I/O 07/Juni/2022
Retrofuturismus / Content-Kapital / Palmer Luckey und das überwachte Schlachtfeld
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Retrofuturismus
Robin Berjon ist der VP für Data Governance bei der New York Times und vertritt sie unter anderem in Standardisierungsfragen beim W3C. Er denkt aber auch gerne über die Digitalisierung nach und hat jüngst sieben Thesen veröffentlicht, was das Internet mit uns macht. Diese Gedanken fand ich dabei äußerst hilfreich:
Die digital vermittelte Welt als Entscheidungsbaum: Wir leben nicht in einer Simulation, sondern in einer Realität, die durch vergangene Simulationen der Zukunft erzeugt wird.
Heißt: Wenn Software Zugang zu Verhaltensdaten plus redaktionelle Kontrolle darüber hat, was jemandem angezeigt wird (z.B. Suchmaschinen, Spotify, Social Media), verwendet sie die Informationen über vergangene Entscheidungen dafür, unser Verhalten in der Zukunft zu prognostizieren und je nach Schwerpunkt dieser Prognose in eine bestimmte Richtung (meist: Verweildauer) zu steuern. In diesem Sinne formt Software unser medial vermitteltes Leben in der Logik eines Entscheidungsbaums. Was außerhalb des Entscheidungsbaums existiert, lernen wir niemals kennen. Das sind die Grenzen der digitalmedial vermittelten Welt.
Die Vorstellung einer “authentischen Person” sorgt im digitalen Zeitalter dafür, dass wir von unserem früheren Ich überwältigt werden. Denn Identität ist kontextabhängig und muss es bleiben. Der Kontext-Kollaps der Digitalisierung aber macht uns auf unterschiedliche Art und Weisen abhängig von dem, was bereits über uns existiert, und zwar immer aus der Gegenwart bewertet (das ist jetzt meine Interpretation von dem, was Berjon schreibt).
Das Ende der intellektuellen Intersektionalität: Wenn unsere Vergangenheit ständig präsent ist, aber ihr Kontext kollabiert, fehlt der Raum, um zu experimentieren - denn unser “Ich” der Vergangenheit kann missverstanden und abgelehnt werden. Aber genau dieses Experimentieren ist wichtig, um mich als Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Experimente in Zeiten einer immerpräsenten Vergangenheit beschränken sich entsprechend auf das, was in meiner Peer Group akzeptiert wird. Wir sortieren uns entlang von Haltungen, verbauen uns damit aber auch in vieler Hinsicht die Möglichkeit, uns zu verändern. Oder auch einfach abzuweichen - das Ende der intellektuellen Intersektionalität. (Ob das wirklich auf die digital-vermittelt aufwachsende Generation zutrifft, muss allerdings erst noch bewiesen werden, finde ich.)
Das Internet strukturiert unser Leben nach bürokratischen Maßstäben: Unser digitales Umfeld ist eine Bürokratie: Menschen werden in Kategorien eingeteilt, aus denen wiederum folgt, welchen Dingen [Content] sie begegnen. Wie alle Bürokratien kann sie sich dabei auf ein Grundvertrauen in Rationalität verlassen - “Entscheidungen haben keine Geschichte, sie existieren einfach”. Eine weitere Parallele: Die Optimierung auf zufällige Metriken, die ihre Sinnhaftigkeit verloren haben.
Ann all das schließt sich die Frage von Corin Cath an: Das Internet strukturiert unser Leben, aber wer strukturiert das Internet? Berjons Antwort:
“Unfortunately, technologists are poorly positioned to understand the situation in part because they rarely are the ones involved in nudging, in part because this is all lathered in an ideology of unavoidably triumphant science in which technology is at the same time neutral and necessarily leads to a post-scarcity Star Trek universe, and in part because us computer nerds can always escape much of this domination and trade our mild-mannered alter egos for the Unix philosophy of power tools. But it wouldn’t be the dumbest thing to build for the future again.”
Content-Kapital statt kulturellem Kapital?
Die Medienhistorikerin Kate Eichhorn passt, so ist in einer Rezension des New Yorkers zu lesen, das Konzept Pierre Bourdieu an unsere Gegenwart an: Aus kulturellem Kapitel wird “Content-Kapital”.
Konkret scheint sie mir vor allem die Metapher von “Aufmerksamkeit als Währung der Digitalität” auf die Füße zu stellen. Nämlich: Ohne Content keine Aufmerksamkeit. Allerdings glaube ich, dass das “Content-Kapital” eben doch auf das kulturelle Kapital einzahlt. Zumindest dort, wo Aufmerksamkeit als Wert an sich begriffen wird (eine Sichtweise, die sich mit dem wachsenden Grad der Digitalisierung langsam aber stetig durchzusetzen scheint).
IRL ist das “Kapital”, von dem die Rede ist, ohnehin mehrdeutig. So schreibt Taylor Lorenz in der Washington Post über die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen Amber Heard und Johnny Depp:
“When the Depp-Heard trial began gaining traction online in April, Internet users around the world recognized a fresh opportunity to seize and monetize the attention. Christopher Orec, a 20-year-old content creator in Los Angeles, has posted a dozen videos about the trial to his more than 1.4 million followers on Instagram across several pages. “Personally, what I’ve gained from it is money as well as exposure from how well the videos do,” he said.”
“Content-Kapital” ist die Aussicht auf Aufmerksamkeit, hinter der wiederum (manchmal) die Aussicht auf Geld wartet. Und weil - siehe oben - wir in einer Entscheidungsbaum-Logik agieren, muss sich der Content eben vor allem an den dort verwendeten Parametern orientieren. Im Falle von Depp/Heard führt das zu skurrilen Ergebnissen, die Taylor beschreibt:
“When large creators saw the attention relative unknowns were receiving, many fully pivoted their content to covering the trial. Makeup artists, meme accounts, comedians, lifestyle influencers, K-pop fans, movie reviewers, true-crime podcasters, real estate influencers — suddenly the Depp trial was their primary focus.”
Unendlicher Content, auf uns niedergehend in Sturzbächen.
Das überwachte Schlachtfeld (II)
In der letzten Ausgabe hatte ich noch über den Krieg der Zukunft mit seinen vernetzten und überwachten Schlachtfeldern geschrieben. In einem Forbes-Porträt über Palmer Luckey wird erwähnt, dass das US-Verteidigungsministerium natürlich schon an so etwas arbeitet. “Joint All Domain Command and Control” oder “JACD2” heißt das Projekt, und es wird so beschrieben:
“The Pentagon is eager to knit together all its surveillance and weapons systems to create a unified view of the battlefield and orchestrate them from afar, all the while resisting hacking and jamming. The program is called Joint All Domain Command and Control, or JADC2, and Anduril and others—including Palantir and Redwood City, California–based C3 AI—are jockeying for tens of billions of dollars in potential spending.”
Wer zufällig in Washington lebt, kann dazu im Juli sogar ein Symposium in Virginia besuchen. Andere Interessierte können diese Gedanken eines hochrangigen Vertreters der US-Luftwaffe bei Defense One lesen. Dort ist ein Kernproblem genannt - nämlich, dass die entsprechenden Daten konsolidiert und vereinheitlicht sowie die Prozesse für gemeinsame militärische Verwendung entwickelt werden müssen. Es sei, als würde man in ein Thermometer aus den 1970ern eine smarte Kontrolle via Smartphone einbauen müssen, so das Fazit.
Aber noch einmal zurück zu Palmer Luckey: Der ist ja bekannt als Gründer von Oculus (er flog damals bei Facebook wegen Trump-Begeisterung raus) und kommt jetzt mit seinem Digitalrüstungsstartup Anduril offenbar langsam gut ins Geschäft. Ich kann Anduril natürlich nicht seriös bewerten, um lukrative Regierungsverträge bemühen sich seriöse wie auch windige Startups. Aber es wäre die passende Geschichte: Der Vater des Facebook-Metaversums als Pionier der automatisierten Kriegsführung. Ist das noch Dual Use oder schon Dystopie?
Die Absurdität des Immobilienkaufs im Metaverse
Zitat aus “You Don’t Need A House In The Metaverse” von Ryan Broderick:
“None of the things that a house is used for in real life apply to a virtual world. You do not need to protect yourself from the elements. You do not need to store physical objects. You do not need to sleep. This is a scam and everyone involved should be embarrassed. Most importantly, if you had the limitless creative freedom of a virtual world, why would you live in a mansion? How utterly devoid of imagination do you have to be to buy a digital simulation of big house on an island?”
Links
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