I/O vom 14. Dezember 2022
Ein Jahr Digitalisierungspolitik der Ampel / Verwaltungsprozesse / Manichäismus und Social Media
Hallo in die Runde!
Zunächst ein kleiner Hinweis: In der nächsten Woche erscheinen keine Neuigkeiten aus dem Internet-Observatorium, wohl aber in der Woche zwischen Weihnachten und Silvester. An dieser Stelle schon einmal erholsame Feiertage - und Genesungswünsche an alle, die gerade von Atemwegserkrankungen aller Couleur heimgesucht werden!
Zwischenbilanz der Ampel
Am vergangenen Freitag habe ich im Deutschlandfunk anlässlich des Digitalgipfels die bisherige Digitalisierungspolitik der Ampel-Regierung kommentiert. Der Kommentar trägt den Titel “In Sachen Digitalisierung wird Deutschland weiter schlecht regiert” - hier das Manuskript zum Nachlesen.
Es ist das immer gleiche Ritual: Einmal im Jahr ruft die Bundesregierung zum Digitalgipfel, und die immer gleichen Gesichter tauchen auf.
Da sind die zahlreichen Wirtschaftsvertreter, eine Handvoll Ministerien, der mächtige Digitalverband Bitkom und eine ganze Schar von Lobbyisten. Die reden dann über die gleichen Themen wie vor drei, vier Jahren, beklagen den fehlenden Fortschritt, um dann doch noch irgendwie die Kurve in Richtung Zukunftsoptimismus zu kratzen. Am Ende reisen alle ab, im Gepäck ein paar neue Regierungsankündigungen und viele, viele gute Vorsätze.
Der erste Digitalgipfel der Ampel-Regierung unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von den Merkel-Jahren. Nun gut, es gab diesmal zwei Veranstalter: Zum Wirtschaftsministerium gesellt sich nun - der Koalitions-Arithmetik geschuldet - das Verkehrs- und Digitalministerium. Was zeigt, dass die Zuständigkeiten in der Digitalisierungspolitik eher noch komplizierter geworden sind.
Digitalisierungspolitik ist Querschnittsaufgabe, entgegnen Regierungsvertreter gerne darauf. Aber im Querschnitt passiert gerade auch nicht besonders viel.
Wieso gibt es im Kabinett Scholz niemanden, der oder die Digitalisierungsthemen nach vorne stellt oder gar verkörpert? Warum ist dieses Zukunftsthema bei der Ampel-Regierung auf die Größe einer Tischvorlage geschrumpft?
Ja, die Ampel wurde im Jahr 2022 durch andere Krisen gefordert. Aber der Wohlstand von morgen entscheidet sich eben nicht nur an der Energieversorgung und Verteidigungsfragen.
Nein, der Wohlstand von morgen hängt entscheidend davon ab, ob Gesellschaft, Volkswirtschaft und Politik sich auf die größte Veränderung seit der industriellen Revolution einstellen. Wertschöpfung, Bildung und auch politisches Handeln zu modernisieren heißt, zu verstehen: Ohne flächendeckendes Hochgeschwindigkeitsnetz, ohne vernetzte Datenpools, ohne die Integration von Technik und künstlicher Intelligenz in sämtliche Prozesse wird Deutschland zurückfallen. Und zwar nicht nur im europäischen, sondern auch im weltweiten Vergleich.
Sicher, das Erbe der Merkel-Jahre ist für die Ampel dabei eine Hypothek. Doch der Ampel gelingt es nicht, den Nachholprozess zu beschleunigen: Die Förderung des kommunalen Breitband-Ausbaus steht bis Mitte nächsten Jahres still. Die bis Jahresende versprochene Volldigitalisierung von Behördengängen wird auf ganzer Linie scheitern. Und selbst der für Januar geplante Digitalcheck für Gesetze startet erst einmal nur im Testbetrieb.
Am Ende von Jahr 1 der Ampel lässt sich deshalb festhalten: In der Digitalisierung wird Deutschland weiterhin schlecht regiert. Für eine selbsternannte Fortschrittskoalition ist das ebenso bemerkenswert wie bedenklich.
Prozessdigitalisierung in der Verwaltung
Und noch ein DLF-Hinweis: Am Freitag um 18:40 Uhr läuft ein Hintergrund zur Verwaltungsdigitalisierung von mir (18 Minuten, warum die OZG-Umsetzung gescheitert ist). Nachzuhören ist das dann an dieser Stelle.
Und habe eine Menge Material, das nicht reingepasst hat und wa.
Zum Beispiel dieses plakative Beispiel für „Prozessdigitalisierung“, das Verwaltungsdigitalisierer Torsten Frenzel vom (wirklich sehr empfehlenswerten) E-Government-Podcast mir beschrieben hat:
Wenn ich eine (auch Online-)Leistung beantrage und bezahle – zum Beispiel einen neuen Führerschein – ist das für die Verwaltung noch kein Vollzug. Sondern es muss danach auf Verwaltungsseite immer noch eine Zahlungsanordnung ausgestellt werden – eine Anordnung eines/einer berechtigten Mitarbeiter oder Mitarbeiterin, dass die Kommune/Verwaltung das Geld überhaupt annehmen darf. Teilweise war das einmal mit bis zu drei Unterschriften verbunden (ich nehme an, um Korruption zu verhindern).
Wenn ich diesen Prozess einfach nur plump digitalisiere, baue ich mir dann etwas für die (wahrscheinlich automatisierte) Umsetzung der Zahlungsanordnung dran. Aber eigentlich ist diese Anordnung natürlich völlig überflüssig, denn ich habe mit Antrag, Identifikation und Zahlungsvollzug alle Informationen, die notwendig sind.
Das bedeutet eben „kluge“ Verwaltungsdigitalisierung: Prozesse und damit Vorschriften anpacken und überlegen, wie ich sie digital denken und damit effizienter machen kann.
Manichäismus und Social Media
Manichäismus im soziologischen Kontext bedeutet: die Welt auf eine fast spirituelle Weise in Auserwählte und den Rest einteilen. Manichäismus ist deshalb meiner Meinung nach seit längerem ein guter Begriff, um die quasi-religiösen Entwicklungen zu beschreiben, die Social Media in den letzten Jahren an vielen Stellen gesellschaftlich genommen hat.
Manichäismus im klassischen Sinn der Offenbarungsreligion bedeutet aber auch: eine Dreiteilung der Heilsgeschichte. Zuerst waren demnach die Naturen von Licht und Finsternis klar getrennt, danach und bis in unsere Gegenwart hinein haben sie sich vermischt, und in der Zukunft werden sie wieder klar getrennt sein.
Diese Form von manichäistischem Denken entdecke ich manchmal in Tech-Diskussionen, auch bei mir selbst: Das Internet bis in die späten Nullerjahre als dezentraler Ort im Zeichen von Wissen und Teilhabe, danach durch die Hyper-Kommerzialisierung der US-Firmen immer unübersichtlicher und manipulierter, und irgendwann einmal wieder dezentral und demokratisch. Gerade in den Diskussionen über das Fediverse, aber auch schon im web3-Kontext spielen solche Heilsgeschichten eine Rolle.
Links
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Vielen Dank fürs Lesen - eine gute Zeit und bis zum 28. Dezember (Näherungswert)!
Johannes