Aus dem Internet-Observatorium #84
Dopamin-Kultur / TikTok-Politik / OZG 2.0 / OpenAIs Sora
Hallo zu einer neuen Ausgabe - trotz Sitzungswoche pünktlich fertig (ich bin stolz).
Dopamin-Kultur
Der Jazzautor Ted Gioia ist in den vergangenen 24 Monaten zu einem der präzisesten Kulturkritiker unserer Zeit geworden. In seinem jährlichen “The State of Culture” zieht er dieses Mal eine Bilanz unserer digitalen Entertainment-Kultur. Und sie fällt alles andere als positiv aus.
Einige Grafiken erzählen, was Gioia beschreibt. Nummer 1:
Hatte man sich vom 20. Jahrhundert bis in die 2010er Jahre noch beschwert, dass Kunst immer stärker von der Unterhaltung verdrängt, sind wir inzwischen laut Gioia in einer neuen Phase. Denn wenn wir unser Smartphone aus der Tasche ziehen, geht es zwar oberflächlich um Unterhaltung - im Kern aber einfach um Ablenkung. Scrollen, Swipen - ein kurzer Impuls, der nur wenige Sekunden dauert, aber dafür wiederholt werden muss.
Gioia entwickelt daraus eine Kritik an den Technologiefirmen, für die “Kultur” letztlich nur der bekannte Köder ist, um Menschen von Geräte und Plattformen abhängig zu machen.
Gioia schreibt von einer “Dopamin-Kultur”, die weder Spuren von “Kultur” im klassischen Sinne, noch von “Unterhaltung” im klassischen Sinne enthält. Aus Songs werden kurze Melodien, aus Filmen 15-Sekunden-Clips, aus der Suche nach intimen Kontakt ein Swipe, aus Journalismus Clickbait. Hier die Grafik (die ich nicht völlig überzeugend finde, aber als Illustration hilfreich):
Übersetztes Zitat:
“Dies ist die neue Kultur. Und ihr auffälligstes Merkmal ist das Fehlen von Kultur oder sogar von gedankenloser Unterhaltung – beides wird durch zwanghafte Aktivität ersetzt.”
Das hat zahlreiche negative Folgen, die vielleicht größte: Nichts von dieser zwanghaften Aktivität erfüllt uns, die Dopamin-Schübe nutzen sich ab, wie wir es von der Gewöhnung an Genuss- und Rauschmittel kennen. Dabei glauben wir, die Kontrolle zu haben, denn wir können aktiv Swipen, Scrollen, Liken, Abspielen. Aber im Kern sind wir nur auf der Suche nach der nächsten Zerstreuung.
Nun lässt sich einwenden: Diese Form von Digitalitätskritik existiert schon seit fast 20 Jahren, und in analoger Form gab es ähnliche Einwände gegen Radio, Fernsehen und sogar den Buchdruck.
Lange Zeit habe ich diese Haltung geteilt, und ich bin weiterhin der Meinung, dass die publizistische Internet-Kritik der Nuller- und Zehnerjahre eher auf Kulturpessismismus und Status beruhte, als auf fundierter Auseinandersetzung mit der Digitalisierung.
Aber: Die heutige Dopamin-“Technik” ist derart optimiert, die existierenden und absehbaren Folgen sind so allumfassend, dass ich Gioias Einschätzung der Symptome teile.
Deshalb will ich an dieser Stelle noch auf diesen Artikel des Universitätsdozenten (und Publizisten) Adam Kotsko hinweisen. Kotsko ist der Kulturskepsis unverdächtig und schreibt (übersetzt und gefettet):
“Ich unterrichte seit über 15 Jahren an kleinen Hochschulen für freie Künste, und in den letzten fünf Jahren ist es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Während meiner gesamten Karriere habe ich als Basiserwartung ungefähr 30 Seiten Lesestoff pro Unterrichtseinheit zugewiesen – manchmal habe ich für rein expositorische Texte mehr angesetzt oder für schwierigere Texte weniger. (Kein Mensch kann beispielsweise 30 Seiten Hegel in einem Zug lesen.)
Jetzt fühlen sich die Studierenden von allem über 10 Seiten eingeschüchtert und geben bei Lektüren von 20 Seiten auf, ohne irgendein Verständnis entwickelt zu haben Sogar intelligente und motivierte Studierende kämpfen damit, aus schriftlichen Texten mehr als dekontextualisierte Takeaways mitzunehmen. Erhebliche Vorlesungszeit wird allein darauf verwendet, festzustellen, was in einer Geschichte passiert ist oder welche grundlegenden Argumentationslinien verfolgt werden – Fähigkeiten, die ich früher als selbstverständlich voraussetzen konnte.”
Kotsko sieht das Smartphone als einen Hauptfaktor und räumt ein, selbst einen schrumpfenden Aufmerksamkeitskorridor zu haben. Er differenziert aber und erwähnt als Faktoren den Corona-Unterricht und die Art und Weise, wie in den USA inzwischen Lesen unterrichtet wird (was ich nicht beurteilen kann).
Die Pisa- und IGLU-Ergebnisse zeigen auch hierzulande abnehmende Lesefähigkeiten, über die ich immer wieder an anderer Stelle schreibe. Aber der Trend zu Bewegtbild, Reflexhaftigkeit, Vereinfachung und Emotionalisierung ist sicher nicht auf Kinder, Jugendliche und junge Menschen beschränkt. Die ersten Resultate sehen wir bereits in einer zunehmenden gesellschaftlichen Irrationalität, die nicht nur mit der täglich wachsenden Irrelevanz von Gatekeepern zu tun hat.
TikTok-Politik
Anfang Februar machte die Meldung die Runde, dass die AfD die anderen Parteien bei TikTok deutlich abgehängt hat. Ich hatte dazu noch nichts geschrieben und verweise auch jetzt auf die aktuelle Berichterstattung sowie den geschätzten Marcus Bösch und seinen Newsletter “Understanding TikTok”. Hilfreich ist vielleicht auch Ausgabe #58 dieses Newsletters, in dem es um die TikTok-Strategie der rechtsextremen spanischen Vox-Partei ging.
Worauf ich meinen Blick heute richten will, hat mit dem Thema aber zu tun: Denn zuletzt entdeckten auch progressive Politiker und Politikerinnen TikTok: US-Präsident Joe Biden ist jüngst ebenso eingestiegen wie die Grüne-Bundestagsfraktion. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat seinen Account reaktiviert und dürfte nach der Berichterstattung über die AfD-Hoheit nicht der Einzige sein. Und dann ist da noch der SPD-Abgeordnete Markus Hümpfer, der jeden Tag eine AfD-Aussage widerlegen möchte - solange, bis die Partei unter fünf Prozent ist.
Regressive Kräfte oder amerikanische Reaktionäre haben auf Social Media einen Vorteil: Wutbait funktioniert und verbreitet sich schnell, kurze Botschaften begünstigen einfache Erklärungen. Es wäre allerdings falsch, es darauf zu reduzieren.
Denn bei TikTok kommen noch zwei Faktoren zu: Der Wunsch nach unterhaltsamer Authentizität und nach einer gewissen Subversivität. Letztere kann sich in Gegenbotschaften, Selbstironie, Reaktionsvideos, Überraschungseffekten oder Grenzüberschreitungen ausdrücken.
Lassen wir einmal beiseite, dass unterhaltsame Authentizität nicht immer zu den Kernkompetenzen von deutschen Politikern und Politikerinnen gehört: Ich glaube, dass auch die von mir skizzierte Subversivität für demokratische und letztlich systemtragende Parteien nicht halb so erfolgsversprechend sind wie die Selbst-Stilisierung der AfD als politischer Paria, der das gängige System umkrempeln möchte.
Das stellt die Parteien, aber letztlich alle demokratischen Akteure inklusive der Konservativen vor ein Dilemma, das über die strategische Frage “Was sollen wir posten?” hinausgeht: Sollen Netzwerke wie X-Twitter und TikTok (das zudem noch im Kern chinesisch ist) bespielt werden, wohl wissend, dass man qua Policy (bei Musks unmoderiertem X) oder Anreizstruktur (bei TikTok) im Nachteil ist? Im Prinzip muss für Politiker und Politikerinnen gelten, dort sein, wo die Leute sind. Aber auch hier gibt es ja Veränderungen, weil sich die Social-Media-Aufmerksamkeit auf deutlich mehr Plattformen als vor ein paar Jahren verteilt, also die Sache etwas aufwändiger ist.
Genauer gesagt: Die Landschaft ist flacher und zugleich unübersichtlicher geworden. Wie Ryan Broderick es formuliert: Die Zeit, in der jemand “das Internet gewonnen hat”, sind vorbei. Weil es kein Medium, keine Plattform, keine Community mehr gibt, die Konsens über “so reagiert das Netz” herstellen kann. Und weil, wie Charlie Warzel anmerkt, selbst ein Politiker wie Joe Biden inzwischen in der Situation aller anderen “Creator” ist: Ausprobieren, was funktioniert
Onlinezugangsgesetz 2.0
Am Freitag verabschiedet der Bundestag nach langem Ringen das “Onlinezugangsgesetz 2.0”. Standardisierung (Architekturboard des IT-Planungsrats), aber erst in zwei Jahren.
Positiv an der finalen Version: Das Architekturboard des IT-Planungsrats soll Standardisierungsvorgaben machen. Leider erst zwei Jahre nach Inkrafttreten des OZG 2.0, aber da dürfte man schon 2025 mit einigem fertig sein (zumal es oft existierende Standards sind). Ob diese Standardisierung wirklich als Beschleuniger funktioniert, hängt davon ab, wie gut sich das Ökosystem von einsetzbarer Software entwickelt, mit dem die Kommunen diese Vorgaben kostengünstig umsetzen können (und wie stark die Beharrungskräfte der Dienstleister vor Ort sind). Und weil sich die Konstruktion als zumindest indirekter Durchgriff des Bundes auf die Kommunen interpretieren lässt, würde ich bei der Rechtssicherheit mal ein Fragezeichen setzen, sofern das nicht noch mit einer Grundgesetzänderung unterfüttert wird.
Der erstmalige Rechtsanspruch auf Onlinezugang (allerdings erst 2028) hingegen ist eine Mogelpackung, denn er bezieht sich auf die Leistungen des Bundes. Und der Bund ist (anders als die Länder) mit dem Onlinezugang in seinem eigenen Bereich so gut wie fertig. Immerhin aber will man die 115 Leistungen des Bundes dann auch wirklich Ende-zu-Ende (also ohne Medienbruch im Verwaltungsbackend) anbieten, wenn ich die BMI-Leute im Digitalausschuss richtig verstanden habe. Das wäre ein Meilenstein.
Unterm Strich hätte das OZG 2.0 ambitionierter sein können. Und es gäbe gute Argumente dafür, den Prozess ganz anders aufzusetzen, nämlich mit einem Staatsvertrag, der klare Zuständigkeiten regelt (z.B. dass der Bund seine eigenen Leistungen komplett zentral betreibt), einer Grundgesetzänderung von Artikel 91c, einem festen Mehrjahresbudget/Haushaltstitel für Entwicklung und Betrieb der Digitalisierungsinfrastruktur. Aber das wäre schon fast eine kleine Föderalismusreform, und darauf hat niemand Lust. Insofern korrigiert das OZG 2.0 vor allem die Fehler seines Vorgängers, und das recht spät.
Sora
OpenAI hat seinen Videogenerator Sora vorgestellt, der allerdings nicht für Endnutzer freigegeben wird. Die Menschen in den Videos erinnern an Videospiel-Renderings. Oder, darauf weist Mike Isaac von der New York Times hin, auch an die Menschen aus dem Video zu Soundgardens “Black Hole Sun”.
Ed Zitron sieht in solchen Videos (also von Sora, nicht Soundgarden) das Grundsatzproblem: Weil KI keine Ahnung über die Beschaffenheit der Welt hat, wird es immer wieder kleine Fehler machen, die selbst in den kuratierten Videos von OpenAI auftauchen. Ein Glas, das Wasser durch den Boden ausschüttet. Seltsame Bewegungen. Menschen, die miteinander verschmelzen.
Er prophezeit, dass diese “Subprime AI” und die Erkenntnis, dass es nicht besser werden wird, den Hype in Sachen generativer KI früher oder später beenden werden. Und damit auch die luftig hohen Firmenbewertungen in diesem Bereich zusammenstürzen lassen werden.
Wir werden sehen.
Am Ende will ich noch auf dieses Video von Will Smith hinweisen ;-):
Links
EU-Kommission plant 500-Millionen-Euro-Strafe gegen Apple wegen Benachteiligung von Spotify und Co. (€)
Europäischer Menschenrechtsgerichtshoft stärkt das Recht auf Verschlüsselung.
Hackergruppe Lockbit zerschlagen.
Warum Apple die Homescreen-Webapps in der EU beerdigt.
EU-Kommission leitet Untersuchung gegen TikTok ein.#
Aufstieg und Fall von robots.txt.
Wish: Von 14 Milliarden auf 173 Millionen.
Wyze-Kameras bleiben ein Sicherheitsrisiko.
Künstliche Intelligenz und das Comeback von San Francisco. (€)
40 Jahre Mac, 40 Jahre Abstraktion von Software.
Das frustrierende Arbeitsleben von Content-Moderatoren in Pakistan.
Die Simpsons, das Internet und das Ende der Universalität.
Facebook und die falschen Beerdigungs-Livestreams.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes