Aus dem Internet-Observatorium #102
Very Online Wahlkampf: Was bringt er? / Generative KI im Herbst des ersten Hypes: Drei Perspektiven
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Programmhinweis: Im August könnte dieser Newsletter je nach Nachrichtenlage unregelmäßiger erscheinen.
Very Online Wahlkampf: Was bringt er?
Kamala Harris hat Rückenwind, oder zumindest: Memes im Rücken. Kaum ein Medium, das in der vergangenen Woche nicht über “Brat” und Kokosnuss-Emojis berichtet hätte. Die Botschaft: Es gibt einen Harris-Hype. “Alle progressiven Meme-Krieger sind im Moment ganz aus dem Häuschen”, sagt der Betreiber einer progressiven Facebook-Seite der New York Times.
Es ist ein Hype, den die den Demokraten zuneigenden Medien nicht nur aufgreifen, sondern auch verstärken - am deutlichsten hier das New York Magazine:
Interessant, mit Blick auf die Mechanismen der “Internet-Kultur”: Die Forderung aus dem Kreis ihrer Gen-Z-Anhänger an Harris, sich die Memes auf keinen Fall zu eigen zu machen (“Du darfst die vierte Wand nicht durchbrechen!”). Es ist eben ein schmaler Grat zwischen Hype und “sich zu sehr anstrengen”. Ein Beispiel dafür ist die Idee von Joe Bidens Wahlkampf-Team, Ende vergangenen Jahres Kaffeetassen mit dem Dark-Brandon-Meme auf den Markt zu bringen, präsentiert vom US-Präsidenten selbst.
Aber das ist tatsächlich alles nebensächlich.
Denn wichtig, mit Blick auf die Zukunft der USA: Hat der Meme-Erfolg überhaupt etwas zu sagen? Ist er ein relevanter Teil der Strategie?
Das Argument dafür, wie es hier bei MSNBC formuliert wird, lautet: Die GenZ informiert sich über TikTok und Instagram, insofern sind virale Momente und Memes eine gute Gelegenheit, Kandidaten und Kandidatinnen bekannter zu machen und letztlich die “junge Wählerschaft™” zu mobilisieren (und derzeit in Zoom-Calls zu versammeln). Immerhin: Wenn die Jungwähler schon mit der Nahost-Politik der US-Regierung unzufrieden sind, können sie zumindest Kamala Harris kultig finden.
Okay, das war etwas snarkig und zeigt bereits, dass ich skeptisch bin. Nicht, was die Jungwähler betrifft, aber was die Relevanz für die wenigen Millionen von Wählern in Wechselwähler-Staaten betrifft, die wie immer die Wahl entscheiden werden.
Die Demokraten haben zwei Modelle für Online-Strategien im Präsidentschaftswahlkampf: Einmal Barack Obama, der in seiner ersten Kampagne bereits ikonische Bilder produzierte, in seiner zweiten Kampagne dann über Social Media ein Image des “Digital Cool” verkörperte (inklusive Fandom-Memes). Und auf der anderen Seite Hillary Clinton, um die ihr Team und auch Prominente 2016 eine Form von Meme-Wahlkampf strickten, der zwar spannend aussah und Aufmerksamkeit erzeugte, aber letztlich die Unbeliebtheit der Kandidatin bei Wechselwählern nur übertünchte.
Der linke Politikkultur-Kritiker Freddie deBoer warnt in seiner präzise-fiesen Art davor, diesen Fehler erneut zu begehen (übersetzt und gefettet):
“All die augenzwinkernde, selbstgefällige Meme-Politik, die derzeit betrieben wird, ist nützlich, wenn man den Sieg auf Bluesky davontragen will, aber völlig nutzlos, wenn man viele unserer dümmsten Wähler auf die Weide der demokratischen Partei treiben will. Wenn Harris gewinnen will, sollte sie auf keinen Fall eine Meme-Kandidatur wie die von Robbie Mook im Jahr 2016 umsetzen, bei der Hillarys Agenda hinter einer nicht enden wollenden Prozession glamouröser Promi-Fototermine und dem Versuch, die Kandidatin zur coolen Oma Amerikas zu machen, zurücktrat.”
Das heißt noch nicht, dass Kamala Harris auf dem Weg in die Sackgasse eines Very-Online-Wahlkampfs ist. Aber die Gefahr ist durchaus groß, Erfolge unter Sympathisanten mit Sympathiegewinnen über die progressive Wählerschaft hinaus zu verwechseln.
Gute Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen wissen nicht nur, wie sie ein gewisses Charisma ausstrahlen und neben Nahbarkeit auch Überzeugungen vermitteln, in denen sich Menschen wiederfinden. Sie haben auch ein Gespür dafür, welche Themen die erreichbaren Unentschlossenen gerade bewegen und mit welcher Sprache sie Gehör finden, wenn sie über diese Themen reden.
Das ist etwas mehr, als politische Gegner als Weirdos zu framen und den Shitpost-Wettbewerb zu gewinnen. Ob Kamala Harris die Eigenschaften einer guten Präsidentschaftskandidatin aufweist oder nur das Zeug zur Memeworld-Präsidentin hat, wird hoffentlich in den kommenden Wochen etwas klarer.
Linktipp: Mehr Einschätzungen zu Kamala Harris in meinem “anderen” Newsletter oder meinem Blog.
Generative KI im Herbst: Drei Perspektiven
So hohe Investitionen in generative KI, so wenige überzeugende Geschäftsmodelle: Die Wall Street wird langsam nervös. Dazu passen zwei Zahlen: Die Analysten von New Street Research erwarten, dass Alphabet, Meta, Amazon und Microsoft dieses Jahr zusammen 104 Milliarden US-Dollar für KI-fähige Rechenzentren ausgeben werden.
Und OpenAI wird Schätzungen von The Information zufolge dieses Jahr bis zu fünf Milliarden Dollar Verlust machen. Das sind ähnliche Dimensionen, wie wir sie zeitweise bei Uber erlebt haben (Verlust 2022: 6,7 Milliarden US-Dollar).
Erwarteten Einnahmen von 3,4 Milliarden US-Dollar stehen bei OpenAI unter anderem Ausgaben von vier Milliarden für Rechenkraft-Miete an Microsoft, drei Milliarden für Training (inklusive Lizenzdeals für Daten) plus 1,5 Milliarden Dollar Personalkosten gegenüber. Ed Zitron kalkuliert (etwas aus der hohlen Hand), dass OpenAI in den nächsten zwei Jahren 20 Milliarden US-Dollar Investment bräuchte, um wettbewerbsfähig zu bleiben, sowie weitere 20 Milliarden US-Dollar, um um die Marktführerschaft kämpfen zu können.
Generative KI ist also seeeeeehr kapitalaufwendig (wie hier schon mehrmals thematisiert). Doch die Endprodukte, die daraus entstehen, sind derzeit noch nicht epistemisch stabil - also mit einer geringen Fehlerquote, wie sie für solche Produkte notwendig oder zumindest wünschenswert wäre.
Matteo Wong fasst im Atlantic die Unsicherheiten und faktischen Probleme so zusammen (übersetzt):
“Die Hauptschwächen von KI-Produkten, wie die Tendenz, falsche Informationen zu erfinden, könnten dazu führen, dass sie in bestimmten Bereichen - Gerichte, Krankenhäuser, Behörden, Schulen - nicht oder nur unter strenger menschlicher Aufsicht eingesetzt werden können. Ein großer Teil der menschlichen Arbeit ist Handarbeit, die durch Software nicht annähernd ersetzt werden kann. Ob die Skalierung von KI-Modellen auch absehbar zu deutlich besseren Ergebnissen führen wird, ist höchst umstritten. Und die Analogie zwischen KI und Atombombe ist zwar anschaulich, aber kein Fahrplan für ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Trotz des Geredes von der generativen KI als einer wirklich epochalen Technologie könnte sie eher mit der Blockchain vergleichbar sein, einem sehr teuren Instrument, das sein Versprechen, die Gesellschaft und die Wirtschaft grundlegend zu verändern, nicht einlösen wird.”
Er hat in einen Punkten sicher recht. Und artikuliert damit die pessimistische Sichtweise auf die Technologie, die immer deutlicher den Diskurs bestimmt. Letztlich gibt es drei Folien, die man über das gegenwärtige Geschehen legen kann.
Die pessimistische: “Generative KI ist wie Blockchain oder Virtual Reality” - die Investitionskosten sind zu hoch, das Produktziel zu unklar, der Nutzen für Firmen und Personen obskur, die Qualität zu schlecht (siehe “OpenAI Search”). Hinzu kommen ungeklärte urheberrechtliche Fragen und die Klimafolgen durch den Energieverbrauch. Und überhaupt die Frage “Cui bono?”. Übersetztes Zitat aus einem Rant von Jimmy Hartzell:
“Wenn man mehr ausgibt als für das Manhattan-Projekt oder das Apollo-Projekt, muss man Ergebnisse erzielen, die mit Atomwaffen und Energie oder der Landung von Menschen auf dem Mond vergleichbar sind. Und selbst dann lohnt es sich wahrscheinlich immer noch nicht als private Investition.”
Die optimistische: Die Plattformen von morgen werden auf generativer KI aufbauen, die Investitionen werden sich lohnen, weil in den nächsten Jahren der (kostenpflichtige) Zugang zu den APIs für Infrastruktur, Dienstleistungen und Entwicklungskapazitäten für viele Wirtschaftszweige relevant wird und auch private Endnutzer beginnen werden, ihre Geräte unter einem anderen Paradigma zu nutzen.
Die neutrale: Wie in Zeiten des Dotcom-Booms wird es eine Korrektur geben. Dann wird sich herausstellen, welche Akteure das Amazon sind (oder bleiben) und welche das Pets.com. Die Infrastruktur - vor allem Open-Source-Modelle - wird Grundlage für kleinere Modelle und Nischenanwendungen sein, die nach und nach Automatisierungen in immer weiteren Bereichen ermöglicht.
Alle drei Folien haben eine gewisse Plausibilität - und selbst wenn zum Beispiel die neutrale Version Realität wird, macht das die Kritik der pessimistischen Variante nicht obsolet - genau wie die verbrannten Investoren-Milliarden für Uber sicherlich aus gesellschaftlicher Sicht anderswo besser eingesetzt worden wären.
Und auch die optimistische Prognose würde ja nicht unbedingt eine bessere Welt für alle bedeuten, sondern vielleicht eine einfachere Welt für Digitalnutzer, die mit einer starken Verschiebung volkswirtschaftlicher Wertschöpfung hin zu den KI-Plattform-Gewinnern verbunden wäre - also vermutlich auch mit einer weiteren Oligarchisierung der Welt.
Ihr merkt es, ich will mich nicht recht festlegen (weil ich es wirklich nicht einschätzen kann). Ich will allerdings an dieser Stelle nochmal daran erinnern: Generative KI nicht die einzige Form von KI. Ich hatte über das Abklingen des KI-Hypes im April dieses Jahres (Ausgabe #91) geschrieben:
Ich glaube, zwei Dinge wären hilfreich: Einmal die Differenzierung zwischen multimodalen KI-Systemen, die verschiedenen Input aufnehmen können, und an Spezialdaten trainierten KI-Systemen. Letztere erhalten zu wenig Aufmerksamkeit, weil sie schlicht einfach langweiliger sind, können aber wirtschaftlich maßgeblich zu Produktivitätssteigerungen beitragen.
Und genau solche Spezialsysteme werden in Bereichen wie Gesundheit, Logistik, Verwaltung zum Einsatz kommen und zu Produktivitätsgewinnen führen. Irgendjemand hat vorgeschlagen, solche Anwendungen dann einfach als “Machine Learning” zu bezeichnen und generative KI als KI zu bezeichnen. Ich weiß zwar nicht, ob das fachlich ganz korrekt ist - aber eine Unterscheidung erscheint mir in der aktuellen Phase des Hype-Zyklus sicherlich sinnvoll.
Notizen
Begründung des TikTok-Verbots: Das US-Justizministeriums hat erstmals eine ausführliche Begründung für die Notwendigkeit eines TikTok-Verbots vorgelegt. Michael Hahnfeld von der FAZ hält sie für überzeugend, der US-Sicherheitskorrespondent Ken Klippenstein nicht, denn alles möglicherweise Relevante ist in dem Dokument geschwärzt. Man ahnt, wem ich hier mehr Kompetenz zuweise.
Twitter/Xs Zukunft in Europa: Elon Musk erwähne ich hier ja möglichst selten, und doch kommt er immer wieder vor. In diesem Fall, weil er de facto die Wahl zugunsten der Republikaner beeinflussen möchte und sogar ein (leicht erkennbares) Deepfake von Kamala Harris bei X postete. Meine Prognose lautet weiterhin: Das mit Musk-X wird zumindest in der EU nicht mehr lange gutgehen - und spätestens die erste DSA-Strafzahlung wird zur Eskalation führen. Ich bezweifle, dass X in einem Jahr noch in Europa verfügbar ist.
Internet-Blackouts lohnen sich für Regierungen: Das zumindest ist ein Fazit, zu dem ich inzwischen komme. Eigentlich möchte man meinen, mit der globalen Verbreitung des Internets würde auch die internationale Aufmerksamkeit für Internet-Abschaltungen durch Regierungen wachsen. Aber dem ist nicht so, weder zivilgesellschaftlich, noch politisch, wie sich bereits in Tigray (siehe Ausgabe #71) und nun auch in Bangladesch zeigt: Die dortigen Studentenproteste fanden mehr oder weniger unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt, weil die Regierung für elf Tage das Internet abgeschaltet hatte. Und keine Videos zu haben, heißt heute leider: es ist nicht passiert.
Crawling up the Eskalationsleiter: Ein Thema (siehe Ausgabe #99, #46) das schon wieder ein Update verdient hätte - KI-Anbieter, deren Software das Web von vorne bis hinten abgrasen. 404 Media, in einigen Bereichen derzeit die beste Tech-Seite der Welt, berichtet davon, wie Block-Versuche von Webseiten ins Leere laufen. Der Grund: Die KI-Anbieter verändern einfach ihre Crawler so, dass sie beim nächsten Mal nicht erkannt werden. Zugleich berichtet Melissa Heikkilä für Technology Review von so genannten “Urheberfallen”, die britische Forscher entwickelt haben: Das sind…
“…versteckte Textstücke, die es Autoren und Verlegern ermöglichen, ihre Werke auf subtile Weise zu kennzeichnen, um später zu erkennen, ob sie in KI-Modellen verwendet wurden oder nicht. Die Idee ähnelt Fallen, die von Urheberrechtsinhabern im Laufe der Geschichte verwendet wurden - Strategien wie die Einfügung falscher Orte in eine Karte oder falscher Wörter in ein Wörterbuch.”
1 Zitat
“Ich glaube, wenn die Leute über KI in Regierung und Verwaltung sprechen, meinen sie eigentlich eine “gut funktionierende Infrastruktur”. Ich war vor ein paar Jahren in Finnland, und die dortigen digitalen Behördendienste sind viel besser als unsere. Ist das “KI” in dem Sinne, wie das Silicon Valley es versteht? Nicht wirklich.”
Links
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes