: Einer netten Party, denn du kannst ohne soziale Hemmschwellen interessante Menschen und Ideen kennenlernen.
Gut, die Gäste gruppieren sich häufig um die Selbstdarsteller, Prominenten und Besserwisser. Geschenkt, wo ist das anders? Neuankömmlinge sitzen erst einmal in der Ecke rum und reden verschämt mit sich selbst. Na gut. Einige Gäste wollen auch gar nicht reden, sondern verteilen Flyer und brüllen Slogans für ihre Sache. Angeblich sind hier auch Roboter unterwegs, aber wie in Westworld sollen sie äußerlich nicht von regulären Partygästen zu unterscheiden sein. Aber was weiß ich schon?
Manchmal fliegt auch ein Molotow-Cocktail durch den Raum und es gibt Aufregung, und auf dem Weg zur Toilette sieht man durch den Türspalt, wie in einem Nebenraum ein paar Gäste verprügelt und beschimpft werden. Unangenehm, aber wer will sich schon in fremde Angelegenheiten einmischen.
Gut, dass die Abwasserleitung kaputt ist und die Toilette direkt ungefiltert und den See fließt, aus dem unser Dorf sein Trinkwasser bekommt… nicht schön. Aber ich frage mich wirklich, warum ich seit Ewigkeiten die gleichen Gesichter sehe und keine neuen Gäste mehr kommen. Seltsam.”
Nun, inzwischen ist es ein paar Stunden später in besagter Feiernacht, die Gewaltszenen finden vor aller Augen statt, ein Großteil der Gäste kotzt und auch besagte “gleiche Gesichter” verlassen in Deutschland langsam die Party. So zumindest der oberflächliche Eindruck, den ich nach ein paar Abgängen aus den vergangenen Wochen habe.
Natürlich hat das alles auch mit dem Schock nach dem Selbstmord von Lisa-Maria Kellermayr zu tun. Und letztlich halten sich Twitter-Abschiedsankündigungen und Comebacks im Laufe der Zeit ungefähr 50:50 die Waage.
Aber vielleicht ist es wirklich so, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe: Twitter ist gerade am Eingehen, aber dieser Absterbeprozess kann noch fünf, zehn oder mehr Jahre dauern. Und es ist kein Ersatz für die guten Funktionen in Sicht, also die reibungslose Verbindung zu Menschen, die Expertise, Erfahrungen oder schlicht ihren Witz teilen.
Und dennoch muss man sich fragen, was da passiert. Warum sich das bisschen “Twitter, wie es sein könnte” versteckt unter einem Berg von Schmähungen, instrumenteller Asozialität, bewussten Verzerrungen und einer Kultur des strategischen Missverstehens. Oder, wie Roxane Gay einmal vielzitiert schrieb:
“Your skin thins until you have no defenses left. It becomes harder and harder to distinguish good-faith criticism from pettiness or cruelty. It becomes harder to disinvest from pointless arguments that have nothing at all to do with you. An experience that was once charming and fun becomes stressful and largely unpleasant. I don’t think I’m alone in feeling this way. We have all become hammers in search of nails.”
Rein funktional sind wir zurück in den Flamewars des 20. Jahrhunderts. Unter Beteiligung von Journalisten, Politikern, Personen der Zeitgeschichte. Max Read hat es neulich mit Bezug auf das amerikanische Twitter und den Dark-Brandon-Biden-Meme gut zusammengefasst:
“Put another way, some immense portion of elite energy is currently directed toward what scholars of and participants in the pre-platform internet will recognize as trolling forums, winning message-board arguments, complaining to mods, and other, similar activities -- activities that were undignified and debasing to the circa-1995 teenaged pornography addicts, Japanophile I.T. administrators, awkward goths, and underemployed lawyers who once made up the core population of early forum posters.”
Würdelos, das trifft es ganz gut. Und ich glaube nicht einmal, dass bessere Moderation und Strafverfolgung besonders viel daran ändern würden. Twitter die Firma hat Twitter die Plattform einfach jahrelang vernachlässigt (und ist damit nicht alleine, siehe Meta). Und irgendwann ist es gekippt, so wie noch jedes textbasierte Forum gekippt ist. Ein langsamer Exodus würde dementsprechend nur dem normalen Lauf eines Internetcommunity-Lebenszyklus entsprechen.
Social-Media-Verschmutzung
Irgendwo habe ich noch einen Entwurf, wie die ideale Social-Media-Regulierung aussehen könnte. Das ist natürlich nur ein angefangener, wirrer Entwurf, denn das Thema ist wahnsinnig komplex - und die Mechanismen, die wirken, sind ohne Zugang zu den Datenquellen weiterhin undurchsichtig.
Genau weil es so komplex ist, und weil ich keine Leitartikel mit dem blumigen Fazit “Es muss sich etwas ändern.” [Textende] lesen möchte, begrüße ich alle unkonventionellen Ideen dazu. Zum Beispiel diese, die von zwei amerikanischen Forschern von der Cornell Tech stammt. Ihre Idee:
"To address those issues (harassment, misinformation etc), we need a new strategy: treat social media companies as potential polluters of the social fabric, and directly measure and mitigate the effects their choices have on human populations."
Der Digital Services Act verlangt von den Plattformen künftig ja eine Bewertung der eigenen Risiken, geht also in diese Richtung. Obiger Vorschlag aber hat eher etwas von Regulierung, wie wir sie aus dem Umweltbereich kennen: Faktoren festlegen, aus denen Kennzahlen gewonnen werden, die dann regelmäßig mit dem aktuell Gemessenen verglichen werden.
Was natürlich zu Praxisproblemen führt. Nicht nur bei der Frage nach (Social-Media)-Ursache und Wirkung. Sondern auch im Wertekontext: Denn “Verschmutzung des gesellschaftlichen Gefüges” ist einfach kein stabiles Konzept. Nehmen wir an, Facebook würde alle verärgerten Kommentare löschen und sagen: Seht ihr, das gesellschaftliche Gefüge, wie es bei uns abgebildet wird, ist in Ordnung. Was aber überhaupt nichts darüber aussagt, wohin der Ärger gewandert ist. Oder ob der Ärger berechtigt war, zum Beispiel wegen falscher politischer Entscheidungen oder gesellschaftlicher Entwicklungen. Womit wir schlicht Zensur zur Erreichung von Kennzahlen hätten.
So gut es erst einmal klingt: Bislang leuchtet mir das Konzept noch nicht ein. Aber im Oktober wollen die beiden Autoren Details vorstellen, und ich bin auf die Parameter sehr gespannt.
Das tote Handy
Zitat:
“Our relationships with our mobile phones are so deep that a kind of folklore has arisen to make meaning out of the connection. Rituals of care, like cleaning or repair, are followed to stave off the "sick feeling" that wells up when the phone is damaged. These "gestures of tenderness" permeate even the language we use about our devices. A phone is not broken or drained: it is ‘dead’”
Quelle: Lauren Fadiman: Hold the Line (Real Life)
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Vielen Dank fürs Lesen - bis nächste Woche!
Johannes