I/O 24/August/2022
Eine Zukunft aus synthetischem Content / Google-Suche, Vergangenheit und Zukunft / Twitter und die Geheimdienste
Hallo und willkommen zu einer neuen Ausgabe von Kurzbeobachtungen!
Eine Zukunft aus synthetischem Content
Ich habe diese Frage schon häufiger gestellt: Was bedeutet es, in einer Welt von quasi unendlichem und unendlich weiter wachsendem Content zu leben? Das Resultat sehen wir jeden Tag: Einen erbarmungslosen Wettlauf um Aufmerksamkeit, ob in Social Media, im Journalismus oder im Web. Ein gewaltiger Long Tail von Inhalten, deren fehlende Wahrnehmung einer Nicht-Existenz gleich kommt.
Was aber bedeutet es, wenn Nutzer in dieser Gleichung nur noch auf der Konsumseite eine Rolle spielen? Der ehemalige Facebook-Produktmanager Sam Lessin hat dies jüngst in einer Zeitleiste des Prominenten-Contents skizziert. Die sieht so aus:
Chronologisch also:
Die Zeit vor dem Internet, also “soziale Unterhaltung” über Promi-Magazine wie People (oder bei uns Bunte etc.) geliefert wurde.
Content unserer Freunde verdrängen Promi-Magazine - der Beginn der Sozialen Netzwerke.
Professionelle Freunde (Influencer) und Prominente verdrängen unsere Freunde - das, was Lessin die „Kardashian-Ära“ nennt. Social Media wird weniger freundeslastig, professioneller Content dominiert.
Algorithmisch sortierter Nutzercontent verdrängt die professionellen Content-Creator - die beginnende TikTok-Ära, in der Unterhaltung personalisiert und ohne aktives Handeln ausgespielt wird, de facto jede/r einen Hit haben kann. Und schnell wieder vergessen wird.
Irgendwann einmal: Reiner “KI-Content” - also von Software produzierte Inhalte - verdrängt den algorithmisierten Nutzercontent. Software wie Dall-E als Vorläufer, im Endstadium künstliches personalisiertes Entertainment.
Besonders spannend ist der Hinweis auf puren KI-Content, also eine Welt aus synthetischen Inhalten, die an unsere Vorlieben angepasst sind und uns zum Verbleiben bringen.
Der britische Tech-Journalist Charles Arthur führt in seinem Substack Social Warming (benannt nach seinem gleichnamigen & empfehlenswerten Buch) diese Idee weiter aus.
Seine Bilanz, was schon jetzt existiert: Firmen, deren Geschäft darauf basiert, Aufmerksamkeit zu binden. Machine-Learning-Systeme, die diesen Content unbegrenzt produzieren können. ML-Systeme, deren synthetischer Content auf den ersten Blick echt wirkt (z.B. künstlich generierte Fotos von Personen, die nicht existieren). Algorithmische Systeme wie TikTok, die sehr gut darin sind, interessanten Content zu finden und personalisiert auszuspielen. Menschen, die diesen Content lieben.
Das alles zusammengenommen könnte zu einem “Tsunami aus süchtig machendem, von KI produziertem Inhalt” führen, wie Arthur prophezeit. Und Ben Thompson fühlt hier nicht ohne Grund an das Metaverse erinnert: Denn wo, wenn nicht in einer virtuellen Umgebung, benötigt man softwaregenerierte Welten und Erlebnisse?
Das Ganze ist hochspekulativ, aber auch schon in Arbeit. Charles Arthur schreibt in einem Nebensatz, dass das “sozial” im Begriff “sozialem Netzwerk” dann überflüssig werden würde und wir über “Content-Netzwerke” sprechen würden. Und das erscheint auch logisch: Dass die erfolgreichsten Metaversen eben keine Massenveranstaltung sein könnten, die irgendwie das Gewimmel da draußen abbilden und wie die jetzigen sozialen Netzwerke auch fremde Menschen verbinden; sondern eine persönliche und personalisierte Plattform, in der wir wirklich nur mit unserem unmittelbaren Umfeld oder Gleichgesinnten (sieht Fortnite) in einer synthetischen Umgebung interagieren. Synthetische Figuren eingeschlossen.
Die Metaverse-Moderationsfragen - Stichwort Belästigung und “Bannkreis” um Nutzer - wären dann für die Firmen einfacher zu lösen. Und wir wären, ähnlich wie bei anderen Medienformen wie Radio oder Papier, bei der Many-To-Many-Idee gestartet, um beim One-To-Many-Medium zu enden. Wobei das “One” eben die Software ist, die so personalisiert funktioniert, dass sie auf Konsumenten wie ein “One-To-One”-Medium wirkt.
Wie gesagt, hochspekulativ das alles. Und vom Zeitgeist des TikTok-Siegeszugs geprägt. Linear verlaufen solche Entwicklungen selten. Aber es bricht gerade etwas auf, nämlich unsere in den letzten 15 Jahren geprägte Vorstellung von dem, was Social Media ist und sein könnte.
Allerdings…
Wie weit wir von einer fotorealistischen synthetischen Umgebung entfernt sind, zeigt dieses Posting von Mark Zuckerberg, das Paul Tassi bei Forbes genüsslich kommentiert hat:
“The image shows Mark’s dead-eyed Avatar standing in an empty landscape populated only by a small version of the Eiffel Tower and Spain’s unfinished Sagrada Familia. The image made “Second Life” trend on Twitter for a while yesterday, with people saying it somehow looked worse than the decades-old life sim. I made the comment that this is what Mark Zuckerberg is trying to do with his metaverse on the same day Fortnite introduced its megapopular crossover with Dragon Ball Z, bolstering its much more fun, better-looking version of the concept.
The thing is, this happens all the time with Zuckerberg and his metaverse because Horizon Worlds has looked terrible since its inception and has barely gotten any better over the years, where its avatars still look like Miis from 2012 and they still don’t have legs.”
(Zuckerberg hat auf den Spott reagiert)
Google-Suche, Vergangenheit und Zukunft
Das nenne ich Timing: An dem Tag, an dem in Deutschlandfunk Kultur mein Beitrag über die Kritik an der Google-Suche lief, kündigte Google ein Update an: Bei Rezensionen werde man künftig “authentische” Inhalte bevorzugen. Was zeigt, das die Debatte aus dem Frühjahr ihre Spuren hinterlassen hat.
Google hat ein Problem: Einerseits ist das Web inzwischen so auf Google optimiert, dass man zwar für jede kleine Suchanfrage irgendeine Antwort findet. Diese Antwort besteht aber oft aus generischen SEO-Artikeln, die gar keine echten Informationen liefern. Kurz: SEO scheint derzeit irgendwie die Nase vorn zu haben.
Verschlimmert wird das Problem, und damit bin ich wieder beim Thema synthetischer Inhalte, durch Werkzeuge wie Jasper oder Copysmith.AI: Textgeneratoren, in die Marketing-Abteilungen einfach nur ein paar Stichworte werfen, um dann ziemlich fertige Beiträge zu erhalten. Die zwar nichtssagend sind. Aber keineswegs nichtssagender als das, was Menschen für SEO- und Webseitenbefüllungs-Zwecke produzieren.
Das alles funktioniert noch ganz gut, weil es zu Google keine gleichwertigen Alternativen gibt, man bei iOS Standardsuche ist und sich viele Anfragen letztlich auf Fakten beziehen, die gut zu extrahieren sind. Aber ist es wirklich unmöglich, dass die Monotonie der Ergebnisse sich irgendwann einmal negativ auswirkt? Ich bin mir nicht sicher, weil diese Nostalgie für das “Web von früher” sich tatsächlich nur bei denen einstellt, die dort unterwegs waren. Eine Gruppe, zu der zugegebenermaßen auch ich gehöre.
Twitter und die Geheimdienste
Wäre Twitter mehr wie Facebook, die Enthüllungen des Twitter-Whistleblowers Peiter Zatko würden ihre verdiente XXL-Aufmerksamkeit erhalten. Nicht nur, weil sie eine völlig kaputte Firmenkultur offenlegen.
Ich will nur einen Punkt herausgreifen: Twitter-Mitarbeiter, die im Auftrag von Regierungen arbeiten.
Wie wir wissen, wurde vor kurzem ein ehemaliger Twitter-Mitarbeiter zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er saudische Dissidenten ausgespäht hat.
In der Whistleblower-Beschwerde ist die Rede davon, dass Indien Twitter dazu zwang, Regierungsmitarbeiter (“government agents”) anzustellen. Die hatten, dank laxer Sicherheitsvorkehrungen, Zugriff auf eine Reihe sensibler Datensätze.
Mehrere Twitter-Mitarbeitende installierten Spyware auf ihren Arbeitscomputern - auf Anweisung von nicht genannten “externen Organisationen”. Die Fälle kamen nur durch Hinweise der Betroffenen oder zufällige Offenlegung ans Licht.
Kurz bevor Whistleblower Zatko entlassen wurde, bekam Twitter von einer Regierungsquelle den Hinweis, dass in der Firma ein oder mehrere Mitarbeiter für einen nicht spezifizierten ausländischen Geheimdienst tätig seien.
Wie gesagt: Gäbe es solche Enthüllungen zu Facebook, Politik und Twitterati dieser Welt würden durchdrehen. Aber aus irgendeinem Grund bleibt der Ruf halbwegs intakt, obwohl die Firma offensichtlich genauso kaputt wie der Meta-Konzern ist. Nur ist Twitter deutlich unprofessioneller.
Links
Christoph Meinel vom Hasso-Plattner-Institut über die Digitalisierung in Deutschland.
In den USA wurden erstmals mehr Stunden gestreamt als Kabelfernsehen geguckt.
Apple und die Services-Sparte. ($)
Über den Machine-Learning-Fortschritt, den Dall-E und Co symbolisieren.
“Manufacturing-X”: SAP und Maschinenbauer bauen Cloud-Plattform für die Industrie (€)
Der weltgrößte Staatsfonds stuft Cybersicherheit als größeres Risiko als Markt-Turbulenzen ein. ($)
Wieviele Sorgen sollten wir uns wegen TikTok machen?
Europäische Widersprüche: Freier Datenfluss vs. Server-Nationalismus
Die Geschichte der E-Mail, eine Chronik.
Bis nächste Woche!
Johannes