Aus dem Internet-Observatorium #58
Spaniens VOX: Social-Media-Strategien der radikalen Rechten / Braucht KI einen Körper?
Hallo zu einer weiteren Sommerausgabe! Besondere Grüße gehen an diejenigen, die über den IP-Newsletter hierher gekommen sind - den ich an dieser Stelle allen außenpolitisch Interessierten sehr empfehlen kann!
An dieser Stelle auch ein kleiner Programmhinweis: Sollte der Newsletter in kommenden Wochen einmal ausfallen, liegt das an Themenmangel und Sommerloch.
Wie Spaniens Vox-Partei TikTok nutzt
Der Titel “Spanien: Wie die rechtsextreme Vox die Jugend verführt” (€) ist natürlich höchst albern, aber dahinter verbirgt sich ein interessanter Einstieg in die Social-Media-Strategie der Rechtsaußen-Partei. Was durchaus Relevanz hat, denn eventuell wählen die Spanier sie am kommenden Sonntag in die Regierung.
Die Zusammenfassung (via GPT-4):
“Santiago Abascal, Chef der rechtsextremen spanischen Partei Vox, richtet im Wahlkampf einfache Botschaften an junge Wähler. Die Partei ist in sozialen Netzwerken erfolgreich und erreicht besonders die jungen Wähler zwischen 18 und 35 Jahren. Analystin Ana Salazar nennt dies eine "Strategie der Normalisierung". Vox hat auf Plattformen wie Instagram und TikTok eine große Anhängerschaft und setzt auf Influencer wie “Wall Street Wolverine” zur Zielgruppenansprache. Traditionelle Parteien erreichen junge Generationen bisher weniger erfolgreich über soziale Medien. Salazar warnt vor einer neuen Generation, die Desinformation in ihr Weltbild integriert, und sieht die Demokratie in Gefahr.”
Wer spanisch spricht, kann sich dazu auch diesen Podcast bei El Pais anhören aus dem Juni anhören.
Nun wird die Rolle von Social Media bei der Wahlentscheidung meiner Meinung nach über- wie unterschätzt: Überschätzt, was die konkreten Effekte von personalisierter Werbung betrifft. Unterschätzt, was die Prägung des vorpolitischen Raumes angeht, die dort stattfindet und letztlich das Wahlverhalten massiv beeinflusst.
TikTok ist in Spanien besonders relevant, weil es dieser Statistik zufolge das einzige EU-Land ist, in dem die Nutzung unter den 18 bis 24-Jährigen bei über 70 Prozent liegt.
Um etwas Klarheit über die Vox-Strategie zu erhalten, habe ich nach Studien gesucht. Und erfreulicherweise die britische Untersuchung “Beyond anger: the populist radical right on TikTok” aus dem Januar 2023 gefunden (Daniele Albertazzi & Donatella Bonansinga). Es handelt sich um einen Vergleich der Social-Media-Arbeit in Italien, Frankreich und Spanien (Salvini, Len Pen und Zemmour, Vox).
Die Autoren haben vier verschiedene Arten von Inhalten identifiziert (die Klassifikation wurde auch schon in anderen Social-Media-Untersuchungen verwendet):
Negativer Content
Verbindender Content
Eudaimonischer Content
Hedonischer Content
Die letzten beiden brauchen vielleicht ein bisschen Erklärung: “Eudaimonischer Content” bezeichnet Inhalte, die bei Empfängern Wohlbefinden auslösen und auch Sinn stiften sollen. Oft sind damit motivierende Inhalte rund um persönliches Wachstum gemeint, als Beispiel werden aber auch Glückseffekt-Videos genannt (MrBeast schenkt einem Obdachlosen auf der Straße 10.000 Dollar, etc.).
Hedonischer Content bezeichnet Endorphin-Snacks - Memes, Promi-Nachrichten, virale Challenges, Beauty-Kram etc. Die Empfänger sind unterhalten, es werden aber keine tieferen, lang anhaltenden Emotionen ausgelöst.
In diesem Zusammenhang fällt diese Grafik aus der Studie ins Auge:
Vox unterscheidet sich deutlich von allen anderen - sowohl die Negativität (auf die z.B. Le Pen in Frankreich weitestgehend verzichtet), als auch die Sinnstiftung spielen eine außergewöhnlich große Rolle.
Was heißt das? Am Beispiel dieses TikTok-Videos lassen sich drei Elemente gut beschreiben:
Die direkte Ansprache an “die Jugend” und ihrer Probleme (“Ihr wollt arbeiten! Ihr wollt studieren!”)
Das Feiern der eigenen Größe bzw. der Größe Spaniens (Patriotismus, Werte wie “Freiheit” und “Familie” etc.)
Heftige Angriffe auf die angeblichen Eliten, die Spanien schwächen wollen und dem “Volk” schaden (in diesem Fall die Regierung, die “Euren Eltern mit ungerechten Steuern berauben”; aber auch Umweltaktivisten, Feministen und die LGBT-Community).
Die Soziologen bezeichnen den Stil als den des “wütenden Motivators”. Und sie beschreiben auch den Einsatz von Memes, wie hier während der Fußball-Europameisterschaft 2020, als Cristiano Ronaldo statt Coca-Cola-Flaschen die damalige spanische Regierung abräumt:
Die eine Seite der Münze ist also das Pathos, die Ansprache, die Verachtung für den politischen Gegner, letztlich das konkret Politische. Die andere Seite akzentuiert Memes und Aufmerksamkeit, legt also den Fokus auf Präsenz im vorpolitischen Raum, in dem am Ende die politischen Vibes entstehen.
Die Uploads sind auch nach Plattform (TikTok, Instagram, YouTube) unterschiedlich von Stil und auch Identität - bei TikTok etwas schriller, bei Instagram etwas seriöser, bei YouTube auch für eine ältere Nutzerschaft konsumierbar, so mein Eindruck.
Vox zeigt sich also mit den modernen Wahlkampf-Methoden vertraut. Damit ist die Partei kein Solitär in Europa - die extreme politische Rechte ist mit dem gegenwärtigen politischen Spielfeld sehr viel vertrauter als die Mitte oder die politische Linke.
Am Ende wird Social Media nur einer von vielen Faktoren sein. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn Vox unter den Erst- und Zweitwählern Stimmanteile erreicht, die Außenstehende schockieren werden. Und die dazu beitragen, dass in Spanien nicht einmal 50 Jahre nach Ende des Franquismus eine Partei mitregiert, die keinen Hehl daraus macht, sich in Francos Fußstapfen zu sehen.
Braucht KI einen Körper?
Kann echte Intelligenz in Silikon-Verschaltungen existieren, oder benötigt sie einen Körper? Die Zusammenfassung der philosophischen Debatte von Jan Peters im DeepMinds-Podcast fand ich sehr hilfreich. Peters ist Leiter des Forschungsbereich “Systemische KI für lernende Roboter” am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI).
Daraus abgeleitet ein paar Gedanken zu den unterschiedlichen Vorstellungen:
A Die Schule der Körperlichkeit - Intelligenz braucht einen Körper:
Die Idee fußt auf der Neurobiologie - und findet sich besonders stark in der These des Neurobiologen Daniel Wolpert. Wolpert ist fest davon überzeugt, dass Bewegung die Ursache und das finale Resultat aller funktionalen Aspekte unseres Gehirns ist.
“Warum haben Pflanzen kein Gehirn? Sie müssen sich nicht bewegen”, ist einer von Wolperts prägnantesten Sätzen. Als Beispiel für diesen Zusammenhang führt er eine Art aus der Gattung der Seescheiden an. Übersetztes Zitat aus diesem Artikel:
Die Seescheide, eine Art Filterfresser im Meer, schwimmt umher und sucht nach einem Ort, an dem sie sich für den Rest ihres Lebens niederlassen kann. Sobald sie an einem geeigneten Ort auf einem Felsen geparkt ist, bewegt sie sich nie wieder. Das erste, was sie tut, ist: Sie frisst ihr eigenes Gehirn.
Während dies für manche ein wenig voreilig erscheinen mag, ergibt es für Professor Daniel Wolpert evolutionär vollkommen Sinn. "Für mich ist es offensichtlich, dass es keinen Sinn ergibt, dass das Gehirn etwas verarbeitet oder speichert, wenn es keinen Nutzen für die körperliche Bewegung hat, denn nur so verbessern wir unser Überleben."
Aus dieser Logik heraus kann eine Künstliche Intelligenz nie wirklich “intelligent” sein, wenn sie nur auf der Ebene der Schaltkreise existiert und keine Sensoren für das Taktile beziehungsweise sogar Bewegung hat. Selbst wenn man die Bewegung ausklammert, hat unsere Welterfahrung, unser Verständnis von Konzepten auch so sehr viel mehr als nur mit dem “Visuellen” zu tun, sondern setzen insgesamt eine Körperlichkeit voraus.
KI müsste also, so interpretiere ich das, letztlich in einen sensomotorischen Roboter transferiert werden, um wirkliche Intelligenz oder eine Maschine mit “Verstand” zu entwickeln. Und wirklich gibt es in der Forschung entsprechende Bemühungen, genau diesen Weg zu gehen (“embodied cognition”).
B Die Schule der Körperlosigkeit - Intelligenz ist ungebunden
“Ich denke, also bin ich” - dieser Satz von Descartes beinhaltet bereits eine klare Hierarchie: Das Gehirn steuert als oberste Instanz den Körper, benötigt ihn aber theoretisch nicht. Wir sind also wieder bei Plato und unserem gegenwärtigen Menschen- bzw. Körperbild.
In dieser Systematik könnte eine KI auch ohne Körper “intelligent” sein. Allerdings gibt es auch modernere Argumente für eine körperlose KI - zum Beispiel vorgetragen durch den nicht unumstrittenen US-Philosophen Daniel Dennett. Er vertritt oft die These, dass unser Bewusstsein weniger an die Hardware (also zum Beispiel das menschliche Gehirn) gebunden ist, sondern es um die Software geht (die Art der Informationsverarbeitung). In dieser Vorstellung kann auch Computer-Software eine Form von Bewusstsein/Intelligenz entwickeln (also mehr als ein System sein, das wie bislang Wahrscheinlichkeiten von Wortfolgen berechnet).
Philosophisch flankiert Dennett dies mit seiner Interpretation des Gedankenexperiments von Frank Camerons “Marys Zimmer”. Das Experiment geht so (Zusammenfassung via ChatGPT):
"Mary ist eine brillante Wissenschaftlerin, die in einem schwarz-weißen Zimmer eingesperrt ist und nie Farben gesehen hat. Sie hat jedoch Zugang zu allen wissenschaftlichen Informationen und hat alles über die Physiologie des Sehens und die Theorie der Farben gelernt. Insbesondere weiß sie alles, was es über die physikalischen Prozesse zu wissen gibt, die auftreten, wenn jemand die Farbe Rot sieht.
Eines Tages wird Mary aus ihrem schwarz-weißen Zimmer entlassen und sieht zum ersten Mal die Farbe Rot. Die Frage ist: Lernt Mary etwas Neues über die Farbe Rot, das sie vorher nicht wusste?
Wenn ja, gibt es Aspekte des Bewusstseins, die nicht rein physikalisch sind. Wenn nein, ist alles Wissen physikalisch."
Dennett argumentiert, dass wir zwar intuitiv davon ausgehen, dass Mary beim Anblick der roten Farbe etwas Neues lernt. Allerdings würden wir damit Marys Wissen unterschätzen, weil wir uns nicht vorstellen können, wie es ist, alles physikalische Wissen der Welt über eine Sache zu besitzen.
Wir könnten uns aber zum Beispiel vorstellen, wie Mary nach ihrer Freilassung die Farbe “rot” korrekt identifizieren würde. Sie würde also etwas Neues erleben, aber nichts Neues lernen. Wir können uns in dieser Logik am Ende keine wirklich “intelligenten Computer” vorstellen, weil wir in unserer eigenen Vorstellung von Intelligenz gefangen sind.
Notizen zu FTC, Google Bard
Die FTC verliert an Schwung: Die ausgerufene neue Ära in der US-Wettbewerbspolitik könnte bald schon zu Ende gehen. Der Versuch der US-Wettbewerbsbehörde, die Fusion zwischen Microsoft und Activision Blizzard zu stoppen, ist krachend gescheitert - die Richter hatten deutliche Zweifel, dass Verbraucher wirklich negative Auswirkungen zu befürchten haben. Dazu geht man jetzt gegen Dark Patterns bei Amazon Prime vor - ein Angebot, das die Amerikaner lieben. Entsprechend wächst die Kritik. Cory Doctorow verteidigt in diesem Essay FTC-Chefin Lina Khan gegen Kritiker und wirft ihnen eine Schmierkampagne vor. Aber das ist nur ein Teil der Realität: Denn wenn das neue Wettbewerbsparadigma (Orientierung weg vom Blick auf die reinen Verbraucherpreise hin zu Marktzusammenhängen) rechtlich nicht durchsetzbar ist, verliert nicht nur die Neuorientierung, sondern die FTC selbst Vertrauen.
Google Bard vs. ChatGPT: Fairerweise muss man sagen, dass ich bei Google Bard bislang nicht die Bilderkennung getestet habe, die sehr gut sein soll. Der Chatbot dagegen ist in dieser Form für mich noch nicht verwendbar, er erfindet einfach zu viele Teile von komplexeren Antworten. ChatGPT funktioniert dagegen in der Kombination mit dem Web-Plugin vergleichsweise verlässlich (das schreibe ich in dem Wissen, dass GPT-4 laut einer Stanford-Studie gerade Anzeichen der Verdummung zeigt).
Twitter-Wissenschaft und Avocado-Toast
“Telling academics they can achieve career success by using today’s algorithmic-driven platforms is like telling Millennials they could afford a house by eating less avocado toast. It’s a cruel lie because social media is a shit way to share your work now”
Zitiert aus: “The enshittification of academic social media”
Links
Meta veröffentlicht Llama 2 Open Source (ungefähr Level GPT-3.5)
Norwegen verbietet Facebook vorläufig, personalisierte Werbeanzeigen auszuspielen.
Die US-Börsenaufsicht SEC fürchtet, dass Chatbots eine Börsenpanik auslösen könnten.
Deutschlands China-Strategie im Tech-Kontext.
Twitter-Team in Afrika: Entlassen und geghostet.
Alex Stamos über Threads, Activity Pub und der Moderationsproblem.
Warum KI-Prüfsoftware glaubt, dass die US-Verfassung von einer KI geschrieben wurde.
Anthropic im Firmenporträt. ($)
Tippfehler: Mails fürs US-Militär gingen an Mali-Domain
Wie wir süchtig nach Wetter-Apps wurden.
1 Video
“Xóchitl Gálvez, eine mexikanische Oppositionssenatorin mit Präsidentschaftsambitionen, wurde erst Anfang des Monats ernsthaft als Kandidatin beachtet. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihre Unterstützer ein kurzes KI-generiertes Video veröffentlicht, in dem ein Gálvez-Avatar in die Kamera spricht, bevor es in farbenfrohe und surreale Bilder zerfällt.
Die Qualität der KI war rudimentär – aber die Werbung war ein Hit. Mexikos Zeitungen begannen, über “den auf KI ausgerichteten Wahlkampf” zu berichten und die Google-Suchen nach dem Namen der Senatoren schossen in die Höhe.”
(Rest of the The World: Latin Americans’ social feeds are being flooded with AI-generated ads)
1 hilfreiche Grafik
(via First Dog On The Moon, The Guardian)
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes