I/O 20/Juli/2022
Internet-Shutdowns / Gigabit-Strategie / Sind wir wirklich machtlos?
Hier ist die wöchentlichen Kurzbeobachtungen aus dem Internet-Observatorium. Wöchentlich heißt ab sofort: mittwochs. Ich freue mich wie immer über Feedback oder sonstige Post.
Status Quo der Internet-Shutdowns
Einige Studien erreichen mich erst mit etwas Verspätung, haben hier aber trotzdem einen Platz verdient. So hat das Büro des UN-Menschenrechtsbeauftragte Ende Juni eine zweiteilige Studie zu Internet-Shutdowns veröffentlicht.
Hier die Zusammenfassung:
Shutdowns verändern sich – hin zum Drosseln von Mobilfunk-Verbindungen auf 2G-Geschwindigkeit, was speziell das Hoch- und Runterladen von Videos von Livestreams fast unmöglich macht. In Ländern, in denen stationäre Breitband-Anschlüsse nur den Wohlhabenden vorbehalten sind, kommt dies einem Blackout gleich. Häufig wird auch die Bandbreite für bestimmte Domains wie Social-Media-Apps gekappt.
Shutdowns finden zunehmend auch lokal statt - zum Beispiel in Flüchtlingslagern in Bangladesch oder Myanmar.
Die NGO Access Now hat zwischen 2016 und 2021 insgesamt 931 Internet-Abschaltungen in 74 Ländern gezählt. Regierungen in zwölf Ländern haben in diesem Zeitraum mehr als zehn Shutdowns veranlasst. Fast alle Abschaltungen fanden im Zusammenhang mit politischen Krisen und/oder Demonstrationen gegen die Regierung statt.
Zwischen 2016 und 2021 waren mindestens 52 Wahlen von Internet-Abschaltungen betroffen. Ein weiterer Anlass für Shutdowns sind bewaffnete Operationen der Regierungen, in deren Zusammenhang dann Menschenrechtsverstöße schwieriger nachzuweisen sind (siehe Tigray im Norden Äthiopiens).
In 38 Fällen wurde zwischen 2016 und 2021 zudem das Internet in Zusammenhang mit nationalen oder regionalen Schulprüfungen abgeschalte. Offenbar, um die Zuhilfenahme von Smartphones zu verhindern. Besonders oft passierte das im Nahen Osten und Nordafrika.
In 132 Fällen begründeten die Regierungen die Abschaltungen mit Maßnahmen gegen “Hate Speech”.
Die Dauer von Shutdowns reicht von wenigen Tagen bis hin zu Monaten Oft werden kurzfristige Abschaltungen von Social-Media-Traffic auf unbegrenzte Zeit verlängert. Gerade längere Abschaltungen des Internets haben Folgen für die nachrichtliche Berichterstattung, öffentliche und gesundheitliche Dienstleistungen, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt.
Das Verbot von VPNs gehört zu einem weiteren Mittel der Internet-Blockade.
Weil die Abschaltungen intransparent sind, ist es gar nicht so einfach, sie direkt nachzuweisen (geschweige denn, in wessen Auftrag etwas abgeschaltet wurde).
Die Gegenmaßnahmen sind, wie meist im UN-Kontext, appellativer Natur: Staaten sollten das Recht auf Internet-Zugang gesetzlich verankern, Aufsichtsbehörden einrichten und die Unabhängigkeit von Gerichten für entsprechende Überprüfungen stärken.
Telekom-Firmen oder –Behörden sollen verpflichtet werden, Informationen über Ausfälle und Sperren zu veröffentlichen. Telekom-Firmen sollten zudem Notfallpläne entwickeln, in denen sie die Kommunikation mit Regierung und Zivilgesellschaft aufrechterhalten – und notfalls vor internationalen Gremien klagen.
Bill Thompson, der von mir sehr geschätzte Sidekick aus der BBC-Sendung Digital Planet, hat zwei sinnvolle Ergänzungen zum ganzen Thema:
Wir sollten es nicht Shutdown, sondern (englischsprachig) “Disruption” nennen - also so etwas wie “absichtliche Internet-Störung”. Das ist insofern hilfreich, als es eben nicht mehr um klassische “Blockaden” geht, sondern um regierungsseitige Entscheidungen, die Funktionalitäten des Internets einzuschränken.
Wir sollten nicht Internet-Zugang als Grundrecht verankern, sondern Internet-Zugang als Grundlage betrachten, von der die Ausübung unserer Grundrechte immer stärker abhängt. Auch das bedeutet einen Perspektivwechsel: Denn der Zugang zum Internet per se garantiert - siehe China - weder den freien Zugang zu Wissen, noch freie Meinungsäußerung. Ohne Internet-Zugang wird aber beides sehr schwierig.
Grafik der Woche: Datenset-Nutzung für Künstliche Intelligenz
Die Grafik aus dem “Internet Health Report” von Mozilla zeigt die Institutionen, deren Datensätze am häufigsten für Performance-Benchmarking in den mehr als 26.000 veröffentlichten Papers zum Thema AI verwendet werden.
Gerpott über die Gigabit-Strategie
In der vergangenen Woche hat das Bundeskabinett die Gigabitstrategie des Bundesdigital- und -verkehrsministeriums verabschiedet - also den Plan, wie der stationäre und mobile Breitband-Ausbau beschleunigt werden soll. Ich habe dazu für einen Beitrag im DLF mal wieder mit Torsten Gerpott von der Universität Duisburg-Essen gesprochen.
Gerpott ist in mehrere Hinsicht ein Unikat unter den Telekommunikations-Ökonomen - und vor allem selten um ein klares Wort verlegen. Weil in den Beitrag ja immer nur ein paar Sätze passen, habe ich seine Einschätzungen zur Volker Wissings Gigabit-Strategie noch einmal hier dokumentiert.
Über die Ziele der Gigabit-Strategie:
“Also wenn man sich die qualitativen Ziele in der Gigabit-Strategie anguckt, dann sind die ja nicht ehrgeizig. Da wird gesagt, dass der Glasfaserausbau bis zum Jahre 2025 so weit vorangetrieben werden soll, dass 50 Prozent der Haushalte in Deutschland theoretisch die Möglichkeit haben, einen Glasfaseranschluss zu beziehen. Und diese Steigerung ist einfach simpel fortgeschrieben, die Steigerung der letzten Jahre also [hochgerechnet].
Auch das Ziel, bis 2030 alle mit FTTH (Fiber-to-the-home) zu versorgen und mit 5G-Mobilfunk, ist nicht sonderlich ehrgeizig. Das ist nämlich aus EU-Zielen schon längst abgeleitet. Also die Ziele lassen sich erreichen - aber sie lassen sich deshalb erreichen, weil sie nicht ambitioniert sind.”
Länder und Kommunen trauen der Privatwirtschaft nicht, wenn es um die versprochenen Ausbauziele geht. Die Privatwirtschaft dagegen befürchtet, dass Länder und Kommunen mit dem Wegfall der bisherigen Aufgreifschwelle auch kommerziell interessante Gebiete staatlich ausbauen. Wer hat Recht?
“Also bei den Förderverfahren geht es ja einfach darum, dass die Aufgreifschwelle verschwinden wird. Ich kann dann im Grunde genommen auch noch Gebiete fördern, wo schon 100- oder 200-Mbit-Anschlüssen erreicht werden, aber eben kein Gigabitanschluss.
Und ich denke, die privaten Betreiber haben das selber in der Hand. Wenn sie rechtzeitig in einem Gebiet unterwegs sind und das Gebiet erschließen, dann wird es auch keine öffentliche Förderung dort geben. Also insofern sind das wieder so ein bisschen Krokodilstränen [der Netzbetreiber]. Natürlich wollen die die Gebiete für sich reservieren, weil das für sie kommerziell attraktiv ist. Aber es ist ja nicht so, dass sie diese Option mit der Gigabit-Strategie aus der Hand geschlagen bekommen.”
Wieso es noch keine bundesweiten Online-Genehmigungsverfahren für den Ausbau gibt, die endlich Ende 2022 überall möglich sein sollen (und was man sonst noch so versäumt hat):
“Die Frage, die ist lustig. Eigentlich sollten Sie die nicht an mich stellen, sondern an Herrn Wissing oder an Herrn Dobrindt. Die hätten das Online-Genehmigungsverfahren längst angehen können. Ich halte das für sinnvoll, dass die rheinland-pfälzischen Verfahren [der Online-Genehmigungen] jetzt bundesweit übertragen werden sollen.
Aber wir haben ja eben kein Strategiedefizit. Wir brauchen keine neuen schlauen Papiere, sondern wir haben ein Umsetzungsdefizit. Sehen sie sich das Thema Gigabit-Grundbuch an: Das wird in der Branche seit mindestens drei Jahren diskutiert. Wenn sie jetzt in die Gigabit-Strategie der Bundesregierung reinschauen, dann wird es noch bis Ende 2023 dauern, bis es umgesetzt wird.
Der Punkt ist, dass der Bund hier immer wieder schöne Papiere produziert, aber offensichtlich nicht in der Lage ist, solche Dinge wie in Rheinland-Pfalz, solche Dinge wie das Gigabit-Grundbuch dann eben auch konsequent mit den erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen umzusetzen. Also: Die Ideen sind nicht neu, die Umsetzung ist zu langsam.”
Über Wissings Forderung nach Vereinfachung von Verfahren mittels Genehmigungsfiktion a.k.a. künftig zum Beispiel schon Mobilfunkmasten aufzustellen, obwohl noch keine Genehmigung vorliegt:
“Hier gibt es zwei unterschiedliche Positionen. Die eine Position ist: Wir brauchen den Mobilfunk überall und schnell. Und die andere Position ist: Wir müssen Partizipationsrechte der Bürger wahrnehmen - wir können nicht einfach nur, weil wir meinen, jetzt plötzlich ihr Mobilfunk zu brauchen, normale Planungsverfahren über den Haufen werfen.
Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich jetzt der Bund ein bisschen mehr in die Richtung, normale Planungsverfahren über den Haufen zu werfen. Das ist letztlich eine Werte-Entscheidung, keine wissenschaftliche Entscheidung, was man da priorisiert. Auch die Rechtswissenschaftler sind sich da nicht einig, je nachdem, was man in Auftrag gibt.
Ich persönlich – und das ist keine wissenschaftliche, sondern meine private Position - kann gut nachvollziehen, dass man sagt: wir priorisieren hier das öffentliche Interesse am Mobilfunk vor dem Interesse an der Partizipation einzelner Bürger. Und diese Richtung bewegt sich der Entwurf jetzt auch. Ob das am Ende dann eben rechtlich haltbar ist, das müssen die Gerichte entscheiden. Ich persönlich halte das für sinnvoll.”
Gigabit-Strategiepapier – eine Gesamtbilanz:
“Im Grunde genommen hat sich jeder Verkehrsminister oder jetzt eben der ‘Digitalminister’ einmal hingesetzt, relativ zu Anfang seiner Amtsperiode, und aufgeschrieben, was er im Bereich Netzausbau dann eben mehr tun will. Das finde ich auch gut. Ganz klassisch aber kommt das eben alle vier Jahre wieder.
Allerdings haben wir in der neuen Strategie sehr viel Evaluierung und Prüfung, zu weniges, was konkret entschieden wird. Wir diskutieren in der Branche zum Beispiel schon seit mindestens drei Jahren über so genannte Nachfrage-Gutscheine für Glasfaser-Anschlüsse. Und jetzt in dieser Strategie steht eben wieder: Diese Gutschein-Modelle werden geprüft bis etwa 1. Oktober 2022. Wir brauchen da keine weitere Prüfung. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Es muss jetzt entschieden werden.
Und das moniere ich an dem Papier: Zu wenig konkrete Entscheidung, zu viel Prüfaufträge, zu viel unverbindliches Vertagen - ohne Ressourcen-Zurordnung, ohne Zeit-Zuordnung in die Zukunft.”
Digitaler Konsum > digitale Produktion
Zitiert aus Drew Austin: Planned Obsolescence ($)
“People are increasingly more valuable as consumers than producers in many domains and digital platforms are where the most prevalent form of consumption-labor takes place, complete with its own version of Taylorist management principles to guide it in the most profitable directions.”
Sind wir wirklich machtlos?
Ich habe “Utopia”, die Silicon-Valley-Doku von Claus Kleber, mit Interesse gesehen. Eine Detailkritik erspare ich mir, denn ich bin nicht die Zielgruppe.
Ich möchte aber kurz auf das Bild eingehen, das dort vermittelt wird. Denn es wird eine große Machtlosigkeit des “Rests der Gesellschaft” gegenüber den technologischen Entwicklungen und den Plänen der Milliardäre und Milliardenunternehmen suggeriert.
Steven Johnson, Autor von “How We Got To Now”, hat in diesem Zusammenhang neulich einmal an die Geschichte von Lou Montulli erinnert: Das ist der Mensch, der den Cookie erfunden hat. Denn eine Webseite zu besuchen war zuvor, so beschrieb es Montulli einmal, “ein bisschen wie mit einem Alzheimer-Patienten zu sprechen. Für jede Interaktion musste man sich immer und immer wieder neu vorstellen.”
Die Folgen der Cookie-Sessions, das werbebasierte und überwachungsgetriebene Internet, waren damals noch nicht absehbar. So wie es keine Risikoabschätzung gab, was man da denn eigentlich programmiert. Ähnlich war es bei der Entwicklung der Social-Media-Plattformen.
Das ist aber heute nicht unbedingt so. Johnson, der für das Magazin der New York Times ein sehr lesenswertes Stück über GPT-3 geschrieben hat, erinnert beim Thema “Künstliche Intelligenz” genau daran: Dass es eine Menge Menschen gibt, sowohl innerhalb der Tech-Firmen, als auch innerhalb der Forschung, die sich bei Machine Learning und KI mit genau solchen Nebeneffekten beschäftigen. Die sich überlegen, wie eine Technologie missbraucht werden könnte und was man schon vorher dagegen tun kann. Sein Fazit:
“We are getting better at thinking about unintended consequences of new technology—that’s the good news. The bad news is that the technology is advancing—and being disseminated—faster and faster, and it’s not clear if our forecasting skills can keep up.”
Dem kann ich mich weitestgehend anschließen. Die Fachdebatten zur Digitalisierung sind längst auf einem Level der Policy und robuster Technikfolgenabschätzung, es bleibt nicht mehr nur bei einem oberflächlichen Verstehen und Vermuten. Auch wenn das in der medialen Berichterstattung manchmal nicht so deutlich wird.
Wir berufen uns auch hierzulande endlich auf Forschungsergebnisse, nicht mehr auf das Feuilleton (bye-bye!). Natürlich ist nicht alles perfekt, sind Eingriffsmöglichkeiten begrenzt und Umsetzungen oft lückenhaft: Aber unvorbereitet, das sind wir nicht mehr. Vielleicht trägt die nächste Silicon-Valley-Doku Claus Klebers diesem gewachsenen Bewusstsein Rechnung.
Links aus den vergangenen Tagen und Wochen
Artikel rund um Tech und Internet, die ich in zuletzt gelesen habe:
“Smart City”: Toronto nach dem Sidewalk-Labs-Desaster
Anonymität ist in, die “persönliche Marke” ist out. Ein bisschen zumindest.
Der schnelle Niedergang der 15-Minuten-Lebensmittellieferdienste.
BeReal und die Illusion, es gäbe nicht-inszeniertes Social Media.
Cryptowährungen sind nicht das Finanzsystem, das wir brauchen. ($)
Joseph Stiglitz über die gesellschaftlichen und ökonomischen Tangenten künstlicher Intelligenz.
Chip-Zyklus, nächste Phase. (€)
Vielen Dank fürs Lesen - und bis nächste Woche!
Johannes