Aus dem Internet-Observatorium #83
Digital-Update Wahlen 2024: Pakistan und Indonesien / Ukraine: Der erste KI-Krieg? / Meta-Plattformen ohne Politik
Hallo zu einer neuen Ausgabe!
Digital-Update Wahlen 2024: Pakistan und Indonesien
Im Jahr 2024 verfolge ich regelmäßig internationale Wahlen, den Digitalwahlkampf und Online-Verwundbarkeiten des Wahlprozesses (siehe auch Ausgabe #79).
Pakistan (8. Februar 2024)
Als Pakistan am vergangenen Donnerstag wählte, waren für die Hälfte der Bevölkerung Internet und Mobilfunk weg. Nicht das erste Mal während einer Wahl. Als Begründung nannte die Regierung zwei Bombenanschläge in der Provinz Balutschistan, bei denen am Tag davor mehr als zwei Dutzend Menschen getötet wurden. Allerdings wird allgemein davon ausgegangen, dass es der Regierung und dem einflussreichen Militär darum ging, die Mobilisierung der Opposition des in Ungnade gefallenen Ex-Cricketstars und Ex-Premier Imran Khan zu verhindern.
Khan selbst sitzt wegen verschiedener, teils fragwürdiger Korruptionsvorwürfe im Gefängnis. Seine Partei PTI gilt als besonders digitalafin, wurde aber im Laufe des Wahlkampfs häufiger digital behindert. Nach dem physischer Großkundgebungen veranstaltete die PTI Online-Großveranstaltungen mit mehreren Millionen Zuschauern. Just während dieser Veranstaltungen wurde allerdings das Internet gedrosselt. Telekom-Anbieter sprachen wenig glaubhaft von Störungen. Zudem wurden Journalisten aufgefordert, nicht über die PTI zu berichten.
Zur Überraschung der meisten Beobachter erhielt die PTI bei der Parlamentswahl dennoch die meisten Stimmen.
Khan selbst ist der erste Politiker, der nicht nur seine Prominenz als Ex-Sportler nutzte, sondern auch Social-Media-Kanäle (speziell TikTok und YouTube) erfolgreich für populistische Botschaften einsetzte. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist zwischen 18 und 45 Jahren alt, entsprechend relevant sind diese Kanäle. Weitere digitale Werkzeuge waren WhatsApp-Gruppen und ein Chatbot auf Khans Facebook-Seite, der den ehemaligen Premier digital doppelte.
60 Prozent der Bevölkerung können jedoch nicht lesen oder schreiben. Entsprechend umstritten war die Entscheidung der Wahlkommission, Khans Partei zu verbieten, auf dem Wahlzettel mit dem Symbol eines Cricket-Schlägers anzutreten.
Weil auch Audio und Video besonders wichtig sind, ergab sich daraus ein Problem für die PTI: Weil Khan im Gefängnis sitzt, konnte er keine direkten Botschaften an die Wähler richten. Hier kommt “Künstliche Intelligenz” ins Spiel: Khan schickte Notizen an die PTI, eine Software vertonte diese mit Khans synthetischer Stimme. Hier zum Beispiel seine Siegeserklärung nach der Wahl:
Khans Partei wird trotz Sitzmehrheit im Parlament vermutlich nicht regieren können, weil die Parteien der Bhutto- und Sharif-Politikdynastie eine Koalition eingehen werden.
Auch Khan war einst Premier, wurde damals vom Militär geduldet und teils gefördert, später fallengelassen, als er die Generäle als “Deep State” kritisierte (eine der glaubwürdigeren Verschwörungserzählungen, die er regelmäßig verbreitet). Der aktuelle Wahlerfolg seiner Partei scheint zu signalisieren, dass die Generäle die Kontrolle über die Öffentlichkeit verlieren, weil sie keine Kontrolle mehr über die dezentralen Kommunikationskanäle haben.
Indonesien (14. Februar 2024)
Mehr als 200 Millionen Menschen waren heute aufgerufen, in Indonesien Präsident + Vize-Präsident sowie das Parlament zu wählen. Der bisherige Präsident Joko Widodo (Jokowi) erreicht das gesetzliche Limit seiner Amtszeit, er empfahl die Wahl seines Verteidigungsministers Prabowo Subianto. Dessen Vize-Kandidat Gibran Rakabuming ist Bürgermeister der Stadt Surakarta, vor allem aber Jokows Sohn. Für ihn wurde extra das passive Wahlalter gesenkt.
Indonesien ist mit 125 Millionen aktiver Nutzer der zweitgrößte Markt für TikTok, für immerhin 26 Prozent der Bevölkerung ist die App der wichtigste Kommunikationskanal. Entsprechend spielte sich dort ein Großteil des Wahlkampfs ab - alle drei der aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten waren dort stark aktiv. Prabowo zum Beispiel gab sich dort als “niedlicher” (“gemoy”) Kandidat, der bei Wahlkampf-Auftritten unbeholfen wirkende Tanzeinlagen gibt.
Das ist ein ziemlicher Imagewandel: Der ehemalige General Prabowo war mit der Tochter des früheren Diktators Suharto verheiratet und wird mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht. Bei seinen erfolglosen Kandidaturen 2014 und 2019 gab er sich noch als betont männlich und ritt zu Auftritten schon mal auf dem Rücken eines Pferdes ein. Prabowo habe sich als eine Art “putziger Onkel” neu erfunden, schreibt die FAZ. Die jugendliche (und über Social Media perfekt inszenierte) Aura seines Vize-Kandidaten wirkt so als perfekte Ergänzung.
Dieses Jahr schien er bei einer Präsidentschaftsdebatte sogar in Tränen auszubrechen, woraufhin seine Anhänger Response-Videos posteten, in denen sie aus Solidarität ebenfalls weinten (und Prabowos Benachteilung beklagten).
Sein Konkurrent Anies Baswedan, ehemaliger Gouverneur von Jakarta, nutzte TikTok wiederum für Live-Videos, in denen er auf Fragen von Wählerinnen und Wählern antwortete. Gerne nahm er seine Videos im Auto oder in Bussen auf, um Volksverbundenheit zu signalisieren.
Auch Anies hat einen Imagewandel hinter sich: War er zuvor bekannt dafür, dem konservativen Islam nahezustehen, ist er inzwischen unter anderem bei indonesischen K-Pop-Fans beliebt, weil er gewisse K-Pop-Rituale imitiert.
66 Prozent der Indonesier sind inzwischen online, ungefähr die Hälfte der Wähler sind unter 40. Im politischen Meinungskampf sowie im Online-Marketing insgesamt hat sich die Rolle der genannten “Buzzer” etabliert - Akteure, die Meinungen, Ideologien und Propaganda mit Mitteln wie falschen Identitäten, konzertierten Kampagnen und Sockenpuppen-Akvititäten zu verbreiten suchen. In der Regel werden sie dafür bezahlt.
Dieses kurze Oxford-Briefing beurteilt die Rolle des Internets im politischen Bereich so (übersetzt und von mir gefettet):
“Während [das Internet] eine interaktivere, partizipativere und personalisiertere politische Kampagne ermöglicht hat, werden die ernsten Gefahren von Hassreden, ethnischer und religiöser Polarisierung und orchestrierter viraler Fehl-/Desinformation immer größer. Auch wenn es kein völlig neues Phänomen ist, seit es bei den Gouverneurswahlen in Jakarta im Jahr 2012 begann, ist die wachsende potenzielle Desinformation und politische Polarisierung, die sich aus den Aktivitäten der Buzzer im indonesischen politischen Online-Bereich ergibt, alarmierend, wie bei den Wahlen 2014 und 2019 und den jüngsten Anti-Rohingya-Kampagnen zu sehen war.”
Die Nutzung Künstlicher Intelligenz ist schwer einzuschätzen: So erstellen die Wahlkampf-Teams von Parteien und Kandidaten zwar Botschaften und Wahlkampf-Plakate mit Hilfe von KI-Bildgeneratoren, aber wirklich bahnbrechend ist daran nichts. Auch die Erstellung von Chatbots der Kandidaten für WhatsApp und Telegram erscheint mir nicht außergewöhnlich.
Vereinzelt gibt es Berichte über Deepfake-Manipulationsversuche, aber bis auf den Video-Auftritt des verstorbenen Diktators Suharto (mit Wahlempfehlung für Prabowo) habe ich nichts Konkretes gefunden.
Auf der anderen Seite verschärfte die Regierung vor der Wahl das ohnehin harte EIT-Gesetz gegen vermeintliche Hassrede: So können nun “falsche Aussagen”, die “öffentliche Unruhe” auslösen mit Haftstrafen geahndet werden. Derlei breite Definitionen hatte die indonesische Regierung bereits genutzt, um damit Hunderte von Regierungskritikern und Online-Aktivisten anzuklagen. So schrieb Amnesty International 2022 in einem Bericht (übersetzt und gefettet):
“Hassrede wird gemäß Artikel 28 Absatz 2 des EIT-Gesetzes bestraft, der übermäßig weitreichende Bestimmungen enthält, die das "die absichtliche und unerlaubte Verbreitung von Informationen verbietet, die darauf abzielen, Hass oder Feindschaft gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen in der Gesellschaft aufgrund ihrer Ethnizität, Religion, Rasse oder Gruppe zu erzeugen”. Wie im Fall von Artikel 27 Absatz 3 gibt es im Gesetz nichts, was besagt, dass diese Informationen öffentlich verbreitet werden müssen; daher können auch private Gespräche potenziell als Straftaten angesehen werden.”
Das Gesetz verbietet auch andere digitale Praktiken, zum Beispiel das Micro-Targeting aufgrund von Merkmalen wie Rasse, Stammeszugehörigkeit oder Religion.
Ob und wie stark es zu digitalen und digital-physischen Einschüchterungen gekommen ist, mit der in der Vergangenheit Aktivisten, NGO-Mitarbeiter und Journalisten zum Schweigen gebracht werden sollten, ist derzeit nicht bekannt.
Prabowo wird ersten Hochrechnungen zufolge die Wahl deutlich gewinnen. Im Wahlkampf hatte er davon geredet, direkte Präsidentschaftswahlen ebenso abzuschaffen wie die Amtszeitbegrenzung. Zur Pressefreiheit hat er sich, im Gegensatz zu anderen Kandidaten, nicht bekannt.
Es ist deshalb kaum anzunehmen, dass der “putzige Onkel” die Internet-Gesetze entschärfen wird. Im Gegenteil. Prabowos Wahl scheint einmal mehr zu zeigen, wie Online-Marketing und Social-Media-Markenbildung politisch-inhaltliche Fragen nicht nur überschatten, sondern quasi irrelevant machen können.
P.S. Dieser Radiobeitrag vermittelt einen sehr guten Eindruck über den Digitalwahlkampf.
Ukraine: Der erste KI-Krieg?
“Der erste KI-Krieg” titelt Time - der zugehörige Text dreht sich vor allem darum, wie Palantir offene und geheime Daten für Ukraines Regierung und den Militäraparat analysiert. Da die Reporterin eingebettet ist, erfährt man wenig technische Details. Auch die hochproblematische Firma Clearview AI ist auf Seiten der Ukraine aktiv, unter anderem, um per Gesichtserkennung russische Soldaten zu identifizieren (was mich daran erinnert, dass die EU im “AI Act” die Tür für Gesichtserkennung besser komplett zugemacht hätte).
Dazu erfährt man vom Accelerator D3 (Dare to Defend Democracy), in den unter anderem Ex-Google-Chef und Drohnen-Startup-Gründer Eric Schmidt investiert hat. Insgesamt gibt es mehr als 1200 digitale Militärprojekte, die an die Ukraine herangetragen wurden - und auf Rüstungsmessen gilt “Tested in Ukraine” als wichtigstes Qualitätssiegel.
Kurz: Die Digitalisierung des Krieges schreitet voran, steht aber noch im Schatten des Siegeszugs der Kriegsdrohnen. Wobei diese beiden Themen verbunden sind, nicht nur, weil die Drohnen auch Daten liefern. Denn je länger der Krieg dauert, desto stärker könnte die Ukraine versucht sein, die Drohnen mit automatischen Tötungsfunktionen auszustatten.
Strukturell besonders bemerkens- und bedenkswert, das wird auch im Artikel erwähnt: Die Militärtechnologie der neuen Generation kommt nicht aus staatlichen Entwicklungslaboren, sondern von kommerziellen Anbietern, die teilweise ihre Produkte einfach etwas modifizieren. Und es lässt sich prophezeien: Der Markt ist nicht nur da, er wird größer.
Und persönlich fand ich auch diesen Gegensatz spannend: Während Jürgen Habermas 2022 in der Süddeutschen Zeitung für Verhandlungen plädierte und die moralische Verantwortung der westlichen Waffenlieferanten betonte, fuhr der Habermas-Schüler und Palantir-Chef David Karp ein paar Monate später nach Kiew, um der ukrainischen Regierungen die (Kriegs-)Dienste seiner Firma anzubieten.
Meta-Plattformen ohne Politik
Instagram-Chef Adam Mosseri hat angekündigt, dass Meta politische Inhalte bei Instagram und Threads (und offenbar bald auch Facebook selbst?) weiter depriorisieren wird.
Vor ein paar Jahren hätte ich das noch anders gesehen, aber inzwischen kann ich es nachvollziehen. Im anstehenden Wahlkampf wird es unabhängig vom Personalaufwand kaum möglich sein, eine stringente und wahrheitsorientierte Moderationspolitik von politischem Content zu fahren. Angesichts neuer Untersuchungen durch den US-Kongress will sich Meta gar nicht den Anschein geben, hier die eine oder die andere politische Richtung zu bevorzugen.
Eine Verpflichtung, solche Inhalte anzuzeigen, hat Facebook selbst dann nicht, wenn man es als quasi-öffentliche Infrastruktur sieht. Wer Politikern und politischen Medien folgt, erhält den Content weiterhin angezeigt. Und dass Medien bei ihrer Refinanzierung nicht auf Meta-Distribution setzen können, ist auch keine neue Erkenntnis, auch wenn sie natürlich angesichts der Alternativen schmerzt.
In der Praxis aber habe ich Zweifel, ob das alles funktionieren wird. Da wäre einmal die schwammige Definition von “politisch”: Sind Postings über den Klimawandel politisch? Oder Kritik am Gendern? Wie sieht es mit Berichten von Armutsbetroffenen oder Vertretern diskriminierter Minderheiten aus, die die Politik auffordern, etwas zu tun? Kurz: Das ist intransparent und wird so nicht funktionieren.
Das gilt wahrscheinlich auch für den außeranglophonen Sprachraum. Denn hier hat Meta erfahrungsgemäß noch weniger Moderationspersonal, noch weniger Kapazitäten und vermutlich noch weniger brauchbare KI-Software für automatisierte Sprach- und Kontext-Erkennung.
Und weiterhin gilt: Es bräuchte eine unabhängige Überprüfung der Auswirkung solcher Policy-Änderungen. Zeit also, dass der im Digital Services Act angelegte Forschungszugang zügig umgesetzt wird (looking at you, Ireland!).
Dark Brandon
Nach dem Superbowl postete das Social-Media-Team von Joe Biden das Meme “Dark Brandon” mit dem Untertitel “Genau so, wie wir es geplant haben.” Damit parodierte man die Verschwörungstheorie, dass der Sieg der Kansas City Chiefs eine abgekartete Sache sei, weil ja Taylor Swift dort involviert ist.
Vergangene Woche hatte ich über die Fandom-Welt rund um Taylor Swift geschrieben, die gerade das Politische übernimmt. Ich war mir nicht sicher, ob das Thema in dieser Form überhaupt in diesen Newsletter passt. Und doch scheine ich auf der richtigen Spur zu sein - denn das Dark-Brandon-Meme ist der Versuch, Biden-Fandom mit Swift-Fandom zu verknüpfen. Und wird entsprechend gefeiert.
Aber erneut stellt sich die Frage: Was daran soll jemanden davon überzeugen, dass Biden ein geeigneter Kandidat ist? Gerade in einer Woche, in der viel über Bidens abnehmende geistige Leistungsfähigkeit diskutiert wird. Nein, das alles richtet sich nicht an Wählerinnen und Wähler, sondern ist eine Form progressiver Selbstvergewisserung.
Kurz: Das alles ist unpolitisch. Aber ist es wenigstens gut eingesetzt Energie? Max Read schrieb bereits 2022 (übersetzt):
“Die Elite verwendet einen großen Teil ihrer Energie darauf, was Forscher und Zeitgenossen des Internets im Vor-Plattform-Zeitalter als Trolling in Foren, das Gewinnen von Argumenten auf Message-Boards, das Beschweren bei den Mods und andere ähnliche Aktivitäten kennen.”
Und das ist zwar das Spiel unserer Zeit, aber nicht wirklich hilfreich.
Links
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes