I/O 10/August/2022
Schatten-Regulierung, frische Crypto-Kritik, Kenia-Wahlen & Social Media
Hallo zu den wöchentlichen Kurzbeobachtungen aus dem Internet-Observatorium, gesendet aus der Sommerhitze, die kein Ende zu nehmen scheint… (schon jetzt Entschuldigung für Rechtschreibfehler).
Schatten-Regulierung
Derzeit läuft in den USA eine Sammelklage gegen Mindgeek, den Eigentümer von Pornhub und zahlreichen anderen Porno-Seiten. Eine Frau verklagt die Firma, weil ihr Ex-Freund ein Sexvideo mit der damals 16-Jährigen hochgeladen und Pornhub es nicht entfernt hatte (beziehungsweise später auch Kopien hochgeladen wurden). Der Klage konnten sich weitere Betroffene anschließen.
Der Fall per se ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist allerdings, dass auch der Kreditkartenkonzern Visa beklagt wird: Der habe Zahlungen für die Pornoseiten abgewickelt, obwohl man von dem Upload jugend- und kinderpornographischer Inhalte gewusst habe (oder gewusst haben könnte). Visa hat inzwischen nicht nur Zahlungsabwicklungen für Pornhub, sondern auch für das Anzeigennetzwerk von Mindgeek insgesamt eingestellt.
In Ausgabe 9 hatte ich diese Grafik von Joan Donovan gezeigt, in der die verschiedenen Ebenen der Moderations-Infrastruktur gezeigt werden:
Der Fall Visa erinnert daran: Es gibt mit der Zahlungsabwicklung noch eine nicht-netztechnische, aber doch zur Infrastruktur gehörende Ebene der Moderation. Die Electronic Frontier Foundation bezeichnet das als “Schatten-Regulierung” - also freiwillige Vereinbarungen, zum Beispiel über automatische Copyright-Blockaden für Content oder Domains. Benedict Evans hält den Begriff auch für Zahlungs-Blockaden für angebracht.
Zahlungs- und Finanzierungsdienstleistern kommt in diesem Fall noch einmal eine besondere Rolle und Verantwortung zu. Und es geht eben nicht immer nur um illegale Aktivitäten, die unterbunden werden: Wir erinnern uns zum Beispiel, dass GoFundMe damals die Spendensammlungen für die kanadischen Trucker-Proteste abschaltete. Oder, eine Ebene tiefer in der Architektur, an PayPals Transaktions-Embargo gegen eine christliche Crowdfunding-Plattform, die Teilnehmer des Angriffs auf das Kapitol am 6. Januar unterstützen wollte.
Es gibt also einen großen Druck auf Zahlungsdienstleister als Teil der Digital-Infrastruktur: Einmal besteht der darin, als Firma “Haltung” zu zeigen und bestimmte Zahlungen aus ethischen Gründen zu unterbinden. Ein weiterer besteht in Klagen wie der oben beschriebenen: Nämlich die Sorge, für die Praktiken von bestimmten Internet-Plattformen in Mithaftung genommen zu werden. Und zugleich ist - siehe die Fälle der offenbar unkommentierten PayPal-Sperre zweier umstrittener US-Nachrichtenseiten - oft nicht transparent nachzuvollziehen, welche Rolle informeller Einfluss bei Schatten-Regulierungsaktivitäten spielt.
Frische Crypto-Kritik
Debatten über Crypto auf Twitter oder Substack, Teil 1035 - aber dieses Mal durchaus interessant: Jay Pinho nimmt in seinem Newsletter einen Beitrag von Nat Eliason auseinander. In seiner Kompaktheit und Ausgewogenheit finde ich den Beitrag sehr lesenswert. Pinhos Argumente im einzelnen:
Nein, Crypto ist nicht in der “frühen Phase”.
Sein Vergleich: Satoshis Bitcoin-Whitepaper ist so alt wie Apples App-Store. Das App-Ökosystem ist vielseitig und vielschichtig, die Mainstream-Crypto-Anwendungen sind auf Wetten auf dezentrale Finanzprodukte beschränkt.
Nein, Crypto verhindert keine Regierungszensur und Enteignung
Klassische Online-Anwendungen haben Flaschenhälse, Crypto/web3 aber auch. Er orientiert sich an den Analysen von Moxie Marlinspike, fügt aber noch einen Aspekt hinzu:
“A fundamental and inherently unsolvable weakness of the entire crypto ecosystem (…) is that on- and off-ramps to fiat currencies are colossal choke points that governments routinely and effectively exploit to set boundaries on what is and isn’t allowed within the crypto space.”
qed: Kurz nach dem Beitrag setzte die US-Regierung den Crypto-Mixer Tornado Cash auf die Sanktionsliste, dessen Verschleierungen von Transaktionen (= mixing) von diversen Scamern und Cyberkriminellen bis hin zu Nordkorea zur Geldwäsche benutzt worden sein sollen. Eigentumsrechte haben eben nicht nur etwas mit Code, sondern auch mit Macht zu tun, folgert Pinho.
Nein, SSO mit Crypto-Wallets ist nicht besser als herkömmliche Logins.
Klassische Logins mittels Facebook, Google, Apple etc. vs. Single-Sign-on ins Crypto-Wallet = klarer Sieger Crypto? Eliason sagt ja, Pinho widerspricht und zählt die verschiedenen Möglichkeiten auf, von seinem Wallet ausgesperrt zu werden oder sogar Geld zu verlieren, wenn das Sign-on gephisht oder sonstwie gestohlen wird.
Nein, Crypto ermöglicht keine direkten Geldflüsse.
Die klassische Gehaltsabrechnung am Monatsende hat ausgedient, weil Crypto als minutengenaue Live-Abrechnung ermöglicht: Dieses Argument versucht Pinho zu widerlegen, indem er darauf verweist, dass die Blockchain hier gar keine Form von Arbeitsnachweis-Tool ist - und dass es für direkte Live-Geldflüsse auf Seiten der Bezahlenden überhaupt keine Nachfrage gibt.
Nein, Crypto macht es nicht einfacher, seinen Ruf mitzunehmen.
Das Argument: Dezentralisierte Identitäten, bei denen man einem Wallet folgt, ermöglichen es, seine Followerschaft über verschiedene Dienste hinweg mitzunehmen. Das Gegenargument: Das ist so nicht richtig - Crypto ist deshalb voller Scammer, weil es so einfach ist, sich ständig neue Identitäten anzulegen.
Ich selbst warte weiterhin ab, was von Crypto/web3 übrig bleiben wird und kann da tatsächlich im Detail nichts prognostizieren. Was mir aber klar scheint: Der Vergleich zum WWW vor und nach dem Dotcom-Crash hinkt: Denn dieses Mal sind diejenigen, die Geld dafür ausgeben, identisch mit den Early Adoptern/ der Early Majority. Das war beim WWW (Nutzer vs. Aktionäre der Firmen) anders. Und wenn man bei der Erschließung der Early Majority für derart viel Scam und miese Geld-weg-Erfahrungen sorgt, ist das ein massives Hindernis für den Mainstream-Durchbruch.
Kenias Wahlen und Social Media (kommentierte Linkliste)
Gestern fanden in Kenia Wahlen statt - doch der Blick richtet sich auf die nächsten Tage, wenn die Ergebnisse einlaufen und es zu Spannungen kommen könnte (2007 starben bei Nachwahl-Auseinandersetzungen mehr als 1000 Menschen). Weil Social Media im Wahlkampf eine größere Rolle gespielt hat, hier eine kleine Linkliste:
Kenya election: The influencers paid to push hashtags
Die BBC über die Strategie von Parteien und Kandidaten, mittels Micro-Influencern (10.000 bis 500.000 Follower) bestimmte politische Hashtags in die Trends zu bringen. Zum Teil handelt es sich um Falschnachrichten, Nachrede gegen andere Kandidaten oder Misstrauensbekundungen gegenüber der Wahlbehörde. Zitat eines anonymen kenianischen Influencers:
“We can spread false information about a certain politician, and other days praise their opponents. Depends on who is paying for the task.”
From Dance App to Political Mercenary (pdf)
Die Mozilla Foundation mit einer Analyse von Desinformation und Gewaltaufrufen auf dem kenianischen TikTok (Frühsommer 2022). Zitat:
“In this report, we examine a sample of problematic political content on the platform: over 130 videos from 33 accounts which have been viewed collectively over 4 million times. Our analysis reveals that hate speech, incitement against communities, and synthetic and manipulated content — despite being in violation of TikTok’s very own policies — is both present and spreading on the platform.”
Facebook unable to detect hate speech weeks away from tight Kenyan election
Die Nichtregierungsorganisationen Global Witness and Foxglove haben testweise Facebook-Anzeigen mit Hassbotschaften und Gewaltaufrufen rund um den Wahlkampf geschaltet. Von zehn Anzeigen löschte die Firma eine, trotz der Beteuerung, sich auf die Wahlen vorbereitet zu haben.
Kenya’s Threat to Ban Facebook Could Backfire
Nach obigen Enthüllungen drohte die Wahlbehörde damit, Facebook rund um die Wahl abzuschalten (eine beliebte Taktik auf dem afrikanischen Kontinent). Der kenianische Internet-Minister stellte aber klar, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gibt.
Drei Widersprüche
Zitat aus Micah Goodman: “Our Technology Sickness—and How to Heal It”:
“Because of the digital revolution, our lives are being transformed by three grand bargains. The intellectual bargain: we have more knowledge but less capacity to concentrate and focus. The social bargain: we are much more available but much less attentive. And most importantly, the emotional bargain: we are much more connected, but much less empathetic.
When we trade away skills for power, attention for availability, empathy for connectivity, and quality for quantity of relationships, we sign up to a Faustian pact that we do not even know exists—one that gives us more control over the outside world, but less control over our inner world.”
Links
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Johannes