I/O 08/September/2022
Digitalstrategie und Digitalisierungsumsetzung / Was tun? / Propaganda & Desinformation
Hallo - und erst einmal Entschuldigung für den Ausfall vergangene Woche und die leichte Verspätung in dieser Woche (falls es jemand gemerkt haben sollte). Es ist im Moment eine Menge zu tun, außerdem beginnt der parlamentarische Betrieb hier in Berlin wieder. Es kann also zeitlich etwas luftiger werden zwischen den neuen Ausgaben.
Ein Produkt dieser Mühen ist mein 18-minütiger Deutschlandfunk-Hintergrund zur Schnittstelle von Geo- und Digital-/Technologiepolitik im Deutschlandfunk (siehe auch #27). Mehr dazu aber nächste Woche nochmal.
Digitalstrategie und Digitalumsetzung
Zur Digitalstrategie der Bundesregierung war ich vergangene Woche auch unterwegs, hier im Kommentar, hier im Gespräch mit dem geschätzten Falk, der da noch deutlich tiefer eingetaucht ist. Eigentlich ist alles gesagt - das mediale Echo war so durch die Bank negativ, dass es fast schon wieder wie das übliche reflexhafte Digitalpolitik-Bashing klang, das mich so langweilt. Allerdings ist die Kritik leider gerechtfertigt, auch wenn nicht alles schlecht ist.
Ich will noch einmal auf das Thema Umsetzung kommen, speziell bei der Digitalisierung des Staatswesens und öffentlicher Systeme/Dienstleistungen selbst: Denn Strategiepapiere alleine, selbst wenn sie ihre Urheber in einigen Aspekten die Umsetzung messbar machen, macht noch keine praxistauglichen Politikfeld- und Projektmanagement.
Ende August wurde dazu passend eine Umfrage unter Führungskräften der öffentlichen Verwaltung veröffentlicht (Boston Consulting Group und Hertie School). Und dort ist ebenfalls deutlich zu erkennen: Strategien erarbeiten, das klappt gut. Bei der Umsetzung sieht es dann deutlich dünner aus:
Ressourcen und Strukturen, damit sind in der letzten Frage die beiden Kernprobleme benannt, wobei die Strukturen in meinen Augen den großen Ressourcenaufwand bedingen.
Ich habe im Kontext Verwaltungsdigitalisierung hier wie auch im Podcast letzte Woche immer wieder gesagt: Man wird sich in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich weiterhin an der bestehenden Komplexität abarbeiten (Hi, Onlinezugangsgesetz 2.0!), ohne wie gewünscht mit einem leistungsfähigen Frontend (Online-Bürgerdienste) wie Backend (volldigitalisierte Verwaltungsvorgänge) in die Fläche zu kommen. Und dann muss man sich wahrscheinlich 2025, unabhängig von den Farben der nächsten Koalition, dann doch mal eine Staats- und Föderalismusreform in den Koalitionsvertrag schreiben.
Denn je weiter die Zeit fortschreitet, desto weniger bringen uns Platzhalter-Veranstaltungen wie dem Föderalismusdialog, kleineren Maßnahmen wie mehr Mehrheitsentscheidungen im IT-Planungsrat (theoretisch wünschenswert) oder mutigere Korrekturen am IT-Staatsvertrag voran. Allerdings wären solche Reformen - siehe Föderalismusreform II, die ja die Grundlage der Bund-Länder-Digitalisierungszusammenarbeit bildet - weder dankbar, noch sind das in der Regel große Würfe.
Aber ich hoffe wirklich, dass mein beschriebenes Szenario zu pessimistisch ist und man noch die richtige Abbiegung nimmt.
Was tun?
Der Titel stammt in diesem Fall nicht von Wladimir Iljitsch Lenin, sondern von L.M. Sacasas - eine meiner inspirierendsten Quellen, wenn es um kluge Technologiekritik geht.
In seinem fragmentarischen Essay reißt er das große Thema an, wie es mit unserer Verantwortung steht, Veränderung durch eigene Handlungen einzuleiten. Wir haben diese Diskussion ja derzeit oft im Klima- und aktuelle Energie-Kontext, aber hier geht es um Digitaltechnologien.
Denn es stimmt ja: Die Idee, durch eigenes Handeln kollektiv Veränderungen zu erwirken, erscheint uns naiv - die Folk-Politik der Digitalisierung. Veränderungsmöglichkeiten, zum Beispiel im Bezug auf Metas Marktmacht oder das Spielautomaten-Design vieler Software, sehen wir nur im Zusammenhang mit besserer Regulierung oder besserer Alternativ-Produkte, die dann allerdings oft (siehe TikTok) nach ähnlichen Prinzipien funktionieren.
Das Argument, dass wir als Einzelne/r nichts verändern können, hält Sacasas für theoretisch valide. Und doch erinnert er uns an die Praxis: Wir müssen jeden Morgen aufstehen und Entscheidungen treffen. Zitat:
“I find it helpful to think about my choices with regards to technology as falling into three general possibilities: embrace, negotiation, refusal. More often than not we ought to be negotiating. There are occasions to either embrace or refuse technologies, depending, of course, on our situation and our aspirations, but in neither case should we do so thoughtlessly”
Er landet schließlich mit Iris Murdoch bei der Frage unserer Aufmerksamkeit: Was wir wahrnehmen, ist eben auch in unserer Verantwortung. Murdoch:
“The freedom which is a proper human goal is the freedom from fantasy, that is the realism of compassion. What I have called fantasy, the proliferation of blinding self-centered aims and images, is itself a powerful system of energy, and most of what is often called ‘will’ or ‘willing’ belongs to this system. What counteracts the system is attention to reality inspired by, consisting of, love.”
Und das ist ein sehr spiritueller Gedanke. Der Diskussionen über unseren Umgang mit Digitaltechnologien und den negativen Elementen, die ein Teil von ihr sind, durchaus bereichern kann.
“The Novelist”
Zur vorhergehenden Notiz passt ganz gut, dass ich gerade einen Roman gelesen habe, der sich mit diesem Thema beschäftigt. “The Novelist” von Jordan Castro.
Ich muss vorausschicken, dass ich “Digitalisierungsromane” meide. Ich habe zum Beispiel Patricia Lockwoods “No One Is Talking About This” nicht gelesen, weil es mir ungesund schien, einen Twitterweltgedanken-Roman zu konsumieren. Dabei liebe ich Lockwoods Essays!
Wie dem auch sei: Eine Rezension von “The Novelist” hat mich angesprochen, vielleicht wegen des einfachen Settings des Romans. Ein Mann sitzt morgens am Schreibtisch und versucht, einen Roman über sein früheres Leben als Junkie zu schreiben. Dabei wird er ständig abgelenkt oder lenkt sich selber ab. Instagram, Twitter, blöde Nachrichten mit Bekannten, Gedanken zur Weltsortierung. Die Handlung spielt sich an einem einzigen Vormittag ab.
Auch wenn ich den Roman am Ende nicht für so gut halte, dass man Zeit in ihn investieren müsste: Was wirklich gelungen ist, ist nicht nur das Einfühlen in die Prokrastination mittels digitaler Werkzeuge. Sondern wie unsere menschliche Natur dazu neigt, abzuschweifen, der gedanklichen Auseinandersetzung und der Bündelung unserer Aufmerksamkeit auszuweichen. Und wir letztlich immer abstrakt den Moment der Gegenwart suchen, indem wir ihm konkret ausweichen.
Ausweitung der Propaganda-Debatte
Derzeit ist viel vom russischen Informationskrieg die Rede. Allerdings sollte auch diese Meldung von Ende August nicht unerwähnt bleiben: Meta und Twitter haben ein Netzwerk von Fake-Konten gesperrt, die den Zweck hatten, pro-westliche Propaganda im Nahen Osten und den ehemaligen sowjetischen Republiken Zentralasiens zu verbreiten. Offenbar war das Netzwerk immer mal wieder aktiv und etwa fünf Jahre online.
Aus dem Bericht (pdf):
“These campaigns consistently advanced narratives promoting the interests of the United States and its allies while opposing countries including Russia, China, and Iran. (…) The assets identified by Twitter and Meta created fake personas with GAN-generated faces, posed as independent media outlets, leveraged memes and short-form videos, attempted to start hashtag campaigns, and launched online petitions: all tactics observed in past operations by other actors.”
Beispiel für diese “Fake Personas”:
Unabhängig von möglichen quantitativen (und qualitativen?) Unterschieden zu anderen Akteuren wie Russland: Es ist wichtig, dass wir in die nächsten Jahre nicht naiv oder mit der Schablone “die Guten lassen es vs. die Bösen machen es” an das Thema Psyops herangehen. Sondern es als global verbreitetes Mittel der klandestinen internationalen Meinungsbeeinflussung betrachten.
Desinformation: Zwei Aspekte
(1) Diese Untersuchung des Umgangs mit den Aussagen der amerikanischen QAnon-Abgeordneten Marjorie Taylor Greene ist ernüchternd: Wenn andere Politiker und Politikerinnen sie und ihre Verschwörungsaussagen kritisierten, stieg dadurch zwar die Skepsis gegenüber QAnon-Theorien. Aber die Kritik änderte nicht an Greenes Popularität. Ich bin gespannt, ob sich bei weiteren Untersuchungen dieser Art ein ähnliches Muster ergibt.
(2) Ein interessantes Konzept von Daniel Williams: Wir gehen in die Irre, wenn wir einen Tsunami von Desinformationen/Falschinformationen konzentrieren, um zu erklären, warum Menschen Falschbehauptungen glauben. Vielmehr müssen wir unser Informationsökosystem bzw. den Digitalmarktplatz der Ideen als Markt für Angebote sehen, die uns unsere Rationalität bestätigen. Zitat:
“Most obviously, human beings are profoundly groupish. We are desperate to view the world in ways that reflect favourably on our communities and that protect our reputation and status within them.
When this happens, the result is almost always an emergent marketplace of rationalisations. Ambitious individuals and firms compete to produce intellectual ammunition for society’s political and cultural factions. In return for their often-intense cognitive labour, the winners of such competition receive attention, status, and financial rewards.”
Sein Fazit:
“If we understand bad media content and information through a narrative in which people are the gullible victims of disinformation campaigns or social media platforms, we ignore more important questions, such as: Why are people so attached to specific ideas and narratives? And how might different social, political, and economic conditions influence such attachments?”
Vielen Dank - und bis nächste Woche (hoffentlich!)
Johannes