Liebe Internet-Beobachtende,
die besten Wünsche für das Jahr 2022 - und in dieser Ausgabe ein kleines Glossar für ein paar Begriffe, die ich in diesem Jahr für relevant halte.
Thema der Woche: Ein paar hilfreiche Begriffe für 2022
Ein ziemlich kleines Glossar aus verschiedenen Themenbereichen.
Internetkultur und Social Media
Very Online
Bezeichnung für meist junge Menschen, die besonders viel Zeit am Smartphone verbringen und deren kultureller Referenzrahmen sich fast ausschließlich aus der Social-Media-Kultur und insbesondere Memes speist.
Als Szene-Umschreibung bereits seit etwa 2020 genutzt, hat es inzwischen teilweise Eingang in den Mainstream gefunden (zum Beispiel als Eigenschaft, die in Bewerbungsaufrufen genannt wird). Noch nicht durchgesetzt hat sich die Steigerung “extremely online” - sie bezeichnet zum Beispiel die ständige Nutzung von Onlineslang- und Meme-Referenzen als Alltagsvokabel.
Für 2022 und danach stellt sich die Frage, wann wir “Very Online” als vollständiger Teil der Mainstream-Referenzrahmen betrachtet werden kann - und ob/wann diese Kultur in einer komplett vernetzten Welt irgendwann selbst der Mainstream ist.
Clearnet
Das Clearnet, manchmal auch Surface Web genannt, bezeichnet die gängigen Internet-Dienste - also zum Beispiel Facebook, Google etc. Eigentlich als Gegenbegriff zum Darknet und Deep Web im Kontext Strafverfolgung konzipiert, wird der Begriff heute im Kontext politischer Social-Media-Strömungen für “kontrollierte, zensierbare Plattformen” verwendet - also zum Beispiel YouTube oder Twitter.
Die Diskussion über Phänomene wie Shadowbanning gehen deshalb immer auch mit der Frage einher, wie sich für politische Ideen Reichweite aufbauen lässt oder wie sich politische “Creator” von ihren Plattform-Konten unabhängig machen, aber trotzdem Geld verdienen können. Als Alternative wird derzeit einerseits die Idee des dezentralen Web3 gepriesen, während Yancey Strickler 2019 in seiner “Dark Forest Theory of the Internet” den Rückzug in privatere Formate diagnostiziert hat.
Permaweird
Venkatesh Rao beschreibt mit dem “Permaweird”, also permanenter Seltsamkeit, die Folge globaler Kulturkämpfe unter großer Beteiligung von Akteuren, die nur auf Streit aus sind (“Internet of Beefs”). Permaweird bezeichnet in meiner Interpretation die Phase nach dem Punkt, an dem es keine Rückkehr zur Normalität gibt; die Phase, in der Online-Konflikte ständig in den Meatspace diffundieren und die resultierenden Meatspace-Konflikte ihrerseits wiederum nur als Material dienen, die Online-Konflikte zu befeuern. Permaweird ist also unsere Gegenwart.
DID Fakers
Menschen, die unter der Persönlichkeitsstörung MID (Multiple Personality Disorder) bzw. DID (Dissasociative Identity Disorder) leiden, haben sich im Netz schon immer in Communitys zusammengefunden. Youtube und nun vor allem TikTok haben die Krankheit offenbar zu einer Art Statussymbol mit Influencer-Potenzial gemacht: TikTok ist voller junger Menschen, die nach eigener Aussage aufgrund von Kindheitstraumata teils Dutzende von Persönlichkeiten in ihrem Körper beherbergen.
An der “Echtheit” der DID-Diagnose der einzelnen TikToker gibt es allerdings erhebliche Zweifel - häufig gibt es den Vorwurf, als “DID Faker” (oder Krankheits-Cosplayer) nur Aufmerksamkeit, Views oder sogar Geld zu erstreben. Außerdem ist unklar, ob die Verbreitung des Phänomens nicht zu vermehrten falschen Selbstdiagnosen geführt hat.
Crypto
DeFi
“Decentralized Finance”, kurz DeFi. Der Begriff “DeFin” bezeichnet ein auf Crypto-Technologien aufgebautes Finanzsystem. Der Begriff bekommt aus meiner Sicht deshalb neue Relevanz, weil 2022 die Konflikte zwischen dem gegenwärtigen Finanz- und Währungssystem auf der einen Seite und der cryptogetriebenen Dezentralisierung ohne klassische Intermediäre deutlich werden. Kurz: Länder und internationale Organisationen werden sich eine Haltung dazu überlegen müssen und sie wird vielerorts absehbar ablehnend ausfallen bzw. mittelfristig in “staatlichen Digitalwährungen” als Gegenmodell münden. Welches Finanzsystem sich am Ende aus DeFi und staatlichem Regulierungswunsch ergibt, kann ich ehrlicherweise nicht vorhersagen.
DAO
Eine dezentralisierte autonome Organisation (DAO) ist eine auf Blockchain-Datenbanken aufbauende Eigentümer- bzw. Teilhabe-Struktur, die keine klassische Führungshierarchie benötigen soll. So zumindest das Versprechen. Oder, die Definition von Protocol:
“DAOs enable people to form organizations with no central leaders in control, run on top of a cryptocurrency, for some collective purpose. They're often described as a way for people to avoid the hierarchical centralized systems in corporations or other large organizations.“
Eine flapsigere Definition ist “DAOs sind ein (Discord-)Gruppenchat mit angeschlossenem Bankkonto”.
Der Begriff ist trotz dieser Unschärfe relevant, weil sich mit ihm auch das Versprechen einer selbstorganisierenden bzw. dezentralisierten Firma verbindet. Zumindest in der Crypto-Szene. Man denke an moderne Klimatechnologie-Firmen, aber nicht als Aktiengesellschaft, sondern als Digital-Kooperativen. Oder man denke an ein neues Facebook, das vom Kartellrecht nicht zu zerschlagen ist.
Soweit die radikaleren Visionen. Im Moment sind wir im Versuchsstadium. Mit Wyoming führte vergangenes Jahr ein erster US-Bundesstaat die Möglichkeit ein, auf Ethereum-DAOs basierende Organisationskonstrukte als Firma (LLC) zu registrieren. Allerdings ist unklar, ob das Schlichtungsverfahren bei firmeninternen Disputen über Gerichte in Wyoming funktioniert, wenn ein Miteigentümer woanders seinen Sitz hat. Grundsätzlich sind DAOs fast nirgendwo vom geltenden Recht erfasst, fallen aber dennoch unter die Finanzregulierung, sobald mittels der Tokens bestimmte Geschäfte abgeschlossen werden sollen (z.B. die Registrierung eines Landkaufs). Kurz: Es ist sehr kompliziert, sehr früh und etwas sehr viel Hype im Thema.
OpenSea
OpenSea ist die größte Plattform für den Handel mit NFTs (über die ich in #14 geschrieben hatte). Im dritten Quartal lag das Handelsvolumen dort bei beachtlichen 10,7 Milliarden US-Dollar - sicherlich auch, weil NFTs derzeit einen FOMO-Dynamo antreiben. OpenSea nimmt 2,5 Prozent an jeder Transaktion als Kommission.
OpenSea zeigt, ähnlich wie der Infrastruktur-Anbieter Infura oder die Kryptowährungs-Plattform Coinbase, dass auch das dezentrale “Web3” im Kern alles andere als dezentral ist. Und dass sich unter den Vorzeichen der “Power Law” bereits erste Gewinner und Großanbieter entwickeln (siehe auch Lesetipp).
Digitalpolitik
Weil 2021 einiges auf europäischer Ebene passieren wird, hier ein Schwerpunkt rund um die wichtigsten Rahmenwerk-Vorhaben.
Digital Services Act
Der Digital Services Act (DSA), der 2022 auf EU-Ebene verabschiedet werden soll, stellt klare Regeln für große Tech-Plattformen dafür auf, wie sie mit illegalen Inhalten umgehen sollen. Dabei geht es nicht darum, zu definieren, was illegal ist (das ist den Nationalstaaten vorbehalten) - sondern um einheitliche Melde- und Löschprocedere, Ansprechpartner-Pflichten oder auch Einspruch-Rechte für betroffene Nutzer. Für Deutschland bedeutet die Umsetzung eine anstehende Anpassung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes.
Digital Markets Act
Der Digital Markets Act (DMA) ist ein EU-Rahmen für ein modernisiertes, “ex ante” wirkendes Wettbewerbsrecht, das die bisher jahrelangen Wettbewerbsverfahren der Kommission gegen Gatekeeper-Firmen wie Google oder Amazon überflüssig machen soll. Konkret geht es um Rechte für Marktteilnehmer (z.B. Datenzugang), Pflichten zur Interoperabilität oder Auflagen für die Erschließung neuer Marktsegmente. Ungeklärt ist im Moment noch, ob auch die Zerschlagung von Tech-Konzernen als Ultima Ratio möglich sein soll. Für Deutschland wird sich zeigen, wie genau das Bundeskartellamt in solche Verfahren einbezogen wird. Das neue Kartellrecht gibt den deutschen Wettbewerbshütern ganz ähnliche Instrumente an die Hand und gilt international als innovativ.
Data Act
Der Data Act soll den Datenzugang standardisieren, konkret den Datenaustausch zwischen Unternehmen (B2B) sowie zwischen Unternehmen und der öffentlichen Hand (B2G). Dabei geht es um Fragen wie Portabilität (besonders bei Cloud-Diensten) oder auch einen Rahmen für die Rechte an Maschinendaten. Dem Teilen von Daten einen Rechtsrahmen zu geben, gilt als Grundlage für die Zusammenarbeit von Unternehmen bei Massendaten-Anwendungen wie Künstlicher Intelligenz. Außerdem soll es auch neue Geschäftsmodelle - zum Beispiel aufbauend auf nicht-persönlichen Daten der öffentlichen Hand - ermöglichen.
Linktipps
Moxie Marlinspike setzt mit diesem Stück Maßstäbe, wie wir das Dezentralisierungsversprechen von Web3 und Crypto-Plattformen diskutieren sollten.
Albert Wenger dagegen mit einer Verteidigung der Vision vom (angeblich) dezentralen Internet (a.k.a. Web3).
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Über Revenge-Porn-Sharingportale - und die Folgen für die Betroffenen.
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Eine Autorin lässt sich von GPT-3 dabei helfen, über den Tod ihrer Schwester zu schreiben. Das ist das Resultat.
Eine Auseinandersetzung mit den Ideen des Tech-Philosophen Benjamin Bratton (“The Stack”) und seiner Idee vom Regieren durch/mit Daten.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes