I/O 27/Mai/22
Vier Jahre DSVO / TikTok, Musik und Generationenkonflikte / Massenmörder und Social Media
Vor den Kurzbeobachtungen: Ich habe einiges an Feedback zum neuen Rhythmus (2x pro Woche bekommen) und werde das nächste Woche in einer Umfrage versuchen, zu bündeln, um mir ein kompletteres Bild zu verschaffen. Aber nun zum Freitagsnewsletter…
Vier Jahre DSGVO
Mark Scott von Politico.eu zieht zum vierten Jahrestag der Gültigkeit der Datenschutzgrundverordnung eine nüchterne bis ernüchterte Bilanz. Zusammengefasst:
“A lack of Continent-wide enforcement — a major bone of contention for many — of the bloc’s privacy standards, coupled with an overly prescriptive rulebook allowing bigger companies to sidestep their competitors through pure legal resources, has undermined Europe’s efforts to create gold-plated rules that would be the envy of the world.”
Dem kann ich zunächst nicht widersprechen. Scott berichtet zudem, dass die DSGVO mit ihrer Komplexität bei gleichzeitig nur überschaubarer Datensammelei-Eindämmung inzwischen eben nicht (mehr) als weltweites Modellprojekt gilt. Speziell das Interesse aus den USA ist offenbar deutlich abgekühlt.
Insgesamt ist die Kritik aus dem angelsächsischen Raum manchmal etwas überzogen (so wie hier bei Wired): Dass die Verarbeitung von Daten kein regulativer Nebenaspekt von Digitaldiensten mehr ist, ist definitiv ein Fortschritt, man blicke auf die USA. Aber unter dem Strich ist das Tracking- und Überwachungsproblem nicht gelöst worden.
Und insgesamt - und das wird auch auf DMA und DSA zutreffen - ist das Konstrukt alles andere als filigran und durch die Komplexität der europäischen Prozesse auch nicht in der Geschwindigkeit zu reformieren, wie es eigentlich angemessen wäre. Das ist für mich insgesamt ein Kritikpunkt an der EU-Digitalgesetzgebung: Dass es nicht gelungen ist, flexible Regulierungswerke aufzusetzen, die mit der Geschwindigkeit der Digitalisierung halbwegs mithalten - oder so gestaltet sind, dass sie auch auf künftige Entwicklungen, Erkenntnisse und Nebenwirkungen vorbereitet sind.
TikTok, Musik und der Generationenkonflikt
Eine Reihe von Musiker und Musikerinnen beschwert sich, weil Musiklabels sie zu TikTok-Videos zwingen, um für ihre neuen Songs “virale Momente zu erschaffen” (kein echtes Zitat, sondern so stelle ich mir die Formulierung im Musicbiz-Slang vor).
“TikTok ist das neue MTV”, schreibt dazu der ehemalige Musikmanager Bob Lefsetz (der einen der besten Blog-Sounds hat, die es da draußen gibt, das nur nebenbei). Er hat auf verschiedene Arten recht: Als MTV aufkam, gab es auch großen Widerstand dagegen, Songs mittels Musikvideos umzusetzen - und so zum Beispiel textliche Mehrdeutigkeiten zu entzaubern oder Bilder im Kopf mit schnöden Bewegtbild-Inszenierungen zu ersetzen.
Das hatte sich relativ schnell erledigt, Videos entwickelten sich zur Kunstform. Und MTV zu einem ähnlichen Gatekeeper wie TikTok: Beide funktionierten nach ästhetischen Prinzipien, aber bei MTV gab es bei der Auswahl noch einen menschlichen (und korrumpierbaren) Faktor, der bei TikTok weitestgehend (aber nicht vollständig) in die maschinelle Verhaltensanalyse gewandert ist.
15-Sekunden-Videos allerdings bilden natürlich nicht den kompletten Song ab. Julie Fenwick weist bei Vice auf den Generationenkonflikt hin, der in dieser Entwicklung steckt:
“For young, grassroots artists, like Lil Nas X, who made their fortune from platforms like TikTok, it represents an organic shift in the way the industry works. For others, it’s a disingenuous tool to boost their connection with younger fans, breaking the illusion of the otherworldly, independent artist.”
Unabhängigkeit ist in Kreativberufen bekanntlich ein kaum erreichbares Ideal. Aber der Leitsatz “Die Form folgt der Funktion” ist in einer Welt unendlichen Contents wirklich auf die Spitze getrieben worden: Musik-Intros werden wegen der Skip-Funktion bei Spotify kürzer, Hooklines mit TikTok-Verwendung im Hinterkopf komponiert, Social-Media-Postings und Dating-Profile für die Millisekunden vor dem Scroll oder Swipe optimiert.
Und auch wenn sich sicherlich halbwegs Vergleichbares aus Offline-Zeiten findet: Dieser Grad an technologetriebener Verhaltens- und Kreativitätsanpassung ist schon bemerkenswert. Zumal sich die Anpassungen und damit auch die entstehenden Moden mit der Konjunktur der Plattformen verändern.
Massenmord und Social Media
Zu Uvalde, Texas, habe ich drüben in meinem Blog etwas geschrieben. Ich will mich deshalb hier auf den Social-Media-Aspekt der jüngsten Anschläge in den USA beschränken: So verlief die Radikalisierung des Terroristen von Buffalo, New York, offenbar eindeutig über 4Chan (vom Waffen- zum Extremisten-Board). Beim Mörder von Uvalde dagegen gibt es trotz hitziger Diskussion derzeit laut Washington Post keine Anhaltspunkte für einen solchen Radikalisierungsweg.
Sollte es dabei bleiben, ist es eine wichtige Erinnerung: Nur weil Täter Apps wie Instagram, Snap oder TikTok nutzen und ihre Veröffentlichungen von dort relativ schnell nach der Tat thematisiert werden, heißt das nicht, dass sie auch dort radikalisiert werden.
Auch wenn es spätestens seit Christchurch (aber eigentlich schon nach Breivik) ein Drehbuch für rassistische Terroristen gibt, das in der Regel aus Elementen wie Manifest, Ankündigung und Streaming besteht: Wir sollten vorsichtig sein, die gesellschaftliche Diskussion automatisch auf Social-Media-Aspekte zu lenken. Vor allem, wenn sie von der eigentlich notwendigen Debatte über die amerikanischen Waffengesetze ablenken.
Links
Wie Mark Zuckerberg mit gut gemeinten Spenden unabsichtlich den Vorwand dafür lieferte, dass Wählen in vielen Gegenden der USA nochmal schwieriger wird. (sehr interessanter Longread)