Liebe Internet-Beobachtende,
statt der Kurzbeobachtungen gibt es diese Woche mal wieder einen längeren Text. Damit gehen der Newsletter und ich in eine zweiwöchige Pause und sind in der zweiten Juliwoche (KW 28) wieder zurück.
Thema der Woche: Tech-Politik als Geopolitik
Im Herbst kommt es bei der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) zu einem symbolisch aufgeladenen Duell. Denn für den Posten des Generalsekretärs kandidieren eine US-Amerikanerin und ein Russe. Die ITU-Referatsdirektorin Doreen Bogdan-Martin und Rashid Ismailow, ein ehemaliger Manager (Huawei und Nokia) und Ex-Vize-Kommunikationsminister Russlands.
Dabei geht es nicht nur um Personen, sondern auch um unterschiedliche Vorstellungen, wer im Internet auf der technischen Ebene die Regeln setzt. Russland setzt sich hier im Einvernehmen mit China für eine stärkere nationale Kontrolle der regionalen Internetressourcen-Verwaltung ein. Das würde wiederum eine Schwächung des bisherigen Systems bedeuten, bei dem die Internet-Adressverwaltung ICANN im Mittelpunkt steht. Die USA wollen den dezentralen Status Quo bewahren, müssen sich aber vorwerfen lassen, dass ICANN seit langem zu US-zentriert aufgestellt ist und sich auch zu deutlich ökonomischen Interessen zugewandt hat (siehe die neuen Top-Level-Domains wie .amazon oder der letztlich fehlgeschlagene Verkauf von .org an Privatinvestoren 2020).
Zoomt man von diesem Konflikt etwas heraus, lässt sich die Brisanz deutlich erkennen: Es geht um die Form des künftigen Internets - oder der künftigen Internetze. Milton Mueller skizzierte jüngst in der Technology Review zwei Formen, die zu einem echten Splinternet führen würden - also zu einer Spaltung des Internets in Röhren, die nicht mehr richtig miteinander kommunizieren.
Ein neues technisch inkompatibles Protokoll, das von einer kritischen Masse der Weltbevölkerung genutzt wird. Das könnte allerdings mit dem bisherigen Internet verbunden werden.
Die Nutzung technischer kompatibler Protokolle, aber unter verschiedenen Verwaltungen. Das sei schwieriger zu korrigieren.
China hat mit dem Konzept “New IP” 2019 bereits einen Vorschlag für ein solches neues Protokoll vorgelegt - bei den aktuellen Standardisierungsgremien stieß es allerdings auf Ablehnung.
Hatten die USA unter Trump die Internet-Standardisierungsgremien noch stark vernachlässigt, versucht die Biden-Regierung, diese Fragen zum Teil ihrer diplomatischen Agenda zu machen. Ende April kündigte man eine neue globale Partnerschaft mit dem Namen “Declaration for the Future of the Internet” an, der sich 60 weitere Staaten anschlossen (vorwiegend europäisch, aber auch Länder wie Australien, Kenia, Peru oder Japan).
Washington präsentierte diese Liste nicht nur als Bekenntnis zum Multistakeholder-Ansatz, sondern auch relativ unverblümt als Pakt gegen die Internet-Idee der neoautoritären Staaten China und Russland. Die G7 griff später diesen Ansatz auf und betonte, sich in den Standardisierungsgremien für den freien Fluss von Daten einzusetzen.
Transatlantische Zusammenarbeit, transatlantische Interessenkonflikte
Auf transatlantischer Ebene hat der Ukraine-Krieg die Zusammenarbeit in digitalen Regulierungsfragen auch sonst beschleunigt: So soll noch bis Ende dieses Jahres ein Nachfolger des gekippten Datentausch-Abkommens “Privacy Shield” fertig werden. Und im Gremium “Trade and Technology Council” (TTC) soll die Digitalpolitik zwischen EU und den USA regelmäßig abgestimmt werden.
Dass hier durchaus unterschiedliche Interessen aufeinander treffen, zeigt sich an der Einigung zur kritischen Halbleiter-Produktion: Hier wurden bei Subventionen zum Beispiel Transparenz, nicht aber Höchstgrenzen oder Koordinierungsschritte vereinbart. Am Ende folgt eben jeder Block, ja jedes Land weiterhin seinen eigenen Interessen.
Dass Technologie- und Digitalpolitik auch Geopolitik ist, ist keine neue Erkenntnis, selbst Olaf Scholz verwendete jüngst den Begriff “Splinternet”. Ganz konkret zeigte sich die geopolitische Relevanz auch in dem erfolglosen ukrainische Vorstoß, die ICANN dazu zu bringen, Russland vom internationalen Domain-System auszuschließen. Der Cyberspace, einst ein Ort libertärer Utopien, entwickelt sich unaufhaltsam zum Ort von geopolitischen Konflikten und des wirtschaftlichen wie auch systemischen Wettbewerbs.
Dabei nur an Infrastruktur oder Cybersicherheit zu denken, greift aber zu kurz. Nicht der digitale Raum, sondern die dort angewandten Spitzentechnologie wie Machine Learning/Data Mining, Gesichtserkennung oder 5G stoßen heute Entwicklungen an, die Folgen für die geopolitischen Machtkonstellationen von morgen haben. Entsprechend lassen sich Entscheidungen wie der Ausschluss des chinesischen Herstellers Huawei aus den 5G-Netzen mehreren Feldern zuordnen: Der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie der Industriepolitik, der Digitalblockbildung wie der nationalen (kritischen) Infrastrukturstrategie.
Auch der Charakter von Nationalstaaten verändert sich: Zum Beispiel durch die digitalen Grenzziehungen Russlands, Chinas und des Iran; durch die staatliche Nutzung neuer Technologien wie der Gesichtserkennung, die China mit dem Ziel der Verhaltenskontrolle und Unterdrückung angewendet; oder auch schlicht durch die gesellschaftlichen Prozesse, die die digitale Vernetzung von Menschen und Ideen in demokratischen wie weniger demokratischen Ländern anstößt. Viele politische Entscheidungen zur Digitalisierung sind nicht nur Versuche, diese Prozesse zu ordnen, sondern auch Kontrolle über sie zu gewinnen.
Kontrolle in Zeiten des Kontrollverlusts
Für die Demokratien westlicher Prägung ergibt sich daraus nicht nur ein Konflikt mit den autoritären Staaten und ihren Digitalisierungsvorstellungen. Sondern auch mit der Megakonzern-Struktur, die unter dem Begriff “Big Tech” bekannt ist. Das ergibt sich einerseits aus der transnationalen Verbreitung der Big-Tech-Digitalplattformen, die sich häufig nationaler Rechtsprechung entziehen bzw. erst schrittweise von ihr erfasst wurden.
Auch hier hat die Auseinandersetzung jedoch eine geopolitische Note: Denn Digitalplattformen sind eben nicht international, sondern “amerikanisch” oder “westlich” oder “chinesisch”. Und werden anderswo entsprechend als erweiterter Einflussbereich der entsprechenden Länder wahrgenommen. Was, wenn wir zum Beispiel die Verpflichtungen chinesischer und amerikanischer Firmen zur Zusammenarbeit mit den jeweiligen Sicherheitsbehörden betrachten, weit über den soziokulturellen Aspekt von TikTok-Algorithmen, Facebook-Effekten oder Google-AIs hinausgeht.
Die “Kontrolle“ die hier einzelne Staaten oder Staatenbünde auszuüben versuchen (der europäische Digital Services Act, die türkischen Content-Gesetze, die indischen Digitalrichtlinien, Australiens Leistungsschutzrecht, etc.), dient deshalb nicht immer nur der Stärkung der nationalen Rechtshoheit oder der Umverteilung oligopolisierter Gewinne: Sie kann oft genug - und nicht selten in direkter Abhängigkeit zu objektiven Rechtsstaatlichkeitsmängeln - als Versuch gesehen werden, “Big Tech” in den Dienst nationaler (Regierungs-)Interessen zu stellen. Die amerikanischen Digitalfirmen haben bislang noch keine klaren Grenzen gezogen, wo ihnen diese Instrumentalisierung zu weit geht.
Viele bislang diskutierte Konzepte greifen zu kurz, wenn es um Strategien für dieses komplexe Umfeld geht.
Der zwischenzeitliche Hype um den Begriff der “digitalen Souveränität” kann weder dessen Unschärfe (unabhängig von wem?), noch die praktische Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit bei Hochtechnologie-Lieferketten, Cybersicherheit und Standardisierung kaschieren.
Die nun offenbar im Entstehungsprozess befindlichen transnationalen Digital-Bündnisse tragen innere Widersprüche in sich, die sich vor allem aus der Software-isierung der Wirtschaft ergeben - also der Frage, ob ein Wirtschaftsstandort Plattformen hervorbringt oder seine Branchen an der API ausländischer Plattformen hängen müssen.
Jenseits der Software
Und auch Digitaltechnologien, Hardware und Software selbst sind nur ein Teil jener “Frontier Technologies”, die das wirtschaftliche und geopolitische Machtgefälle prägen werden. Die chinesische Strategie des “Kabozi Jishu” (“Technologie-Umklammerung”) verdeutlicht dies: Der chinesische Staat identifiziert für seine Wirtschaftsplanung statt bestimmter Sektoren nur einzelne Schlüsseltechnologien, die als Grundlagen für ganze Branchen dienen.
Dazu gehören aber eben nicht nur Präzisionsphotolithographen für Halbleiter, sondern auch Jet-Turbinen oder Hochgeschwindigkeits-Kugellager für Maschinenwerkzeuge.
Statt “Tech-Politik als Geopolitik” zu definieren ließe sich also auch feststellen, dass Geopolitik heute von technologisch angetriebener Transformation geprägt ist, wie sie es wahrscheinlich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr war. Dass sie aus dieser Entwicklung politische Handlungsstrategien ableiten müssen, haben viele Nationen bereits verstanden. In der unterschiedlichen Handlungsfreiheit aber zeichnet sich aber schon jetzt die Linie ab, entlang der sich der geopolitische “Digital Divide” der Zukunft entwickeln wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit - wir lesen uns im Juli wieder!
Johannes