I/O 03/Juni/2022
Das überwachte Schlachtfeld / Social Media und Kriegsverbrechen / China, Taiwan und die Chips
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Das überwachte Schlachtfeld
Drüben bei War On The Rocks gibt es ein sehr spannendes Essay zur westlichen Interpretation des Kriegsgeschehens in der Ukraine. tl;dr: Der Westen setzt das Narrativ “Die Russen sind schlecht vorbereitet und umprofessionell” auch deshalb, weil er sonst seine eigenen Fähigkeiten und Militärdoktrinen in Frage stellen müssten.
Die Argumentation insgesamt ist sehr bedenkenswert, ich will mir aber einen Strang herausgreifen: Seit mindestens einer Generation, vielleicht sogar seit 1945 haben demnach weder Russland, noch der Westen Kampferfahrungen, die für den Krieg in der Ukraine relevant wären. Denn wenn wir auf Afghanistan, die Balkan-Kriege oder Syrien blicken, handelt es sich in der Regel um Militärkonflikte mit einer mehr oder weniger starken asymmetrischen Dimension. Sei es die Ausrüstung und Strategie des Gegners (Irak, Afghanistan), oder auch das fehlende Aufeinandertreffen von Bodentruppen (vgl. Luftkrieg gegen Serbien, Libyen).
Vor allem aber hat sich etwas am Informationsgehalt des Schlachtfeldes geändert: Es ist jetzt digital in Echtzeit verfügbar. Zitat:
“The potential sources of this information are much more diverse and numerous now than in even the most recent conflicts. They include a wide variety of drones, commercially available satellite imagery, intelligence from Western sources, and other means.
This new reality essentially means that there is nowhere for a relatively large formation to hide. Surprise (…) may not be possible. Thus, (…) physical deception operations may also be pointless. Finally, given the sophistication of many sensors, smoke screens may be less useful than in the past.”
Es ist ja bekannt, dass die USA der Ukraine Echtzeit-Satellitenaufnahmen liefern. Und dass dies kombiniert mit dem Einsatz von (teilautonomen Kamikaze-)Kampfdrohnen dazu geführt hat, dass gerade am Anfang sehr viele russische Panzer zerstört wurden. Es gab in den USA im März in diesem Kontext auch einmal die Diskussion, ob die Zeit der Panzer nicht vorbei ist. Weil sie so einfache Ziele abgeben und im hochauflösenden Informationsumfeld nicht zu verstecken sind.
Das ist im Zusammenhang mit der Diskussion über den strategischen Sinn westlicher Panzerlieferungen an die Ukraine interessant, aber stellt natürlich größere Zusammenhänge her: Nämlich ob nicht ein Großteil von Militärstrategie und -gerät im Zeitalter der vernetzten Kriegsführung überholt ist. Und zwar nicht im Sinne von “etwas veraltet, aber unter bestimmten Bedingungen hilfreich”, sondern schlicht unbrauchbar. (Über die Tangente “autonome Waffen“ habe ich im März mal drüben im Blog nachgedacht).
Social Media und Kriegsverbrechen
Der Kollege Marten Hahn hat für den Deutschlandfunk einen 18-minütigen Hintergrund zum Thema Open-Source-Intelligence (OSINT) recherchiert. Ein zentraler Punkt: Dass die dort gesammelten Beweise vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angreifbar wären, weil Journalisten eben nicht verpflichtet sind, in alle Richtungen zu ermitteln*. Trotz des Berkeley-Protokolls, das die Sicherung solcher Beweise zu standardisieren versucht.
Caitlin Thompson hat wiederum im Interview mit Alexa Koenig von besagtem Human Rights Center in Berkeley eine andere Facette beleuchtet: Nämlich den wachsenden Druck auf Social-Media-Plattformen, Beweise über Kriegsverbrechen rechtssicher zu speichern. Also zum Beispiel Content mit Gewaltakten zwar zu löschen, aber ihn gleichzeitig auf den eigenen Servern vorzuhalten, wenn er bestimmte Parameter (z.B. Zeitraum und Geodaten) hat.
Kaum verwunderlich, dass der Ukraine-Krieg auch an dieser Schnittstelle von Digitalcontent und (Menschen-)Rechtsfragen für Beschleunigung sorgt.
*Anmerkung: Den Haag verweist für die meisten Fälle ohnehin auf die örtliche Justiz, da man selbst vor allem die Befehlshaber verfolgt.
Taiwan, China und die Chip-Expertise
Ein sehr hilfreicher Artikel zur Microchip-Branche in Asien findet sich im Economist. Es geht um den chinesischen Versuch, Boden gegenüber dem Weltmarktführer Taiwan gut zu machen. China möchte ja bis 2025 etwa 70 Prozent der verwendeten Microchips selber produzieren.
Was ich gelernt habe:
Seit 2020 zahlen die fortschrittlichsten chinesischen Chip-Hersteller keine Unternehmenssteuer.
Das wiederum hat zu einem Ausbau der Chip-Entwicklung geführt, die auch taiwanesische Fachleute angelockt hat, die oft entsprechendes Know-how mitnahmen
Zwischen 2014 und 2019 gingen 3000 taiwanesische Halbleiter-Experten nach China - das waren sieben Prozent der dort Beschäftigten in diesem Bereich.
Im Mai verabschiedete Taiwan ein Gesetz, wonach die Weitergabe von Kerntechnologien oder Geschäftsgeheimnissen an eine ausländische Macht bis zu 12 Jahre Haft nach sich ziehen kann.
Die Chip-Branche hält das für übertrieben, zumal “Kerntechnologien” im Gesetz nicht genauer definiert sind.
Es ist unklar, wie groß der Experten-Verlust wirklich ist: Die taiwanesischen Manager werden oft nach ein paar Jahren von den chinesischen Firmen rausgeschmissen, bekommen aber dann daheim keinen Job daheim, weil sie in Taiwan als Verräter gelten. Das wirkt inzwischen offenbar sehr abschreckend.