Kurzbeobachtungen.
Rote Einhörner
Ich hatte Freitag kurz etwas zu Tech vs. Zinserhöhungen und sich eintrübende Aussichten speziell für Startups geschrieben.
Wer tiefer eintauchen möchte: Eric Newcomer hat in seinem Venture-Capital-Newsletter ($) einen “Ich hab’ es doch gesagt”-Beitrag geschrieben, in dem er noch einmal die sich ständig verschlechterten Lage anhand seiner Beiträge seit Ende 2020 nachvollzieht. Er zitiert einen Investor, der die aktuelle Stimmung bei den Tech-Investoren mit einer Nacht in der Bar vergleicht (übersetzt von mir):
“Im Moment sind nicht ganz so viele Leute in der Bar derart betrunken, dass sie eigentlich schon nach Hause müssten. Aber es ist wie in New Orleans: Solange jemand trinkt, bleibt die Bar offen.”
Ein Vergleich, der mir als ehemaligen Einwohner von New Orleans natürlich sehr gefällt.
Aber zurück zum Thema: Zwei amerikanische Ökonomen haben einmal nachgezählt, in welchen Dimensionen sich die Gesamtverluste der 140 börsendotierten US-Einhörner im Jahr 2021 bewegten.
Uber, WeWork, Snap, Lyft, Teledoc, AirBnB, Palantir, Nutanix, Rivian Automotive, Robinhood, Bloom Energy jeweils mehr als drei Milliarden US-Dollar
16 weitere Firmen haben mehr als zwei Milliarden US-Dollar Verlust
39 Unicorns mehr als eine Milliarde US-Dollar Verlust
77 mehr als 500 Millionen US-Dollar
19 von 140 börsendotierten Einhörnern machten 2021 Gewinne, das sind zwei mehr als 2020.
Die beiden Autoren weisen aber darauf hin: Bei den börsendotierten Unicorns hat man wenigstens einen Einblick. Anderswo dagegen…
“Below the surface is even a bigger problem: privately held unicorns. There are now 1,091 private unicorns worldwide, of which about half are in the U.S. Because the most profitable startups tend to go public first, it is likely that the privately held unicorns are in even worse shape than the publicly traded ones.”
Und für die höheren Zinsen haben sie ein interessantes Beispiel: Der Online-Autohändler Carvana hat Kredite und Vorzugsaktien-Ausgaben in Höhe von 3,3 Milliarden US-Dollar vereinbart, mit einem auf fünf Jahre festgesetzten Kreditzins- und Rendite-Satz von 10,25 Prozent. Autokäufer bekommen von Carvana aber Kredite mit dem Kampfpreis-Zinssatz von 3,9 Prozent. Ein Deal, der in seinem Wahnwitz zeigt, wie schwierig die Lage ist.
Als ich mich Mitte der Zehnerjahre intensiver mit Tech-Startups beschäftigt habe, die damals ja deutlich von der Software- in die Fleischwelt drängten, gab es für mich immer zwei Warnsignale: Wenn physische Güter bewegt werden mussten, oder (noch problematischer), man sogar Inventar verwalten musste. Nun lässt sich das nicht auf alle Ewigkeit verallgemeinern, die Logistik verändert sich ja ebenfalls - aber mit steigenden Zinsen und einem rigideren Investitionsklima wird es nochmal um ein Vielfaches aufwändiger, dieses Karussell am Laufen zu halten.
Volker Wissing
Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing hat eine Angewohnheit, bei der Journalisten wie ich natürlich versucht sind, sie als symbolisch zu interpretieren: Wenn er über digitale Fragestellungen oder Digitalprojekte spricht, landet er immer wieder beim Verkehr. Cybersicherheit kritischer Infrastrukturen? Wird natürlich immer wichtiger, man sehe sich die Digitalisierung der Bahnweichen an (die bis 2035 abgeschlossen sein soll, was an dieser Stelle nur Kontextinfo, kein Spott sein soll). Digitalisierung/selbstlernende Software als Werkzeug gegen den Klimawandel? Man denke an die Möglichkeit, öffentliche Fahrpläne über verschiedene Verkehrsmittel hinweg durch Software besser abzustimmen. Offene Daten? Man denke an die besseren Baustellen-Warnungen. Undsoweiter.
Ich ringe seit zwei, drei Monaten damit, wie viel Eingewöhnungszeit man Volker Wissing geben sollte. Ministerjobs sind keine Neigungsjobs, und das BMDV hat meiner Ansicht nach einen kompetenten Staatssekretär für diese Themen. Aber - das DLF-Interview von heute morgen zeigt es recht anschaulich - der FDP-Politiker zeigt sehr, sehr wenig Neigung, bei Digitalthemen einmal in die Durchdringung zu gehen (Breitbandausbau vielleicht ausgeschlossen).
Die von mir sehr geschätzte Sonja Álvarez hat die Kritik am “Digitalpolitiker” Wissing jetzt in einem Wiwo-Artikel pointiert formuliert (€). Was ich teile: Wissings offensichtliches Fremdeln mit den Digitalisierungsthemen, und die alten, neuen Probleme der fehlenden Steuerung in der deutschen Digitalisierungspolitik.
Eher weniger problematisch finde ich Projektverschiebungen wie die verspätete Digitalstrategie und das (davon dann abgeleitete) Digitalbudget. Tatsächlich halte ich die Digitalstrategie und ihre Umsetzung für einen wichtigen Gradmesser, wie intensiv die Ampel-Regierung die Themen vorantreiben möchte. Spätestens im Frühsommer also wird man sehen, ob Wissing noch einmal aus dem Landesbreitbandausbauminister-Format herauswachsen kann. Oder ob er diese Schwäche weiter mit sich herumtragen wird.
Social Selbstgespräche
Social Audio befindet sich bekanntermaßen in einer Rezession - Amazon hat in den USA trotzdem die Pilotversion von “Amazon AMP” gestartet. Dabei geht es nicht nur ums Reden wie bei Clubhouse, als darum, dass Nutzer auf einen Teil des Musikkatalogs von Amazon zurückgreifen, also Radio im herkömmlichen Sinn machen können.
Ich musste sehr schmunzeln, als J. Trew für Engadget in seiner Rezension einen sehr kuriosen UX-Part beschrieb: Man kann nämlich auf seiner Mini-Radiostation nur dann Songs abspielen, wenn mindestens eine Person zuhört. Was in der Beta-Phase ziemlich selten ist (und auch sonst, wir leben ja in der Welt des Long Tail)
Wie also schafft man es trotzdem, auf Sendung zu gehen? Indem man redet, bis jemand kommt. Also Selbstgespräche führt in der Hoffnung, dass jemand den Kanal findet. Zitat:
“It certainly made for some intimate moments. I joined someone’s show when they currently had no listeners. I could practically hear the host excitedly rushing to play a song now that they could. I then enjoyed a 1-on-1 human-curated show of hip-hop. Likewise for my own shows, there were definitely some weird moments when I realized it’s just me playing songs for someone else.”
Trew hat sich letztlich mit einem zweiten Handy selber zugehört, um die AMP-Funktionen testen zu können.
Ich finde die Idee des persönlichen Radios ja theoretisch sehr reizvoll, aber wenn schon bestehende soziale Netzwerke Probleme haben, Social Audio zu einem Erfolg zu machen, wie groß sind die Erfolgsaussichten dabei, erst die Plattform bereitzustellen und dann die Nutzer gewinnen zu wollen?
Links
Schon zwei Wochen alt, aber gut: Adam Tooze über die Gemengelage beim Thema Crypto-Regulierung. (Fun fact: Ethereum läuft wegen seiner Veränderungen beim Proof of Stake in der EU-Taxonomie als CO2-freundliches Investment??)
Ich habe zu den Lehren aus dem neuen Buch zu “Apple unter Tim Cook”™ nicht viel beizutragen, fand diese Rezension von Clay Shirky neulich aber sehr hilfreich.