Liebe Internet-Beobachtende,
ein gutes neues Jahr! Ausgabe #08 erscheint aus aktuellem Anlass.
Thema der Woche: Trump im Plattform-Exil
“Ohne die Tweets wäre ich nicht hier”, sagte Donald Trump der Financial Times 2017 im Oval Office. Nun hat Twitter ihn gesperrt, und zwar anders als Facebook und Instagram nicht “bis auf weiteres”, sondern dauerhaft (und früher, als ich erwartet hatte).
“Viel zu spät”, lautet eine der erwartbareren Reaktionen. Im Rückblick ist das immer einfach, mich würde ja interessieren, welcher Moment der richtige gewesen wäre.
Denn in Realität ist das Ganze kompliziert, wie ich als ehemaliger Community-Redakteur aus eigener Erfahrung weiß. Einerseits gibt es Community-Standards, aber jeder Fall hat eben einen eigenen Kontext. Welche Rolle hat der Nutzer, wohin entwickelt sich die Community, würde sich der Diskurs verändern und wie wäre die Reaktion dort? Selbst bei kleinen Communities berühren einige Fälle auch das Strafrecht. Und da sind noch nicht einmal die politischen, unternehmerischen und firmeninternen Kontexte einkalkuliert, die bei den Plattformen eine Rolle spielen.
Ein Resultat dieser Gemengelage ist, dass Moderationsentscheidungen selten klar oder völlig “objektiv” sind. So schreibt Will Oremus über die Sperre bei den Marken von Facebook Inc. (via Mike Masnick):
“The unprecedented move, which lacks a clear basis in any of Facebook’s previously stated policies, highlights for the millionth time that the dominant platforms are quite literally making up the rules of online speech as they go along. As I wrote in 2019, there’s just one golden rule of content moderation that every platform follows: If a policy becomes too controversial, change it.”
Und auch die Twitter-Entscheidung ist eine, bei der die Firma einen sehr großen Interpretationsspielraum nutzt. Konkret geht es um diese beiden Trump-Tweets:
“The 75,000,000 great American Patriots who voted for me, AMERICA FIRST, and MAKE AMERICA GREAT AGAIN, will have a GIANT VOICE long into the future. They will not be disrespected or treated unfairly in any way, shape or form!!!”
“To all of those who have asked, I will not be going to the Inauguration on January 20th.”
Die Twitter-Argumentation für die Sperre: Diese beiden Tweets könnten als Aufruf zur Gewalt verstanden werden, weil Trump signalisiere, dass er nicht zur Amtseinführung Bidens kommt und seine Anhänger die Veranstaltung entsprechend angreifen dürften.
Das ist sehr viel stärker Auslegungssache als Trumps bekanntes “When The Looting Starts, the Shooting Starts”. Allerdings gibt es eben auch einen Kontext, nämlich den Sturm auf das Kapitol vom Mittwoch. Und der Looting-Tweet führte ja damals auch erstmals zu einem Flagging, es gibt also auch eine Verwarnungs-Vorgeschichte.
Ob jetzt ein Anlass für die Sperre gefunden wurde, um Trumps fortgesetzte Tiraden (und mögliche Folgen In Real Life) zu unterbinden oder glaubwürdige Hinweise auf weitere Gewaltaktionen die entscheidende Rolle spielten: Wie genau hier intern abgewogen wurde, lässt sich von außen nicht sagen.
Die Sperre und ihre Begründung machen aber nochmal klar: Es geht eben nicht um die Historie von Trumps Lügen, seine Hetze und Verschwörungstheorien, sondern konkret um Gewaltaufrufe. Das ist der kleinste Nenner, aber für Facebook und Twitter die stabilste Basis, ein solches Vorgehen zu rechtfertigen. Die Kritiker, die “wieso nicht vor vier Jahren?” fragen, beziehen sich aber auf das Gesamtpaket: Trump, den Demagogen.
Einen wichtigen Kontext-Faktor für Moderationsentscheidungen habe ich oben ausgelassen: Donald Trump ist der Präsident der Vereinigten Staaten. Er ist per Definition ein Sonderfall. Und das verkompliziert die Sache noch einmal.
Zwei Perspektiven, um die Komplexität deutlich zu machen. Die erste: Ein Geschichtsbuch aus dem Jahr 2070. Nehmen wir an, dass es kein Geschichtsbuch von Fans des Autoritarismus ist: Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Leserschaft den Kopf schütteln wird - wie konnte man dem gefährlichsten Demagogen des frühen 21. Jahrhunderts nur ein globales Megafon in die Hand drücken?
Die zweite Perspektive: Nehmen wir an, dass SAP Twitter entwickelt hätte und wir in Deutschland eine ähnliche Figur wie Trump hätten. Mit ähnlichen Aufrufen und Ereignissen wie in den vergangenen Tagen. Würden wir uns wirklich zuerst an “SAP-Twitter” wenden, um diesem Kanzler/ dieser Kanzlerin Einhalt zu gebieten? Oder würden wir uns nicht auf entsprechende Strafgesetze beziehen und, vor allem, auf den Bundestag setzen? Konkret, dass das Parlament per Misstrauensvotum zur Amtsenthebung schreitet und/oder die Immunität aufhebt? Die Tragödie der USA ist nämlich das Versagen der Institutionen, speziell der Republikanischen Partei und des US-Kongresses. Es hätte niemals so weit kommen müssen.
Ich habe für das Beispiel mit SAP ein deutsches Unternehmen gewählt, denn auch mit dem Heimatland einer Firma verbinden sich Konflikte: Twitter, Facebook und Google sind US-Unternehmen, Trump der US-Präsident. So weit, so gut. Aber nach Trumps Sperre werden jetzt die ersten Forderungen laut, den iranischen Klerikal-Diktator Ayatollah Chamenei abzuschalten.
Argument A: Chamenei ruft zur Zerstörung Israels auf. Das tut er, in Einzelfällen auch auf Twitter. Argument B: Chamenei ist ein Diktator, der sein Volk unterdrückt und deshalb keine Plattform erhalten darf. Sowohl (A), als auch (B) werfen die konkrete Frage auf: Sprechen wir vom Eingriff eines US-Unternehmens in innere Angelegenheiten eines anderen Landes? Dem lässt sich - wie dem Zensurargument bei Trump - entgegnen: Die Plattformen sind Privatfirmen, Chamenei kann sich (wie Trump) überall sonst zu Wort melden (Twitter ist offiziell im Iran ohnehin gesperrt). Free Speech does not mean Free Reach - freie Meinung heißt nicht kostenlose Reichweite. Dennoch wäre eine Chamenei-Sperre auch eine hochpolitische diplomatische Angelegenheit.
Begründung (B) zeigt wiederum auf, dass wir uns längst auf tech-hoheitlichem Territorium befinden: Nur die Plattformen können für Politiker eine direkte, unvermittelte globale Reichweite herstellen. Die Entscheidung, Diktatoren wegen ihrer Politik außerhalb Twitters/Facebooks/etc. von den Plattformen zu verbannen, wäre… schlicht eine politische.
Hier zeigt sich die Schizophrenie einer gegenwärtigen Grundhaltung: Einerseits wird kritisiert, dass die Plattformen zu viel Marktmacht haben und gefordert, sie sollten deshalb zerschlagen werden. Gleichzeitig erheben oft die selben Leute die Forderung, dass die Plattformen ihre Marktmacht nutzen und in Kalifornien einen Knopf drücken, um politische Reichweite zu drosseln. Aber sobald sich die Plattformen auf das Spiel einlassen, die Chameneis und Maduros dieser Welt wegen ihrer Politik zu sperren, werden sie nicht nur zu geopolitischen Akteuren. Sondern sogar zu geopolitischen Schiedsrichtern.
Politische Akteure sind sie natürlich bereits: Die Trump-Sperre fällt nicht zufällig auf die Zeit nach seiner Abwahl, zu einem Zeitpunkt, an dem die Rolle der Sozialen Netzwerke beim Sturm auf das Kapitol diskutiert wird. Die Plattformen agieren natürlich auch politisch im Sinne ihres Eigeninteresses.
Die Trump-Sperre markiert deshalb das sichtbarsten Zeichen des Triumphs von Tech über Politik: Zwar steht der US-Präsident bereits in Verhandlungen, zu Parler zu wechseln. Doch Google hat den Extremisten-Twitterklon bereits aus dem Android-Store verbannt, Apple ein Ultimatum gestellt. Deplatforming hat massive Konsequenzen für die Reichweite.
Und das ist Marktversagen, denn ich schätze: Ohne den Niedergang des World Wide Web im mobilen Zeitalter und den Aufstieg des duopolen App-Ökosystems wäre Deplatforming nicht so ein großes Thema. Es gäbe mehr Plattformen und keine Kontrolle der Zugangspunkte, aber die Plattformen wären auch nie zu dieser Größe angewachsen (mit Ausnahme von Youtube womöglich).
Wenn die Trump-Sperre wie oben geschrieben den Triumph von Tech über Politik symbolisiert, markiert sie auch den Scheitelpunkt. Denn die Regulierung der Plattformen auf ihrem US-Heimatmarkt (z.B. Veränderung Article 230) ist nun deutlich wahrscheinlicher geworden. Wer nun sagt “Ist doch super”, der sei darauf hingewiesen, dass die Plattform-Verantwortung für Content eher zu weniger als mehr Meinungsfreiheit führen wird, Mechanismen wie Upload-Filter wahrscheinlicher machen.
Facebook, Twitter etc. sind eben nicht nur Publisher, sondern auch Kommunikationsinfrastruktur. Und als solche wird sie in vielen Ländern nicht nach der Abwägung von Meinungsfreiheit und gesellschaftlichen Folgekosten der Radikalisierungsfunktion reguliert werden; sondern nach politischen Interessen, die nicht selten aus der Unterdrückung unliebsamer Meinungen bestehen.
Das alles ist keine Verteidigung der Plattformen, im Gegenteil: Twitter, Facebook (und auch YouTube) waren jahrelang willentlich blind gegenüber den Mechanismen, die sie mit ihrer Optimierung auf Verweildauer in Gang setzen. Sie haben ihre Regeln immer erst angepasst, wenn sie in eine neue Kontroverse geschlittert sind. De facto haben sie, um Charles Arthur zu zitieren, das gesellschaftliche Äquivalent zur Erderwärmung (Global Warming) geschaffen: Social Warming. Aber ihre Regulierung ist nicht trivial und sie wird Nebenwirkungen haben (siehe Ausgabe #05).
Doch um die Frage zu beantworten, ob die sozialen Netzwerke zu spät eingegriffen haben: Vielleicht hätten Twitter und Facebook Trump verhindern können. Facebook, wenn es 2016 personalisierte politische Werbung als Problem erkannt hätte, statt gierig Geschäftsfeld auszubauen. Twitter, wenn es 2015 Regeln für Demagogie gehabt hätte (oder sich die Firma überhaupt für so etwas wie Community-Management interessiert hätte). In dem Moment, in dem Trump zum US-Präsidenten gewählt war und in eine besondere Kategorie fiel, war es für viele Interventionen zu spät.
Allerdings wurden 2015/2016 die Grenzüberschreitungen auch und gerade von den klassischen Medien aufgesogen und damit verbreitet, ich nehme mich da als damaligen US-Korrespondenten nicht aus. Und fast ein halbes Jahrzehnt später besteht unser Leben auf den öffentlichen Plattformen aus wenig mehr als dem Kick durch Empörung: Sie ist fast unser einziges Bezugssystem geworden, mit dem wir Informationen bewerten. Kurz: Unser globales Informationssystem ist im Niedergang. Mit oder ohne Trump.
Ein Tweet
Zum Abschluss: Mein Lieblingstweet aus den vergangenen Stunden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und den Platz in der Inbox. Mit “Seltsame Jahre” habe ich übrigens seit wenigen Tagen einen weiteren Newsletter über alles jenseits von Tech, quasi ein Notizblog.
Johannes