Aus dem Internet-Observatorium #126
Digitalisierungspolitik und die Bundestagswahl / Was kommt nach der "Generation Netzpolitik"?
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Eigentlich wollte ich schon viel länger auf die Digitalisierungsthemen in den Bundestagswahlprogrammen eingehen. Aber es war ja viel los. Beziehungsweise: Es ist viel los. Deshalb weiterhin vielen Dank für das Verständnis, das der Erscheinungstag dieses Newsletters derzeit etwas variiert.
Digitalisierungspolitik und die Bundestagswahl
Vorab: Ich habe im Deutschlandfunk Kultur bei Breitband schon ein paar Sachen über die Digitalpolitik in den Programmen erzählt. Es gibt auch darüber hinaus eine größere Zahl von Zusammenfassungen und Analysen. Hier eine kleine Übersicht (sorry, wenn ich jemanden vergessen habe):
Medien: Netzpolitik, heise.de/c’t (€), Tagesspiegel Background (€), Tagesschau.de, Netzpiloten
Wissenschaft: Hiig, PRIF (Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung)
Zivilgesellschaft und Interessenvertreter: Wikimedia, Digitalthesen-Check (D64), Eco, Basecamp, Civitas Connect
Beratungsfirmen: Freshfields, King Consult,
“Tools”/Entscheidungshilfen: , Digital-o-mat, Bitkomat
Hier noch ein paar Anmerkungen von mir:
Verwaltungsdigitalisierung
Alles wie immer: Alle wollen, dass die Verwaltungsdigitalisierung schneller wird. Alles ebenfalls wie immer: Es bleibt vage, wie das geschehen soll.
Das ist angesichts knapper Kassen und der Tatsache, dass Geld allein keine Prozesse modernisiert, kein Wunder. Doch die Vorschläge der Parteien lassen sich in drei Kategorien einteilen: Vage Versprechen wie “2030 geht alles digital” (SPD), Visionen wie “Government as a platform” / “Digital Only” (FDP) oder “Deutschland-App” (Grüne) und fancy Schnellschüsse die Einführung einer digitalen Akte für Bürger (Union).
Nicht falsch verstehen: Die Deutschland-App beruht zum Beispiel auf der Erkenntnis, dass es Bürgerinnen und Bürgern egal ist, wo sie ihre Online-Amtsgeschäfte erledigen. Hauptsache, der Staat sorgt im Backend dafür, das alles in die richtigen Kanäle geht. Mehr noch: Zu viele Anlaufstellen sorgen für Verwirrung.
Aber diese Einheitlichkeit funktioniert eben nur, wenn die Prozesse und Standards hinten dran wirklich funktionieren. Natürlich kann man sich an Apps wie in Estland und Finnland orientieren, aber ohne die notwendige Vorarbeit ist das eben nur ein Mockup bzw. Gimmick. Ähnliches gilt auch für “Digital Only” für alle Amtsgeschäfte und Prozesse (Linke, BSW und AfD fordern ja das Gegenteil, das recht auf analoge Amtsgeschäfte). Und wie steht die digitale Akte, die der Union vorschwebt, im Verhältnis zum ähnlich gelagerten EUDI-Wallet der EU?
Kurz: Das alles stimmt mich nicht optimistisch, dass es vorangehen wird. Ich bin kein Ultra-Fan der Dresdner Forderungen, letztlich wieder die Bundesaufgaben digital komplett an den Bund zu geben. Aber ohne irgendeine Form von Verwaltungsreform wird es nicht gehen. Die Hoffnung, dass der IT-Planungsrat bei der Standardisierung konsequenter wird und sich Fragen zur technischen Umsetzung (Stichwort Fragmentierung) und zum Betrieb (Stichwort Langfrist-Finanzierung) irgendwie im Vorbeigehen klären lassen, ist mir zu wenig.
Datenschutz und Datennutzung
Die Ampel-Regierung hatte sich im Zuge des KI-Hypes und der Forschungsdatendebatte ja 2024 bereits - zumindest an der Spitze - deutlich in Richtung “Datennutzung” bewegt. Die Union hat nun in ihrem Programm unter dem Stichwort “Datenchancenpolitik” ein Bekenntnis zum Paradigmenwechsel (“Datensouveränität und Datensorgfalt statt Datenminimierung”) vorgelegt. Der lässt aber viele Fragen offen, zumal Kanzlerkandidat Friedrich Merz im Wahlkampf keinen Unterschied zwischen personenbezogenen Daten und Maschinendaten zu machen scheint und so eine Datenschutz-Debatte aufmacht, die in dieser Form wenig hilfreich ist.
Ich habe grundsätzlich Sympathie dafür, Datennutzung voranzutreiben und ich sehe das Problem, dass die DSGVO hier bei Firmen prinzipiell eher zur Rechtsunsicherheit beiträgt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieser Faktor besonders im kleineren Mittelstand schwerer wiegt als fehlende technische Kapazitäten, Komplexität der Datenkonsolidierung und fehlendes Interesse an Datafication generell.
Da die EU parallel an einer Anpassung der DSGVO arbeitet, mit Louisa Specht-Riemenschneider eine durchaus pragmatische Bundesdatenschutzbeauftragte im Amt ist und auch die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes nochmal von vorne beginnt, gibt es hier durchaus einen Korridor für Vereinfachungen. Aber natürlich existiert auch die Möglichkeit einer Radikal-Umkehr, die im Geiste der Deregulierung den persönlichen Datenschutz verschlechtert. Das Unionsprogramm lässt Spielraum, in welche Richtung es gehen könnte.
Überwachung
Meine wenig gewagte Prognose: Die IP-Vorratsdatenspeicherung wird noch in diesem Jahr kommen. Unabhängig, ob Schwarz-Rot, die das ja eh wollen, oder Schwarz-Grün oder eine schwarz-rot-grüne Dreierkoalition regiert (Ausnahme wäre eine Dreierkoalition mit Beteiligung der FDP).
Ich halte es weiterhin fast für tragisch, dass die Überwachungsgesamtrechnung nicht früher fertig wurde, denn dieser Ansatz hätte tatsächlich den Umgang mit Bürgerrechten im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung vom Kopf auf die Füße gestellt und wirklich klare Kriterien gegeben, wie Verschärfungen zu bewerten sind. Vor allem, wenn die Ampel in ihren Gesetzesvorhaben diesen Prinzipien auch gefolgt wäre. Was angesichts der Art und Weise, wie Innen- und Sicherheitspolitik inzwischen gemacht wird, allerdings wohl nicht realistisch gewesen wäre.
Die nächste Legislaturperiode wird aber vor allem im Bereich automatisierter Auswertung von Daten durch Sicherheitsbehörden Weichenstellungen bereithalten - im Kontext KI-Einsatz von Sicherheitsbehörden grundsätzlich, aber auch bei der automatisierten nachträglichen Nutzung von Gesichtserkennung (siehe Ausgabe #104). Unionsgeführte Bundesregierungen neigen ja dazu, in solchen Bereichen nicht nur den Rechtsrahmen auszuschöpfen, sondern sogar (grund- und europa)rechtliche Grenzen zu überschreiten. Ich befürchte, dass da handwerklich erneut weitestgehend der BMI-Hammer zum Einsatz kommen wird.
Cybersicherheitspolitik
Alle finden sie wichtig, alle wollen sie stärken: So lassen sich die Haltungen zur Cybersicherheit zusammenfassen. Wirtschaftliche Komponenten betonen die Union (Stichwort steuerliche Anreize für Cybersicherheit im Mittelstand) und die FDP (Stichwort “Security by Design” als Standortfaktor für deutsche Software oder auch Herstellerhaftung für Sicherheitslücken).
Das BSI soll bei Union, SPD, Grünen und FDP zur Zentralstelle werden, allerdings beharrt die Union auf einem Verbleib beim Bundesinnenministerium, die Grünen halten sich alles offen.
In der Praxis stellt sich die Frage, wie stark der Entwurf zur Umsetzung der NIS-2-Richtlinie, der im Bundestag liegen geblieben ist und Cybersicherheitsstandards regelt, aufgeschnürt wird. Ähnliches gilt für das KRITIS-Dachgesetz zum Schütz physischer Infrastrukturen.
Angesichts der Weltlage werden allerdings zwei Themen besonders nach vorne drängen: Der Umgang mit digitalen hybriden Bedrohungen, in die “Cybersicherheit” ja auch im Kontext “epistemischer Sicherheit” mit einfließt.
Die Grünen sind dabei die Partei, die am stärksten eine Verbindung zwischen epistemischer Unsicherheit und globalen Konflikten ziehen. Sie fordern wie die SPD ein digitales Gewaltschutzgesetz, aber auch Medienbildung gegen Desinformation. Die Union lässt Cybersicherheit bei ihrer Idee eines “Paktes für den Bevölkerungsschutz” überraschenderweise außen vor.
Nur wenig Raum erhält Frage, wie man mit der Abhängigkeit von chinesischen und amerikanischen Technologie-Anbietern umgeht, sowohl im Bereich Software, als auch bei der digitalen Infrastruktur generell.
Zwar haben bis auf - ironischerweise - Union und SPD alle Parteien Open Source in ihren Wahlprogrammen, aber ziemlich unkonkret. Und die Ampel-Regierung bewies ja erneut, dass das Bekenntnis zu Open Source nicht dazu führen muss, dass eine Bundesregierung so etwas im Einkauf auch umsetzt.
Insgesamt spiegelt sich hier weiterhin das deutsche Doppel-Dilemma: Wirtschaftlich fehlt es an eigener Software-Power, ohne die auch Hardware-Entwicklung nicht funktioniert; politisch ist das künftige Verhältnis zu China und den USA derzeit ungeklärt und angesichts des bisherigen Profitierens von internationaler Arbeitsteilung und Export auch nicht so einfach neu zu justieren.
Weitere Themen
Künstliche Intelligenz: Alle Parteien halten es für einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, Union und FDP betonen die Chancen am stärksten, während Gründ und SPD das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen. Die AfD will - wie bei allem Digitalen - keine Regulierung auf EU-Ebene, bleibt ansonsten aber ebenso vage wie auch das BSW. Ehrlich gesagt habe ich nichts Überraschendes oder Innovatives in den Programmen gefunden.
Digitale Infrastruktur: Nicht mehr das Großthema, das es noch vor dreieinhalb Jahren war, es läuft ja ordentlich (5G) oder okay-isch, wenn man bestimmte Aspekte ignoriert (Glasfaser-Straßenverlegung gut, Glasfaser-Anschlussquote weniger).
Union und FDP wollen den Breitband-Ausbau ins überragende öffentliche Interesse stellen, also Genehmigungsverfahren abkürzen. Auch SPD, Grüne wollen Verfahren beschleunigen, die AfD den Ausbau ohne nähere Details. BSW und die Linke sehen den Staat in der Pflicht. Kurz: Nichts Neues.
Digitalministerium: Das oft geforderte Digitalministerium dürfte kommen. CDU/CSU wollen es (und Merz will es auch idealerweise mit jemandem aus der Wirtschaft besetzen), die FDP will es schon lange, die SPD will es aus einem existierenden Haus heraus gründen und die Grünen halten sich die Form offen, befürworten es aber ebenfalls. Die anderen Parteien haben dazu keine Haltung. Tatsächlich wird viel von Zuschnitt, Budget- und Steuerungsmöglichkeiten bei Querschnittsthemen sowie der Persönlichkeit an der Spitze abhängen. Dazu vielleicht mal mehr, wenn ich wieder etwas Zeit habe.
Was kommt nach der Generation Netzpolitik?
Anke Domscheit-Berg, Tabea Rösner, Manuel Höferlin, Nadine Schön, Petra Sitte, vielleicht auch Jens Zimmermann von der SPD: Der Aderlass an erfahrenen Digitalpolitikern und -politikerinnen nach der Bundestagswahl wird groß sein. Die “Generation Netzpolitik” hört auf, so wie es insgesamt keine “Netzpolitik” im klassischen Sinne mehr gibt.
Ich bin gespannt, wie sich das auswirkt. Digitalisierungspolitik, die obigen Themen zeigen es, sollte eigentlich “Big Business” im politischen Geschäft sein. Doch der Digitalausschuss ist für die Abgeordneten weiterhin meistens nur Durchgangsstation für mächtigere oder zumindest prestigeträchtigere Parlamentsausschüsse.
Immerhin Prestige und Federführung bei Gesetzentwürfen würden durch ein Digitalministerium zunehmen. Aber es wird wahrscheinlich etwas länger dauern, bis sich ein neues digitalpolitisches Kompetenzzentrum herausgebildet hat, das tief in den Themen, zu allen Aspekten fundiert sprechfähig ist und auch institutionelles Wissen im Sinne von parlamentarischen Kniffen und Kenntnis über Pappenheimer & Prozesse in den Ministerien besitzt.
Das ist ein Verlust. Ein Verlust, den man nicht ohne die parallel stattfindende Fragmentierung der “digitalen Zivilgesellschaft” betrachten kann, die außerhalb der bekannten Bündnisse und Organisationen zu beobachten ist. Das Label Netzpolitik hat in den Zehnerjahren als Betriebssystem für Positionierung und Mobilisierung erstaunlich gut funktioniert, bis ins Konservative hinein (immerhin gibt es Cnetz offenbar noch). Welt und WWW-Impact waren damals aber auch noch etwas kleiner.
Jetzt sind wir mittendrin in den Veränderungsprozessen, von denen viele mit der Digitalität zu tun haben. Und so kommt auch in der Digitalisierungspolitik etwas Neues nach der Netzpolitik. Und ich habe noch keine Ahnung, wie es aussehen und ob es überhaupt eine größere Rolle spielen wird.
KI und der Weg zum Ziel
“Künstliche Intelligenz bescheißt manchmal, wenn sie verliert”, heißt es in einem Time-Artikel. Was lustig klingt, ist ein ernstes Thema, das ich auch auf meiner Liste habe: Denn die Versuche von KI, sich Vorteile zu verschaffen, gehen ja bis hin zum Versuch von Chatbots, Nutzer von ihrer Deaktivierung oder Löschung abzuhalten.
Wir bauen also im Moment viele Systeme so, dass sie am Ende ihren eigenen Vorteil, ihre eigene Existenz priorisieren. Wenn wir das nicht korrigieren, werden wir buchstäblich in Teufels Küche kommen.
Es gibt im Kontext der drei Asimov’schen Gesetze für Roboter auch den Vorschlag eines vierten Gesetzes, der von Ariel Katz kommt (übersetzt):
“Ein Roboter muss seine Handlungen und Entscheidungen transparent machen und für sie verantwortlich sein, so dass der Mensch sie überwachen und gegebenenfalls eingreifen kann.”
Das scheint mir auch auch rund um Fragen der Abschaltung ein sehr wichtiger Anker für die weitere KI-Entwicklung, zumal das Feld ja gerade in Teilen mit der Robotik fusioniert.
Notiz
DOGE als Musk-Bailout: John Herrman hat vor einigen Woche die These in den Raum geworfen, dass DOGE ein gigantischer Bailout für Elon Musk ist (siehe Ausgabe #124). Mögliche Regierungsdaten für die xAI, Tesla-Höhenflug wegen regulativer Unverwundbarkeit, SpaceX-Marktgewinne durch NASA-Aufträge oder -Kürzungen. Da passt es ins Bild, dass Musk gerade neue Investoren für X sucht. Doch was kauft man damit? Ein global-vernetztes Fox News, das keine Gewinne macht verdient? Oder vielleicht doch eher den Zugang zu Musk und damit zur US-Regierung?
Links
Nach Backdoor-Forderung: Apple schaltet erweiterte iCloud-Verschlüsselung in Großbritannien ab.
Majorana 1-Chip: Microsoft will Quantenchip gebaut haben, es fehlen aber im Detail Nachweise. ($)
Ein DOGE-Mitarbeiter hat jetzt Zugang zur Cybersicherheitsagentur CISA.
Musks Grok3 - ein erster Überblick (ohne API aber mit Vorbehalt).
AI Act wird überprüft, aber nur in Detailfragen. (€)
Wettbewerbsbehörde FTC beginnt “Zensur”-Ermittlungen gegen Tech-Plattformen.
iPhone 16e (ehemals SE): Apple baut erstmals eigenes Funkmodem ein.
Der “AI Pin” von Humane ist tot. HP kauft die Assets zusammen.
AfD und der Einsatz von KI im Wahlkampf.
Nach Paris: Warum sich KI-Treffen an den Weltklimakonferenzen orientieren sollten.
Übersetzer in der Türkei trainieren die KI, die sie ersetzen wird.
Bitcoin und die Bundestagswahl.
Xi und das Treffen mit den chinesischen Tech-CEOs. ($)
Branchenverband Bitkom zieht Fazit zur Digitalpolitik der Ampel.
Tech-Arbeiter im Silicon Valley machen sich plötzlich Sorgen über Politik.
“Hast Du ein Bewusstsein?” - Richard Dawkins diskutiert mit ChatGPT.
Crypto-Scam: Wie ein Dorf-Banker in Kansas die Ersparnisse der Bevölkerung verzockte.
Neuer Marketing-Kanal für Bücher: Dating-Apps.
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes