I/O 14/Juni/2022
Wir wissen zu wenig über Social-Media-Effekte / Digitalpolitische Reibungsverluste / Meta verpasst seinen iPhone-Moment
Gedanken und Anmerkungen zu aktuellen Diskussionen in der Digitalisierung. (Hinweis: Ich bin noch bei der Auswertung der Umfrage, schon einmal herzlichen Dank an die Teilnehmenden!)
Re:publica
Bevor wir zum regulären Programm kommen: Ich war vergangene Woche auf der Re:publica, kann aber gar nicht so viel darüber sagen. Zumindest, was die Panels betrifft, war ich jenseits der Politikerauftritte in der Regel zwischen Sendungen und Terminen eingekeilt. Im Politikpodcast des Deutschlandfunks habe ich ein paar meiner Eindrücke geschildert, allerdings war ich aus unterschiedlichsten Gründen nicht in Bestform. Es sind anstrengende Wochen gerade.
Wovon ich aber sehr angetan war, sind die Internet Explorers (a.k.a. Kollege Moritz und Dokumentarfotograf/Newsletter-Leser Heinrich): Die beiden suchen die (Landes-)Grenzen des Internets und haben daraus Podcast + Fotoschau gemacht. Internet-Leitungen sind eben nicht nur “dumme Röhren”, sondern zunehmend Teil der Frage, wem das Netz als Infrastruktur am Ende gehört.
Was mir auf der Re:publica noch auffiel: Selbst in freien Minuten zieht mich nichts auf irgendwelche Panels zur Zukunft der Medien. Vielleicht, weil mir weiterhin der Glaube fehlt, dass die etablierten Akteure jenseits von Paywall-Hoffnungen und Leuchtturm-Projekten wirklich Innovation wollen. Ich lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen.
Ich selbst war ja lange ein Einäugiger, der in der Dunkelheit mit Blinden und anderen Einäugigen um den Weg in die Medienzukunft gestritten hat. Meine liebste Anekdote stammt ungefähr aus dem Jahr 2010 - aus einem Workshop zur Multimedia-Entwicklung der Zeitungsmarke, für die ich damals gearbeitet habe.
Interims-Onlinechef: “Wir müssen auch noch überlegen, was wir mit Video machen.”
Alle: “Hmmm, ja.”
(Kurzes Schweigen)
Feuilletonist, mit den damaligen Buzzwords vertraut: “Wir müssen stärker die Creative Commons nutzen. Da liegt viel Potenzial drin!”
(Fragende, aber durchaus interessierte Blicke)
Hemdsärmeliger Video-Chef, begeistert: “Creative Comments? Die probieren wir immer mal wieder aus! Neulich hatten wir einen Hip-Hopper, der die Nachrichten im Freestyle gerappt hat!”
(Interessiertes Nicken, vereinzelt Skepsis)
Haidts Social-Media-Thesen, relativiert
Jonathan Haidt hat vor einigen Wochen für sein Thesenstück im Atlantic große Aufmerksamkeit bekommen, weil er anhand von Studien den Zusammenhang zwischen dem maroden Zustand der amerikanischen Demokratie und dem Siegeszug von Social Media herstellt.
Der New Yorker hat nun diese Thesen überprüft und kommt zu dem Ergebnis: Es lässt sich zur Rolle von Social Media alles mögliche an Signalen finden, in alle Richtungen. Die Sache ist uneindeutig.
Kronzeuge ist dabei der Soziologe Christopher Bail, der mit Haidt zusammenarbeitete, aber sein eigenes Buch zum Thema veröffentlicht hat. Seine eigene Kernthese:
“We use social media as a mirror to decipher our place in society, but it functions more like a prism that distorts our identities, empowers status-seeking extremists, and renders moderates all but invisible.”
Im Artikel kritisiert Bail vor allem drei Dinge:
Echokammern existieren nicht - oder nicht so, wie wir uns das vorstellen. Wir nehmen über Social Media durchaus mehr “andere Perspektiven” wahr als im “echten Leben”. Und: Wenn wir Echokammer verlassen, heißt das nicht immer, dass wir moderater werden - wenn jemand Twitter verlässt, um Fox News zu gucken, ist das nicht de-radikalisierend. Die Echokammer-These ist ja schon seit längerem diskreditiert, wie ich finde, zur Realitätsdeutung im Moment nicht tauglich. Allerdings ist das Bonding mittels Weltanschauungen sicher einfacher geworden.
Der Einfluss ausländischer Desinformation auf unsere Demokratien lässt sich nicht seriös bewerten. Bail schätzt ohnehin, dass weniger als zwei Prozent der amerikanischen Twitter-Nutzer konstant “Fake News” (schon seit 2018 ein problematischer Begriff) konsumieren. Und dabei handele es sich in der Regel um solche Menschen, die ohnehin bereits für diese Inhalte empfänglich waren. Womöglich könnten Echokammern, sofern sie existieren, die Verbreitung von Desinformation sogar eindämmen.
Der Desinformationsdiskurs ist meiner Ansicht nach problematisch, weil er nicht nur ein reales (aber zu wenig messbar erforschtes) Problem beschreibt, sondern auch den Wunsch nach einer “diskursregulierenden Instanz”. Und wer hier auf den Staat schielt, sollte sich vor Augen führen, was ich in Ausgabe #24 geschrieben habe:
“Mein Eindruck ist, dass in Teilen demokratischer Gesellschaften der Wunsch nach einer ordnenden Instanz wächst, die klare Grenzen zwischen “wahr” und “unwahr” zieht und entsprechend aussortiert. Es wäre allerdings naiv zu glauben, dass dies ohne massive negative Nebenwirkungen möglich wäre - oder das Problem nachhaltig lösen würde.”
Die Youtube-Pipeline zur Radikalisierung wird überbewertet. Vielmehr, so Bail, wird extremer Content eher von Menschen konsumiert, die ohnehin schon solche Kanäle abonnieren - oder über andere soziale Medien Hinweise darauf erhalten. Das ist natürlich ein Problem, aber widerspricht dem eher anekdotisch geprägten Narrativ vom Youtube-Algorithmus, der von linken Inhalten über Donald Trump zu den Proud Boys führt.
Zwei Punkte allerdings heben die Forschenden, die im Artikel vorkommen, hervor: Extreme Haltungen werden mittels Social Media verstärkt - im Sinne eines Lautsprechers, den kleine Gruppen nun in die Hand bekommen können. Und die größte Herausforderung für unsere Gesellschaften ist vielleicht, dass sich diese kleinen radikalen Gruppen miteinander vernetzen und auch gemeinsam handeln können.
Was ebenfalls herauskommt: Social-Media-Forschung hat noch nicht wirklich eine stabile Faktengrundlage für das Feld legen können. Und weil sich die Landschaft ständig ändert, hilft das reguläre Studien-Tempo bei der Analyse auch nicht weiter.
Was mich zu einer Forderung bringt, die ich schon häufiger aufgestellt habe: Nicht nur einen Plattform-Datenzugang für Forschende, wie er jetzt per EU-Recht verpflichtend wird - sondern sogar einen Echtzeit-Zugang.
Digitalpolitische Reibungsverluste
Der endgültige digitalpolitische Zuschnitt der Bundesregierung ist da, und es fehlt weiterhin ein strategisches Zentrum. Mehr noch: Mit der ministeriellen Doppelbesetzung diverser Datenthemen schafft man Koordinationsprozesse, die für kräftige politische Reibung sorgen dürften. Jenseits abstrakter Leitfäden wie ministerieller Ausgewogenheit ist mir nicht ganz klar, warum man Dutzende Beamte vom Wirtschafts- ins Digitalverkehrsministerium verlegt, um dann aber trotzdem Doppelzuständigkeiten (oder zumindest große Überschneidungen) zwischen den Häusern zu schaffen.
An dieser Stelle erkennt man wieder einmal, dass zwischen der Grundverständigung der Ampel-Arbeitsgruppe und der konkreten Ausgestaltung in den finalen Koalitionsverhandlungen auf höchster Ebene ein (definitiv auch fachliches) Loch klaffte, in das nun sämtliche angedachten Effizienzgewinne hinein purzeln.
Immerhin: Mit Wolfgang Schmidt ist nun doch auch wieder das Kanzleramt aktiv, aber im (abgewerteten?) IT-Rat nur auf Bundesebene. Denn der IT-Rat (Staatssekretäre, Bundes-CIO plus Kanzleramtschef reden über die Verwaltungsdigitalisierung Bund und auch ein bisschen über Strategie) ist nicht mit dem IT-Planungsrat zu verwechseln (Bundes-CIO und höchste Digitalzuständige der Länder entscheiden über die bundesweite Verwaltungsdigitalisierung, Kommunalvertreter rufen von der Seitenlinie Sachen rein, und ohne Einstimmigkeit geht wenig. Für Laien gut zu verstehen, richtig?).
Aber im Ernst, beziehungsweise doch mit etwas Spott: Das lässt sich natürlich als Gewinn sehen. Denn nach den Erfahrungen in der Bund-Länder-Koordination der vergangenen Monate scheint es mir so, als könnte jedes föderale Projekt froh sein, Herrn Schmidt eben nicht in koordinierender Funktion erleben zu müssen. Auch wenn natürlich so ein Chefsachen-Zeichen in Sachen Digitalisierung eine gute… aber lassen wir das.
Meta verpasst den iPhone-Moment
Wie The Information ($) Ende letzter Woche meldete, will Meta a.k.a. Facebook seine Augmented-Reality-Brille in der ersten Version nur für Developer bereitstellen. Nachdem vor ein paar Monaten sogar Veröffentlichungstermin und Preis kursierten, ist das eine durchaus überraschende Wende, sicherlich auch finanziell bedingt. Meta hätte die AR-Brille Cambria mit einem Preis von 800 Dollar schon ziemlich stark subventionieren müssen - aber ohne damit bereits in einem Preisbereich zu landen, wo so ein Gerät ziemlich schnell angenommen wird.
Ein interessanter Aspekt des Ganzen ist die Produktkategorie-Definition, die Meta damit aufgibt - und auf die Mark Zuckerberg in seiner Hoffnung auf einen “iPhone-Moment” offenbar ziemlich viel Wert gelegt hatte. Denn Apple dürfte 2023 mit einer eigenen AR-Brille auf den Markt kommen und damit das Genre prägen. Um nicht als Abklatsch zu gelten, muss danach Metas Cambria-UX entweder deutlich besser sein, ein sehr viel attraktiveres Ökosystem anbieten, oder letztlich das Versprechen “günstiger, aber ähnlich gut" einlösen.
Was alles durchaus möglich ist, denn auch Apple dürfte mit keinem perfekten Produkt an den Markt gehen, sofern man den Termin überhaupt hält. Aber Meta trägt mit seinem schlechten Privacy-Ruf natürlich noch eine ganz andere Bürde im Metaverse. Sie wiegt den Vorteil auf, theoretisch gleich mehrere soziale Netzwerke als Eintrittsportal in das Meta-versum anzubieten.
Ausblick: Am Freitag geht es um die neuen Narrative rund um "Künstliche Intelligenz”, die mit der Popularisierung der ersten Foundation Models einhergehen (siehe u.a. The Economist diese Woche).