Kurzbeobachtungen rund um die Digitalisierung.
Transatlantisches Tech-Verhältnis
Das “Trade and Technology Council” (TTC) wird gerade zum wichtigsten Forum der transatlantischen Zusammenarbeit stilisiert. Was sich zumindest sagen lässt: Dass EU und USA die technologischen Russland-Sanktionen offenbar weitestgehend dort koordinierten, signalisiert ein wachsendes Gewicht.
Das zweite Treffen Anfang der Woche in Paris machte klar, was unter Koordinierung in Digitalthemen zu verstehen ist - und was nicht. Dort wurde ein gemeinsames Warnsystem für Störungen der Lieferketten von Technologieprodukten beschlossen.
Im Digitalbereich sind das Ausgangsprodukte für Mikrochips, aber im Energiebereich z.B. auch Materialien für Solarpanels. Ziel ist, hier weniger erpressbar zu werden (ursprünglich von China, jetzt auch von Russland). Unter dem Strich deutet sich bei den Halbleitern an, dass Europa und die USA eher komplementär handeln wollen, als sozusagen “block-interne" Liefer- und Produktionsketten aufzubauen. Das ist nach den vergangenen anderthalb Jahre ein Fortschritt.
Die Zusammenarbeit hat allerdings ihre Grenzen. Denn, darauf verweist der Handelskolumnist Alan Beattle in der Financial Times: Das TTC ist eben kein Vorverhandlungsgremium für einen transatlantischen Handelsvertrag (bei dem dann auch Digitalregulierungen harmonisiert werden könnten). Sondern ein Konstrukt, dessen gepriesene “Flexibilität” eher der Tatsache geschuldet ist, dass XXL-Handelsverträge politisch inzwischen auf beiden Seiten des Atlantiks schwer zu vermitteln sind.
Und, oh wie liebe ich diesen Gossip, am Ende geht es auch um Eitelkeiten. Zitat aus der Kolumne.
“The atmosphere has been a lot more positive than the first one, in Pittsburgh in September last year. For one thing, France, which came close to sabotaging the last one, is much more enthusiastic now. First, it’s hosting the meeting. Second, the techno-interventionist French internal markets commissioner Thierry Breton, who was excluded from the Pittsburgh meeting, has been allowed a walk-on part, if not actually chairing the thing, this time.”
Beattle weist auch darauf hin, dass bei Subventionen für die Halbleiter-Produktion zwar Transparenz verabredet wurde - aber eben keine Höchstgrenzen oder Koordinierungsschritte. Und die Verhandlungen über das neue Privacy Shield zum Schutzniveau beim transatlantischen Datentransfer finden auch nicht im TTC statt.
Und ganz ähnlich erinnert Politico daran, dass dieses Mal zentrale Themen ausgespart wurden. Denn zum Beispiel gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Umgang mit China oder zur Regulierung der großen Digitalkonzerne. Konkrete Beschlüsse bei den kniffligen Themen werden nun beim dritten Treffen im Dezember erwartet.
Mein Eindruck aus der Ferne: Bei der Digitalblock-Bildung rücken Brüssel und Washington etwas enger zusammen. Aber die Gemeinsamkeiten haben durchaus Grenzen - und sind angesichts eines möglichen America-First-Präsidenten ab 2025 dann mittelfristig doch wieder unter Vorbehalt zu betrachten.
Online-Radikalisierung - ein hilfreiches Konzept?
Der rassistische Anschlag von Buffalo, die Online-Historie des Terroristen und die Ausstrahlung der Morde via Twitch rücken einmal mehr das Thema Online-Radikalisierung in den Mittelpunkt. Nur wenige Tage zuvor hatte (leider passenderweise) das “Center for Information, Technology, & Public Life” an der UNC Chapel Hill einige Tage zuvor eine ausführliche Literaturstudie zu rechtsextremer Online-Radikalisierung in den USA veröffentlicht. Einige Punkte daraus (via Studien-Querlektüre, Co-Autorin Alice Marwick auf Twitter und im Podcast von Tech Policy Press):
Es gibt keinen speziellen Charaktertypus, der für Radikalisierung empfänglich ist. Die meisten Menschen, die politische Gewalt verüben, haben keine psychischen Krankheiten und sind nicht sozial isoliert.
Radikalisierung verläuft schrittweise, über die langsame Annahme von Identitäten, Emotionen und Interpretationen aus einer extremen Community. Der oft wahrgenommene “Red-Pill-Moment” ist in Wahrheit eher mit dem vergleichbar, was wir aus der Religion als “Bekehrung” kennen.
Das Internet spielt bei der Radikalisierung keine singuläre Hauptrolle, sondern funktioniert im Konzert mit Politikern/Politikerinnen und hyper-parteiischen Medien, die extremistische Haltungen per “Mainstreaming” auch über die Internetkultur hinaus verbreiten.
“Online-Radikalisierung” als Konzept ist insgesamt wenig hilfreich, so das Fazit. Die Autoren nennen dabei sechs Gründe:
Der Begriff sei analytisch nicht präzise und vermische Verhalten und Ideologie.
Der Begriff sei normativ und verkenne, dass rassistische, frauenfeindliche und xenophobe Haltungen in den USA durchaus verbreitet sind.
Der Idee der Online-Radikalisierung liege ein vereinfachtes Modell von Medienwirkung und des Internets zugrunde.
Der Begriff schenke Problemen unterhalb politischer Gewalt zu wenig Aufmerksamkeit.
“Online-Radikalisierung” ignoriere konkrete Prozesse, die zur Annahme einer anti-normativen Welterklärung führen.
Der Begriff sei nicht zu trennen von trennen von Sicherheitspolitik und Anti-Radikalisierungs-Strategien nach 9/11 (CVE - Counter Violent Extremism). Das aber führe in einen ganz anderen, problematischen Kontext.
Ich lasse das einmal so stehen, weil ich selbst erst über diese Einordnungen nachdenken muss, die natürlich sehr amerikanisch geprägt sind. Mir scheint allerdings zumindest deutlich, dass wir mehr Forschung brauchen. Und zwar nicht nur per Ex-Post-Zugang per Datenzugang, sondern - wie diese Studie über das nicht belegte Phänomen “moralischer Ansteckung” in sozialen Netzwerken zeigt - wahrscheinlich sogar in Echtzeit-Netzwerkanalysen.
Interessant fand ich im Podcast übrigens Marvicks Einordnung der Plattform-Verantwortung in den USA (sorry für das lange Zitat, Fettungen von mir):
“When it comes to social platform responsibility it’s really difficult, because as you know social platforms will say that they are just hosting this content, they are not providing editorial functions, they don’t have… The scope and scale of the sheer amount of content on a site like YouTube means that there’s, realistically, no way for content to be moderated at the level that it might need to be in order to make sure that this type of messaging isn’t promoted. I think, also, it’s important to remember that a lot of this messaging is really mainstream. The idea that immigrants are dangerous is found all over the place. Even though it may not be accurate it is a mainstream talking point and part of mainstream political rhetoric.
How do you cut that off without violating people’s free speech rights? How do you cut that off without making it seem like you’re biased against a particular point of view? Because the lines between mainstream and extremist rhetoric are so porous, I think it’s a real challenge. One of the things that I want to do with my work is point out the porosity of this and say we need to stop thinking about this stuff as extremist, we need to stop thinking about this stuff as radical, and start grappling with and reckoning with the fact that ideas that just 10 years ago would have been seen as unspeakable are now things that people encounter every day.
What are the implications of that? Unfortunately, I think one of the implications of that is that we’re going to see increased justification for political violence and more propensity for things like the January 6th attacks.”