I/O 17/Juni/2022
Eine neue KI-Phase? / Machine Learning und Anthropomorphismus / Tech und die Zinswende
Die Freitagsausgabe (und wenn ich in den nächsten Tagen einen Platz im Schatten finde, gibt es vielleicht bald mal wieder ein längeres Essay).
Eine neue KI-Phase?
Je nach Betrachtungsweise befinden wir uns gerade an einem dieser beiden Zeitpunkte: Am Anbruch “industrieller Künstlicher Intelligenz”, also einem technologischen Reifegrad, der wirklich nützliche Anwendungen flächendeckend über alle Branchen hinweg ermöglicht. Oder am Anfang eines neuen kleinen KI-Winters, bei dem, wie Venkatesh Rao es formuliert, der “Wow-Faktor nicht mehr funktioniert” und fiese kleine Probleme verhindern, dass sich die Technologie wirklich auf die Produktivität unserer Volkswirtschaften niederschlägt.
Ludwig Siegele hat im Economist die jüngsten Entwicklungen im Feld selbstlernender Software unter die Lupe genommen und dürfte eher im Lager der Optimisten zu finden sein. Der ausführliche Artikel ist eine gute Zusammenfassung der jüngsten Entwicklungen, speziell mit diesen Schwerpunkten:
Der Siegeszug der Foundation Models (=Basismodelle auf Transformer-Basis, die mittels großer Rechenkraft und unterschiedlichem Datentypen-Inputs eine Art komplexes “Weltwissen” oder “Wissen um Relationen von Konzepten und Begriffen” mit Milliarden/Billionen von Parametern entwickeln, das sich dann auf verschiedenste Bereiche für Problemlösungen und Kreativität anwenden lässt).
Aus diesen Modellen abgeleitet immer günstiger werdende Software-as-a-Service-Leistungen für alle Branchen - im Sinne von (meine Worte) “KI als Co-Pilot, der es dem Menschen ermöglicht, sich auf den Feinschliff zu konzentrieren”(z.B. bei Texten, Datenanalyse oder Programmieren). Daraus folgend: KI als Allzweck-Technologie wie Elektrizität, Flugzeuge oder das Internet.
Der beschränkte Kreis von amerikanischen und chinesischen Firmen, die solche Modelle überhaupt entwickeln können (die KI von morgen wird nicht aus einer Garage kommen. Oder von einer westlichen Universität).
Das Problem des Online-Trainingsmaterials a.k.a “AI-Bias”, also die Verstetigung menschlicher Vorurteile im Computer-Weltwissen, das diese Vorurteile wiederum in der Anwendung weiter zementiert.
Die Diskussion darüber, ob der Weg zu immer größeren Modellen (mit immer mehr Parametern) sinnvoll ist, oder wir damit eher auf einem Weg zu voller Automatisierung statt Augmentierung menschlicher Fähigkeiten sind.
Gefährliche KI-Anwendungen im Bereich Militär, Hacking, Desinformation.
Eine Sache ist mir während der Lektüre deutlich geworden:
Die verstärkte Top-Down-Struktur in diesem Feld ist weiterhin das größte Problem. Wenn wir künftig nur eine oder zwei Handvoll “Machine-Learning-Engines” haben, die uns mit dem Digitalen verbinden, ist das eben nochmal etwas anderes, als auf prinzipiell webbasierten Plattformen unterwegs zu sein. Zumal, wenn ein Teil dieser Engines aus einem autoritären Staat wie China stammt.
Natürlich gibt es inzwischen Open-Source-Projekte, und natürlich bauen wir in der EU gerade im Supercomputer-Kontext eine Grundlagenstruktur auf. Aber wir steuern auf eine Welt zu, in der wir noch stärker als bisher an einigen wenigen APIs hängen. APIs, die in Maschinen führen, deren Entscheidungsprozesse man bestenfalls beschreiben, nicht erklären kann.
In diesem Zusammenhang wurde in den letzten Jahren häufiger der Wunsch nach einem “Cern für KI”, also einer großen internationalen Wissenschaftszusammenarbeit laut. Aber die Voraussetzungen dafür sind nicht gut: Die Talente-Pipeline führt weiterhin eindeutig in die Privatfirmen, selbst in der Grundlagenforschung. Und kritische Stimmen, das zeigen die Entlassungen bei Google, kommen dort schneller unter die Räder.
Was ich auch noch spannend finde: Die immer konkreter werdende Vorstellung, wie Machine-Learning-Systeme unsere Beziehung zur durch Software vermittelten Welt verändern werden. Im Idealfall zum Besseren, Hilfreichen, Augmentierenden. Spielerische Einsatzgebiete wie DALL-E zeigen, dass diese “Co-Kreativität” schon jetzt eine Menge Interesse hervorruft. Und sie sorgen dafür, dass sich ein wachsender Teil der Gesellschaft mit dieser neuen Welt auseinandersetzt. Hoffentlich zumindest.
Machine-Learning-Engines und Anthropomorphismus
Dazu passend: Die Geschichte über einen Google-Programmierer, der glaubt, eine mitfühlende KI zu erleben. Das Ganze ist ja bereits anderswo ausführlich kommentiert worden. Mich fasziniert der quasi-religiöse Aspekt daran (der ja auch bei der Prägung besagten Google-Manns eine Rolle spielt). Es gibt seit Anbeginn der Menschheit nicht nur den Wunsch, die Verantwortung für Natur-Phänomene und auch persönliche Lebensereignisse göttlichen Instanzen zuzuweisen; sondern eben auch das Bedürfnis, mit Wesen außerhalb des Sichtbaren oder (im Falle von Tieren oder Gegenständen) Kommunizierbaren in Verbindung zu treten. Und diesen Wesen ganz selbstverständlich menschliche Eigenschaften zuzuweisen.
Spätestens seit “Her” erahnen wir, dass der Glaube an eine Persönlichkeit hinter ultraintelligenter Software den Anthropomorphismus des Tamagotchi-Moments um einiges an Intensität übertreffen wird. Und ich fand den Tamagotchi-Moment schon schlimm!
Das Phänomen, dass Kinder Amazons Smart-Speaker Alexa als Familienmitglied betrachten, dürfte nur ein Vorbote sein. Womöglich passt sogar die Metapher eines digitalen Ouija-Spielbretts: Der Versuch, sich seine Lebensereignisse von vermeintlich allwissender Software erklären zu lassen.
Tech und die Zinswende
Über die Folgen der Zinswende für Startups und Tech habe ich bereits geschrieben (und der Spiegel auch, in gewohnt kraftmeierischem Verkaufston). Für die Crypto-Entwicklungen gibt es bessere Erklärer als mich.
Bislang wenig beleuchtet: Die Folgen für R&D. Die Investitionen sind hier in einigen Branchen wegen Corona ohnehin schon zurückgegangen, nun dürften sich das noch einmal verstärken. Obwohl die digitale Transformation tatsächlich bei der Optimierung von Lieferketten oder Produktionsprozessen helfen könnte. Die Gewinner? Wahrscheinlich die großen Tech-Firmen, die nicht nur Startups, sondern auch Patente günstig kaufen können (zumindest war es während der letzten Finanzkrise so)
Ein weiteres Feld ist die digitale Ifrastruktur: Im Breitband-Ausbau kommen neben fehlenden Kapazitäten auch steigende Rohstoff- und Energiepreise hinzu, bei gleichzeitig unsicheren Aussichten in Sachen Investoreninteresse (höhere Zinsen bieten mehr Rendite-Alterantiven). Die Breitbandbranche will hierzulande für den Glasfaser-Ausbau mit Hilfe von Investoren 50 Milliarden Euro aktivieren. Ein Versprechen, das dem FDP-geführten Digital- und Verkehrsministerium sehr gelegen kam. Und das zumindest mittelfristig auf ziemlich wackeligen Füßen stehen könnte.
Links
Russland drängt die besetzten Teile der Ukraine in sein eigenes Internet.
Wie Pro-Junta-Todesschwadronen in Myanmar Unterstützung mittels Facebook und Telegram organisieren. ($)
“Oracle Update Latency” (€) (und warum Crypto nicht schneller als der klassische Finanzhandel ist)
1 Zitat
Ben Thompson über den chinesischen Influencer Li Jiaqi, der in seinem Livestream am Vorabend des Tian’anmen-Jahrestags einen Kuchen in Panzerform verkaufte, und daraufhin aus dem chinesischen Netz verschwand. Und womöglich gar nicht wusste, dass er einen Fehler machte.
“It is not just possible but even probable that a 30 year-old in China has no idea that selling a tank-shaped cake on June 3rd is grounds for being disappeared. To put it another way, China’s control of information is not unlike its control of COVID: it seems impossible, and the means intolerable, but that is simply because we in the West can’t imagine the limitations on personal freedom necessary to make it viable.”
Der ganze Artikel ist lesenswert, im Kern steht das Verhältnis des Westens zur freien Meinungsäußerung.