Aus dem Internet-Observatorium #68
Digital Networks Act: XXL-Telcos FTW? / Digitalaspekte des Gaza-Kriegs
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Keine Angst, heute ist nicht Mittwoch - diese Ausgabe erscheint in dieser Woche verspätet, weil mich ein Infekt außer Gefecht gesetzt hat (drückt die Daumen, dass am Montag meine Stimme wieder zurück ist!). Den Virus habe ich mir wahrscheinlich in Brüssel geholt, wo ich vergangene Woche mit einer Reihe angenehmer Kolleginnen und Kollegen war. Entsprechend gibt es diese Woche auch etwas mehr EU-Bezug als sonst.
Digital Networks Act: XXL-Telcos FTW?
Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton lässt gerade keinen Zweifel daran , auch der nächsten EU-Kommission angehören zu wollen. Ich würde mal behaupten: Vize-Chef ist das Mindeste, was der Franzose für angemessen hielte.
Entsprechend gehört der jüngste Vorschlag für einen “Digital Networks Act” (DNA) erst einmal zum üblichen Geklapper vor den Europawahlen 2024. Die ganze Idee ist in einer Frühphase, nach der abgeschlossenen Konsultationsphase folgt Anfang kommenden Jahres ein etwas konkreteres Weißbuch. Dennoch ist das alles durchaus brisant und zeigt, wie Breton Digitalisierungs- und Industriepolitik weiter verschmelzen möchte.
Worum also geht es: Der DNA soll die Telekommunikationsnetze in Europa zukunftsfähig machen. Einerseits durch Vorgaben für alle Betreiber, zum Beispiel dem Ausschluss bestimmter Komponenten in sämtlichen EU-Netzen (hüstel, hüstel, Huawei). Andererseits durch Harmonisierungen.
Hier wird es spannend: Denn Breton schwebt ein paneuropäischer Telekom-Markt vor. Und zwar einer, das sagt er selber, aus dem eine Handvoll große, global wettbewerbsfähige Player hervorgehen. Also statt “der französische Anbieter Orange muss seine SIM-Karten in Deutschland anbieten dürfen und bekommt dafür auch Netzzugang” so etwas wie “am Ende einer Reihe von Fusionen und Übernahmen bleiben Orange, Telekom und Vodafone als einzige Anbieter innerhalb der EU”.
Oder, wie der geschätzte Falk Steiner es bei heise.de ausdrückt:
“Ein Ziel der EU-Kommission ist dabei relativ klar: Sie möchte größere Akteure im europäischen Markt haben, die auch gegenüber den Googles, Metas, Amazons und Netflixes dieser Welt eine deutlich bessere Position haben – indem sie für möglichst viele Endkunden gleichzeitig den Zugangspunkt anbieten.”
Nun ist Breton als ehemaliger Chef des heutigen Orange-Konzerns (früher France Telecom) nicht unbefangen, kennt aber zumindest die Probleme der Branche: Eine Firma wie die Telekom verdient in Europa kein Geld mehr. Natürlich würde ein “echter” Binnenmarkt helfen, denn dann wären die berühmten Synergieeffekte nicht nur auf einen oder wenige Länderstandorte beschränkt. Umgekehrt dürften die meisten EU-Länder zum Beispiel kein Interesse an einer zentralen, europaweiten Ausschreibung von Funkfrequenzen haben.
Allerdings geht es um mehr, und hier kommt die Geo- und Industriepolitik ins Spiel: Denn Breton sieht und fürchtet, dass europäische Telekom-Firmen im Infrastruktur-Stack immer irrelevanter werden.
US-Techfirmen verlegen inzwischen bereits eigene Unterseekabel.
Mit 5G wird Hardware für die Netzwerksteuerung unwichtiger, weil sich zentrale Funktionen virtualisieren lassen.
Bei den neuen privaten 5G-Netze für Industrie und Großfirmen (“Campusnetze”) sind europäische Anbieter unter starkem Druck ausländischer Konkurrenten. Außerdem sind diese Netze in der Regel an entsprechende Firmen-Clouds gekoppelt, die wiederum oft von amerikanischen Tech-Größen wie Amazon, Microsoft oder Google betrieben werden. Die könnten ebenfalls in den Campusnetz-Markt einsteigen, beziehungsweise: eine Lösung aus einer Hand liegt zumindest nahe (siehe auch: Deutsche Telekom).
Im Endkundengeschäft findet die Content- und Commerce-Wertschöpfung ebenfalls schon lange außerhalb Europas, zumindest aber weitestgehend ohne die Telekomanbieter statt (kleinere Streaming-Angebote wie Magenta TV einmal ausgenommen).
Kurz: In der jetzigen Form wären Telekom, Telefonica und Co. womöglich wirklich die “dummen Röhren”, die zwar den Traffic ausliefern, aber von ihm nicht profitieren.
Immerhin hat sich Breton nach dem Branchenfeedback von der Idee einer Traffic-Maut (“Fair Share”), also Zusatzgebühren für Streamingdienste an Telekom-Anbieter, verabschiedet. Allerdings tritt an diese Stelle jetzt eine Vision, die Modernisierung und Absicherung der Infrastruktur mit der EU-Standortpolitik verbindet, die spätestens seit dem Ukraine-Krieg Brüsseler Mode ist (siehe: Mikrochips). Dass es EU-Subventionen für den Ausbau der Netze und auch für Unterseekabel made in Europe geben sollte, hat Breton bereits angedeutet.
Ich bin persönlich kein Freund dieses traditionell sehr französischen Dirigismus. Natürlich muss man hinterfragen, ob Huawei (aber auch Cisco) wirklich 5G-Campusnetze in der EU betreiben sollten. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Schaffung von Mega-Telekomanbietern in der EU seinen Preis haben wird - und zwar vor allem für die Kundschaft. Denn die Erfahrungen mit den Quasi-Oligopolen auf diesem Markt sind schon heute ziemlich schlecht.
Digitalaspekte des Gaza-Kriegs
Das hier ist kein klassischer politischer Beitrag (dazu bitte bei Interesse meinen anderen Newsletter abonnieren), sondern eine Liste von Digitalaspekten im Zusammenhang mit dem Terror-Angriff der Hamas und den nachfolgenden Entwicklungen.
Offline-Kommunikation als Schlüssel:
Ein Grund, weshalb Israel von diesem Angriff überrascht wurde, lag in der Offline-Arbeit der Attentäter: Sie kommunizierten mündlich oder auf Zetteln, schon Tage vor dem Angriff mussten alle Beteiligten ihr Telefon abgeben. Umgekehrt heißt das: Israel verließ sich zu sehr auf technische Überwachungsmöglichkeiten, die hier ins Leere gingen.
Zerstörung vernetzter Grenzüberwachung:
Mit diesem Outsourcing an Hochtechnologie einher geht die Frage, ob es im israelischen Warnsystem an der Grenze genügend Redundanzen gab. So schrieb die New York Times (übersetzt):
"Hamas schickte Drohnen, um einige der Kommunikationsmasten und Überwachungstürme des israelischen Militärs entlang der Grenze lahmzulegen, wodurch die diensthabenden Offiziere daran gehindert wurden, das Gebiet aus der Ferne mit Videokameras zu überwachen. Die Drohnen zerstörten auch ferngesteuerte Maschinengewehre, die Israel an seinen Grenzbefestigungen installiert hatte, und beseitigten damit ein wichtiges Mittel zur Abwehr eines Bodenangriffs."
Digitale Kommunikation & Propaganda Hamas:
Einige der Täter trugen GoPro-Kameras, ausgewählte Aufnahmen des Massenmordes wurden unmittelbar nach dem Terrorangriff für Propaganda-Zwecke online gestellt. Zitat Washington Post (übersetzt):
“Indem Hamas Filmmaterial des Angriffs auf seiner Telegram-Seite veröffentlichte, verstärkte es die psychologische Kriegsführung gegen die Israelis und verherrlichte die Tötungsorgie für sein Online-Publikum von Unterstützern. 'Zeit für Fotos', sagte ein Kämpfer und richtete sein Telefon auf einen Körper, während das Blut den Gehweg hinunterlief.”
Die Hamas nutzt Telegram für Propaganda, um ihre angebliche Stärke zu demonstrieren und gegen Israel und Juden zu hetzen. Sie dokumentiert als Teil des “Video Jihad” auch die mutmaßlich zivilen Opfer israelischer Luftangriffe, um das Narrativ vom David, der sich gegen Goliath wehrt, zu unterfüttern. Man hat zudem angekündigt, möglicherweise Hinrichtungen von Geiseln zu streamen. Die Washington Post vergleicht die Social-Media-Strategie mit der des Islamischen Staates (IS).
In Gaza selbst gibt es nur sehr lückenhafte und langsame Internetverbindungen gibt, die Zerstörung von Internetkabeln durch israelische Bomben hat die Situation noch einmal verschärft. Die Social-Media-Abteilung der Hamas wird deshalb bereits länger im Libanon oder Katar vermutet. Ihre Webseiten werden ebenfalls bereits länger aus Russland gehostet.
Telegram sperrte in Deutschland mehrere Hamas-Kanäle auf Ersuchen des BKA hin. Die Zahl der Follower der Kanäle, die von der Organisation betrieben werden oder ihre Botschaften betreiben, ist im Zuge der Eskalation deutlich gewachsen, der größte Kanal hat 1,4 Millionen Follower. Hinzu kommt die Verbreitung durch Sympathisanten weltweit, in offenen Kanälen wie über Dark Social.
Digitale Kommunikation & Propaganda Israel:
Israels Regierung erreicht die Öffentlichkeit vor allem durch klassische Medien, die übliche Online-Regierungsarbeit und Formate wie Statements oder Briefings. Inzwischen hat das Außenministerium allerdings mehr als 100 Video-Anzeigen bei X und YouTube geschaltet, die die Brutalität der Hamas-Kämpfer zeigt, Vergleiche zum IS zieht und Israels Recht auf Selbstverteidigung betont. Auch Video-Prerolls bei Spielen wie Angry Birds wurden gebucht. Hauptzielgruppen der Videos sind Medienberichten zufolge die USA und Europa. Auch Israel erhält aus verschiedenen Teilen der Welt Unterstützung im Social Web, allerdings nicht nur aus Motiven der Solidarität: Mit einer anti-muslimischen Botschaft verbunden klinken sich laut BBC auch reichweitenstarke Hindu-Nationalisten aus Indien in den Diskurs ein.
Haaretz (€) berichtet über die öffentliche Debatte, die die Hamas-Propaganda in Israel ausgelöst hat: Sind Armee und Regierung kommunikativ auf dem neuesten Stand? Hätten die einheimischen Sender Bilder toter israelischer Zivilisten zeigen sollen, um der Hamas nicht die Möglichkeit dieser widerwärtigen Inszenierung zu geben?
Der Soziologe Yuval Dror macht insgesamt auch eine durch Echtzeit-Vernetzung entstehende Ungeduld aus, die in den Soziale Medien erzeugt wird. Und die sei angesichts der Vorbereitung einer israelischen Bodenoffensive problematisch (übersetzt):
“Dieses Medium, das wir heute haben, macht alle viel ungeduldiger. Jeder sieht, dass unsere Soldaten bereits vor Ort sind, also fragen sie: ‘Warum gehen sie noch nicht rein?’ Niemand hat Geduld, weil das Gefühl dominiert, dass die Dinge gerade jetzt passieren. In früheren Kriegen wusste man nicht, was in einem bestimmten Moment geschah, weil es Zeit brauchte, bis die Informationen eintrafen. Aber der schnelle und endlose Informationsfluss, den wir jetzt haben, erzeugt diesen Effekt von ‘Yalla, worauf warten sie noch?’
Mir kommt es vor, als hätten alle weniger Geduld – die Politiker, die Armee, die Familien, die Soldaten, wir Zivilisten – und ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Nachricht ist. Denn ich befürchte, dass dieser Druck alle betrifft, einschließlich der Entscheidungsträger. Es gibt viel Druck, schnell zu handeln. Und bei einem Ereignis dieser Art, in einem Krieg, hat die Eile der Teufel gesehen.”
Die Social-Media-Debatten
Ich kann die Diskussion hier nicht in Gänze abbilden und verweise u.a. auf das
. Deshalb für mich nur einige der zentralen Aspekte:Der fortgesetzte Niedergang des Ökosystems für Echtzeit-Informationen bei X/Twitter, ausgelöst durch unzureichende Filter und Moderation, abgeschaffte Authentizitätsmarker (führt zu neuen Phänomemen wie “Fake-OSINT-Operationen”) und auch fehlenden Alternativen in Breaking-News-Szenarien.
Die Frage, wie sehr und nach welchen Mechanismen gerade Kriegs-, Propaganda- und sonstige Gewaltinhalte in die TikTok-Timelines gespült werden.
Fragen von Auslegung der Hausregeln und Gesetze im Kontext Meinungsfreiheit. Und das in Echtzeit während eines Krieges, der global zur Meinungsäußerung einlädt.
Die Rolle von synthetischem Content bei der Verbreitung von Narrativen, Desinformation und Propaganda.
Telegrams Rolle als Werkzeug der Hamas und der Umgang in den verschiedenen Jurisdiktionen damit.
Der Umgang der Plattformen mit Desinformation. Thierry Breton hat IMO mit seinen Wortmeldungen zwar schlagzeilenträchtig, aber ungeschickt agiert. Im DSA geht es darum, ob die Plattformen Instrumente zum Umgang mit Desinformation haben und diese ausreichend einsetzen. Breton dagegen lässt den Eindruck zu, seine Behörden wollten konkret Einfluss darauf nehmen, dass die Plattformen Content unterdrücken, der mit Hamas sympathisiert. Am besten ist der Kern der Anforderungen an die Plattformen im Brief an YouTube skizziert. Es wäre seriöser gewesen, das ganz normal über den behördlichen Dienstweg zu adressieren. (Zur Moderation von Desinformation siehe u.a. auch Ausgabe #12 und Ausgabe #22)
Ich habe ehrlich gesagt noch kein komplettes Bild der Lage. Da uns das Thema leider begleiten wird, versuche ich das Feld demnächst sicher einmal genauer zu kartographieren.
In einer idealen Welt könnten wir jetzt die Narrative, Verstärker und Datenströme transparent wissenschaftlich in Echtzeit untersuchen und Schlüsse daraus ziehen. Aber diese Informationen liegen weiterhin exklusiv bei den Plattformen, wir selbst bekommen immer nur Ausschnitte mit. Selbst die Öffnung durch den DSA wird keine “Echtzeit”-Forschung ermöglichen. Dabei erscheint so etwas - ich wiederhole es - dringender denn je.
Links
KI: Ein Transparenz-Index für Foundation Models.
Es ist nicht zu spät für soziale Medien, die ein echter “digitaler Marktplatz” sind. ($)
Zum Verhältnis von Mikrochip-Exportverbot und Moore’s Law.
Machine Learning in der Archäologie. ($)
Hologramme werden besser und billiger.
EU-Kommission legt Strategie zur Abwehr ziviler Drohnen vor.
XL-Entlassungen bei StackOverflow, Bandcamp und Nokia.
Trust & Safety Tycoon: Führe dein Content-Moderationsteam zum Erfolg!
Wer es hierhin geschafft hat: Vielen Dank fürs Lesen vor dem / am Wochenende, das passiert ja selten bei Newslettern. Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes