I/O 220503
Musk, Twitter und die Kathedrale / Probleme bei der US-Wettbewerbsbehörde / Nostalgie für offene APIs
Offenbar ist in der Aufgabe niemandem aufgefallen, dass das Datum im Betreff auf das Jahr 2029 hindeutet, der Newsletter also quasi aus der Zukunft kam. 🤔
Musk, Twitter und die Kathedrale
Am Freitag war ich im Deutschlandfunk-Politikpodcast, um über die politische Bedeutung der Musk’schen Twitter-Übernahme zu sprechen. Am Wochenende dann habe ich bei Tablet Magazine und Vanity Fair zu Curtis Yarvin eingelesen.
Yarvin ist der Machiavelli der amerikanischen Neo-Reaktionäre rund um Peter Thiel. Ich weiß nicht, ob es größere Verbindungen zu Elon Musk gibt (wenn jemand ein aktuelles Schaubild aller PayPal-Mafia-Verbindungen hat, gerne her damit) - aber das Konzept der Kathedrale kursiert unter auch Techno-Libertären und scheint mir hilfreich, um Musks Idee von Meinungsfreiheit noch einmal klarer zu umreißen.
Was also ist die Kathedrale? Yarvin schreibt auf seinem Blog:
“The mystery of the cathedral is that all the modern world’s legitimate and prestigious intellectual institutions, even though they have no central organizational connection, behave in many ways as if they were a single organizational structure.
Most notably, this pseudo-structure is synoptic: it has one clear doctrine or perspective. It always agrees with itself. Still more puzzlingly, its doctrine is not static; it evolves; this doctrine has a predictable direction of evolution, and the whole structure moves together.”
Also keine Theorie à la “XYZ steuert das Weltgeschehen”, sondern Einigkeit im Kontext eines elitären Meinungsmacher-Systems, das die Realität immer wieder der eigenen Ideologie anpasst. Beispiel Covid-19 und Maskenpflicht zu Beginn der Pandemie: Zunächst als absolut notwendig und moralische Notwendigkeit auch bei Versammlungen unter freiem Himmel betrachtet, dann im Frühjahr 2020 plötzlich bei der Bewertung weitgehend maskenloser Black-Lives-Matter-Proteste irrelevant.
Es geht letztlich um Konzepte im Kulturkampf, der in den USA und anderswo tobt: Um die Frage, ob ein ideologisch gefärbtes Gruppendenken dafür sorgt, dass die herrschende (in den Augen ihrer Kritiker: viel zu progressive) Orthodoxie unangreifbar erscheint.
Aber die Theorie ist auch ein Werkzeug: Unter diesen argumentativen Voraussetzungen lässt sich aber natürlich auch die eigene, im Falle älterer Yarvin-Texte und bei Teilen der gegenwärtigen neoreaktionären Bewegung schlicht den Faschismus als unorthodox, aber diskutierenswert darstellen (die Idee des “Unorthodoxen” wiederum liefert Anknüpfungpunkte für Gegenkultur-Branding, wie man in Europa von den Identitären kennt).
Um auf Musk und Twitter zurückzukommen. Die Macht dieser “Kathedrale” zu brechen, scheint Musks Kern-Anliegen zu sein. Es ist mir nicht ganz klar, ob es ihm um politische Ideen im weiteren Sinne geht oder eher um das Ideal der “free-floating ideas”, das er nicht verwirklicht sieht. Allerdings zeigen seine Tweets, dass er politisch ziemlich blind ist, was die Radikalisierung der politischen Rechten in den USA betrifft. Das aber nur am Rande, ich bin kein Milliardärs-Hermeneutiker.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass die politische Debattenkultur auf Twitter von Orthodoxien und Tribalismus geprägt ist. Das twitternde progressive Lager, besonders (aber nicht nur) in den USA, hat den Bogen überspannt: Gruppenzwang führt selten zu lebenspraktischeren Ideen, sondern zu einer Überformung der eigenen Haltung zugunsten des Symbolischen, Unbedingten, Widerspruchsfreien.
Die radikale politische Rechten dagegen kaschiert mit ihrer Anti-angeblicher-Mainstream-Haltung, dass es ihr im Kern nicht um Vernunft oder den Wettbewerb der Ideen geht, sondern um die Verächtlichmachung progressiver Vorstellungen, die sie inzwischen fast schon ritualisiert betreibt.
Wenn also zwei der lautstärksten Gruppen kein Interesse an diskursiven Graubereichen und Entdeckung innerer Widersprüchen haben: Welche Design-Lösung soll aus Twitter dann etwas anderes machen, als die “Hellsite”, die es inzwischen ist? Wenn es eine Antwort gibt, bin ich ehrlich gespannt auf sie.
Musk - das finale Wort
Bevor ich mich wieder anderen Themen zuwende, eine Schluss-Anekdote.
2020 war Musk bereits digitaler Gast auf einer Twitter-Mitarbeiterversammlung. Das Wall Street Journal:
While Mr. Dorsey was on stage at a Twitter all-hands event in Houston in early 2020, he called Mr. Musk on FaceTime. Mr. Dorsey plugged his iPad into the stage’s jumbo screen, and employees cheered as Mr. Musk’s face lighted up the room.
Mr. Dorsey asked Mr. Musk to choose a single tweet to represent himself.
“I put the art in fart,” replied Mr. Musk, then 48 years old.
Wie ist der Stimmung bei der FTC?
Eine interne Umfrage unter Mitarbeitenden der US-Wettbewerbsbehörde FTC ergibt: Nur noch 53 Prozent halten die Führung für glaubwürdig und hohen Standards verpflichtet. Vor der Amtszeit der als Kämpferin gegen die Digitalkonzern-Machkonzentration angetretene Linda Khan lag dieser Wert noch bei 87 Prozent (Quelle: The Information, $). Zudem gibt es auf den höheren Ebenen der Behörde zahlreiche Abgänge. Ein Grund:
“Some senior personnel departures during Khan’s tenure resulted from her early moves to restrict the flow of information about probes within the agency and how its lawyers can interact with her or with the public. That’s made some longtime bureaucrats feel she viewed them as impediments.”
Natürlich werden solche Sachen von denen, die gehen, gesponnen (und Khan hat angekündigt, der schlechten Stimmung auf den Grund zu gehen). Ob es wirklich Kritik an Khan als Chefin oder der neuen Ausrichtung der FTC ist (weg von allgemeiner Verbraucherwohlfahrt, hin zu gezielter Marktsteuerung), ob diese Kritik fundiert ist oder von einem Haufen nicht besonders fähiger Abteilungsleiter und Ex-Lobbyisten kommt (wie es ein Kommentator unter dem Artikel nennt), die jetzt mal wirklich unangenehme Entscheidungen gegen Konzerne treffen müssen - ich denke, das werden im Laufe des Jahres weitere Medien-Recherchen zeigen.
Nostalgie für offene APIs
Dieser Techmeme-Podcast/Twitterspace ist voller Nostalgie: Eine Handvoll Typen, die in den späten Nullerjahren an offenen Protokollen für das Social Web arbeiteten (Chris Messina etc.), reden darüber, was schief ging. Ein Grund: Letztlich hat man zu sehr an der Technik gearbeitet, während Facebook und Co. einfach das Äquivalent zur grafischen Oberfläche bei Computern richtig gut hinbekamen (Apple-Analogie).
Ein Punkt, der mich persönlich etwas nostalgisch machte: Irgendwann sagt jemand in dem Gespräch sinngemäß “Jeder wollte damals irgendwas machen und stellte Fragen wie ‘warum kann ich meine Restaurantbewertungen nicht auf einer Karte anzeigen lassen?’” So war die zweite Hälfte der Nullerjahre ja tatsächlich: Irgendwie etwas per API zusammenwürfeln und daraus etwas Neues machen.
Ich kann mich auch an irgendein Web-Treffen erinnern, als jemand eine App basteln wollte (ich meine, sie sollte “Hitchhiker” heißen), bei der man einfach “Ich will von Punkt A zu Punkt B” eingibt und im Idealfall als Buchungsmaske verkehrsmittelübergreifend eine Auswahl erhält (z.B. “Fahre bis Hannover mit der Mitfahrzentrale und steige dann in den Bus um”). Tja, und fast 15 Jahre später steht sowas halt im Koalitionsvertrag:
“Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen. Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen.”
Ich weiß gar nicht, was ich blöder finde: Dass so etwas so spät kommt oder dass uns heute irgendwie die Fantasie fehlt, so etwas zu bauen.