Hallo zu einer neuen Ausgabe!
Social-Media-Warnhinweise und die Smartphone-Debatte
Gestern erschien Jonathan Haidts “The Anxious Generation” auf deutsch, begleitet von einer Flut von Interviews mit dem Autor. Damit dürfte die Diskussion über die Smartphone-Nutzung von Jugendlichen auch hierzulande wieder Fahrt aufnehmen.
In den USA ist Haidts Buch bereits seit Ende März im Handel. Im Zuge der dortigen Diskussion forderte diese Woche der Surgeon General, Vizeadmiral Dr. Vivek Murthy, in einem Gastbeitrag in der New York Times, Social-Media-Apps mit Warnhinweisen zu versehen. Also ein ähnliches Vorgehen, wie es bei Tabak-Produkten praktiziert wurde. Murthy ist einer der höchsten Gesundheitsbeamten im Land, sein Wort hat durchaus Gewicht.
Beginnen wir von vorne. Haidts These lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Die Ängste und psychischen Belastungen der heranwachsenden Generation hängen direkt mit der Allgegenwärtigkeit von Smartphones zusammen. Wir geben unseren Kindern einerseits immer weniger Freiräume für die eigene, unabhängige Entwicklung, andererseits setzen wir sie der Smartphone-Welt aus, was ihrer Konzentration, Impulskontrolle, ihrer sozialen sowie kognitiven Entwicklung schadet. “Überbehütet in der physischen Welt, zu wenig geschützt in der virtuellen Welt”, wie es Haidt formuliert. Übersetztes Zitat:
“Die neue, vor etwa zwölf Jahren entstandene Smartphone-basierte Kindheit macht junge Menschen krank und hindert sie daran, im Erwachsenenalter zu gedeihen.”
Der Psychologie-Professor unterlegt das Ganze mit Studien zu der gestiegenen Zahl von Selbstmorden unter jungen Mädchen oder der Zunahme von Depressionen und Angststörungen unter Teenagern. Er argumentiert: Wenn wir den Zusammenhang mit der Smartphone-Nutzung nicht erkennen und Gegenmaßnahmen ergreifen, schaden wir unseren Kindern und letztlich auch der Gesellschaft.
Seine Forderungen:
Kinder sollen frühestens mit Beginn der Highschool (also etwa ab 14 Jahren) ein Smartphone erhalten.
Kein Social Media bis 16
Smartphone-freie Schulen
Mehr unbeaufsichtigtes Spielen und mehr Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, in der physischen Welt Verantwortung zu übernehmen
Haidts Thesen sind durchaus umstritten. Die Psychologieprofessorin Candice Odgers warf ihm in einem Nature-Aufsatz ($) vor, vor allem Ängste zu schüren. Die Studienlage ergebe keine belastbaren Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Teenager-Wohlbefinden und Smartphones, Haidt ziehe oft Untersuchungen heran, die bei genauerem Hinsehen Korrelation statt Ursache/Wirkung abbildeten. Ihr Fazit (übersetzt und gefettet):
“Als Mutter von Jugendlichen würde ich auch gerne eine einfache Ursache für die Traurigkeit und den Schmerz identifizieren, von denen diese Generation berichtet. Leider gibt es keine einfachen Antworten. Der Beginn und die Entwicklung von psychischen Störungen wie Angstzuständen und Depressionen werden von einer komplexen Reihe genetischer und umweltbedingter Faktoren bestimmt.”
Auch der Oxford-Professor Andrew Przybylski, der am Oxford Internet Institute zu menschlichem Verhalten im Kontext Technologie forscht, kritisiert die herangezogenen Studien. Przybylsky selbst kam in seinen eigenen Studien wiederholt zu dem Ergebnis, dass kein nachweisbarer negativer Zusammenhang zwischen Smartphone-Nutzung und der geistigen Gesundheit Jugendlicher besteht. Oder ein genereller Zusammenhang zwischen dem Wohlbefinden einer Gesellschaft und dem Verbreitungsgrad von Facebook.
Diese beiden Lager (“Wirmüssenhandeln” und “Wirwissenzuwenig”) stehen sich schon länger gegenüber. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich die Erfahrungswerte der Bevölkerung verändert haben: Fast alle Eltern können inzwischen etwas darüber erzählen, wie sich Aufmerksamkeit und Verhalten ihrer Kinder durch Smartphones verändert, wie sie teilweise Symptome von Abhängigkeit zeigen, gerade, wenn ihnen das Gerät entzogen wird. Es fühlt sich deshalb richtig an, was Haidt beschreibt.
Charles Arthur, einer der vertrauenswürdigsten Journalisten im Tech-Bereich überhaupt, wies vor einiger Zeit auf die Notwendigkeit der Differenzierung hin: So zeigten viele Datenanalysen, dass die Smartphone-Nutzung je nach Intensität unterschiedliche Folgen hat:
Kinder, die wenig Zeit online verbringen, sind oft unglücklich, da sie wichtige Online-Diskussionen und soziale Interaktionen in ihrem gleichaltrigen Umfeld verpassen.
Kinder, die eine moderate Zeit online verbringen, sind dagegen eher untereinander verbunden, teilnehmend und glücklich. Der entscheidende Punkt ist, dass sie nicht ihre gesamte Zeit online verbringen, wobei die genauen Grenzen für "moderat" unklar sind.
Kinder, die viel Zeit online verbringen, sind intensiv untereinander verbunden, übermäßig teilnehmend, aber unglücklich. Doch bleibt offen, ob das von der langen Online-Zeit kommt - oder ob sie viel Zeit online verbringen, weil sie unglücklich sind und soziale Kontakte suchen.
Ein Punkt, auf den verschiedene progressive Rezensenten von Haidts Buch hinweisen: Zwar benennt er als wichtigen Faktor auch, dass Eltern ihre Kinder nicht selten als Projekt betrachten und ihnen zu wenige Freiräume geben (so hat sich offenbar das Alter, in dem Eltern ihre Kinder draußen unbeobachtet spielen lassen, von durchschnittlich neun auf elf Jahre erhöht). Andere Faktoren wie soziale Ungleichheit oder die Machtlosigkeit im Angesicht unserer gegenwärtigen Situation (Klimawandel, Zukunftspessimismus) lässt er dagegen ebenso außen vor wie mögliche Differenzierungen nach sozialer Herkunft.
Die Autorin Lucy Foulkes schreibt in einem sehr differenzierten Guardian-Beitrag dazu (übersetzt und gefettet):
“Viele andere Veränderungen sind zeitgleich mit dem Anstieg der Berichte über zunehmende psychische Gesundheitsprobleme bei Teenagern aufgetreten: zum Beispiel ein Anstieg der Fettleibigkeit, ein Anstieg des schulischen Drucks und die Covid-Pandemie, die alle mit einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit verbunden sind. Haidts Theorie über soziale Medien ist relevant, aber wahrscheinlich nur ein Teil eines großen und komplizierten Puzzles.”
Auch die Wissenschaft betrachtet dieses Puzzle noch nicht ausreichend in seiner Gesamtheit. So macht eine deutsch-britische Forschergruppe folgende Vorschläge für eine gesamtheitlichere Herangehensweise:
Die Wissenschaft hat die wechselseitigen Einflüsse zwischen Umwelt und Entwicklung sowie die Unterschiede in der Empfindlichkeit von Jugendlichen gegenüber den Auswirkungen sozialer Medien nicht ausreichend berücksichtigt. Beispielsweise beeinflusst der Zustand der psychischen Gesundheit auch, wie soziale Medien genutzt werden.
Es ist noch unklar, wie sich der Faktor soziale Medien auf psychische Gesundheit im Vergleich zu anderen bekannten Faktoren wie Armut oder Einsamkeit verhält. Das macht es auch schwierig, Ausmaß, Bedeutung und Kosten Gegenrezepte zu ermitteln.
Soziale Medien werden wahrscheinlich in noch nicht vollständig verstandener Weise mit diesen bekannten Faktoren interagieren und können auch die psychische Widerstandsfähigkeit fördern, zum Beispiel durch soziale Unterstützung oder Online-Selbsthilfeprogramme. Diese Komplexität sollte in zukünftigen Studien berücksichtigt werden, um herauszufinden, welche Mechanismen am wichtigsten sind und welche Prioritäten für politische Maßnahmen und Interventionen gesetzt werden sollten.
Zu einer besseren Forschung gehört neben einer klareren Unterscheidbarkeit der Faktoren in solchen Studien auch ein besserer Zugang zu Daten, die von den sozialen Netzwerken selbst erhoben werden. Das fordert auch der Surgeon General in seinem Artikel (übersetzt und gefettet):
"Unternehmen müssen (…) verpflichtet werden, alle ihre Daten zu den gesundheitlichen Auswirkungen mit unabhängigen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit zu teilen – derzeit tun sie dies nicht – und unabhängige Sicherheitsprüfungen zuzulassen. Während die Plattformen behaupten, ihre Produkte sicherer zu machen, brauchen die Amerikaner mehr als nur Worte. Wir brauchen Beweise.”
Das wäre sicher ein Anfang. Ein sinnvollerer, als irgendwelche Warnhinweise. Dennoch lässt sich ein Argument Haidts nicht von der Hand weisen: Die Frage, ob wir jetzt stärker regulieren oder später, ist für die aktuelle Generation Heranwachsender hochgradig relevant. Und ist die Wahrscheinlichkeit nicht höher, durch Nichtstun Schaden anzurichten, als durch eine etwas übertriebene Regulierung?
Das kommt natürlich ganz darauf an: Jugendliche nutzen soziale Medien, um ihren Lieblingskünstlern zu folgen, mit ihrem Freundeskreis zu kommunizieren oder auch Nachrichten zu erhalten. Eine Altersgrenze ab 16 erscheint deshalb unverhältnismäßig, zumal sie sowieso nur lückenhaft umzusetzen wäre. Andere Maßnahmen wie Smartphone-Verbote in Schulen lassen sich sicher diskutieren, zumal sie ja teilweise schon angewandt werden. Allerdings nach einer seriösen Prüfung.
In diesem Zusammenhang sei auch an die Software-Mechaniken erinnert, die hier am Werk sind. Und die nicht in Stein gemeißelt sind: Konzepte wie Likes und Shares und Empfehlungsalgorithmen lassen sich durchaus auf den Prüfstand stellen. Theoretisch lässt sich die Idee der “Dark Patterns”, also unlauteren User Interface, im “Digital Services Act” auf weitere Formen. Allerdings gälte es auch hier, erst einmal die Wirkung solcher Maßnahmen realistisch einzuschätzen.
Das Argument wiederum, das Ganze sei einfach eine Erziehungsfrage, halte ich für problematisch: Denn durch die technologischen Umwälzungen des Smartphone-Zeitalters sind wir letztlich alle Teil eines gigantischen Experiments - auch die Erwachsenen.
Chatkontrolle - nun endgültig auf dem Weg?
Am morgigen Donnerstag stimmen die Botschafter der EU-Länder in Brüssel über einen weiteren Kompromissvorschlag zur Chatkontrolle ab (zum Thema siehe auch Ausgabe #89). Der Entwurf der belgischen Ratspräsidentschaft könnte dieses Mal die notwendige Mehrheit erhalten, weil Frankreich - zuletzt eh in Sicherheitsfragen sehr rustikal unterwegs - zustimmen könnte.
Der Kompromissvorschlag, wie ihn der österreichische Standard beschreibt:
“Demnach sollen die Dienste das Risiko, dass auf ihren Plattformen Straftaten begangen werden, bewerten. Dazu sollen sie Bilder, Videos und URLs durchsuchen, aber nicht mehr – wie ursprünglich geplant – auch Textinhalte. Außerdem sollen User der Chatkontrolle zustimmen, um weiterhin Bilder und Videos hochladen zu dürfen.”
Das ist absurd: Für was nutze ich einen Messenger, wenn nicht für das Teilen von Bildern und Videos? Der Form halber hätte man damit EU-Datenschutzrecht eingehalten, wonach die Verarbeitung persönlicher Daten nur mit Zustimmung der Nutzer erlaubt ist. Aber de facto ist es eine Form erzwungener Zustimmung, die in dieser Form an autoritäre Staaten wie China oder Russland erinnert. An dieser Dimension muss sich auch die Entscheidung der Bundesregierung messen lassen.
Notizen
Amerikanische Desinformationskampagne Desinformation bleibt ein schwieriges Thema, weil sie a) seit 2016 regelmäßig als Ausrede für schlechte Wahlergebnisse herangezogen wird und b) Ausmaß und vor allem Einfluss weiterhin unklar sind. Zumal es eben nicht nur die berühmten “russischen Kampagnen” gibt, sondern auch die einheimische Verbreitung, die irgendwo zwischen Desinformation und Falschinformation mäandert. Und es gibt noch eine weitere Dimension: Reuters erinnert mit einer neuen und aufwändigen Recherche daran, dass Desinformation und Psyops auch aus dem Westen kommen können. So führte das Pentagon während der Pandemie 2020/21 eine Online-Kampagne durch, die auf den Philippinen Misstrauen gegenüber dem chinesischen Impfstoff Sinovac säen sollte. Und das in einer Zeit, als es dort eine hohe Covid-Mortalität gab. 2021 entschied der Nationale Sicherheitsrat, die Kampagne einzustellen. Der entsprechende Dienstleister “General Dynamics IT” erhielt allerdings im Februar diesen Jahres einen neuen Pentagon-Vertrag im Volumen von 493 Millionen US-Dollar.
Onlinezugangsgesetz 2.0 Das “Onlinezugangsergänzungsgesetz” ging vergangene Woche durch den Vermittlungsausschuss (Meldung hier). Der Föderalismus hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet: Die (zugegeben verfassungsrechtlich nicht unproblematische) Standardisierung wandert in den IT-Planungsrat, wo man auf pragmatische Zusammenarbeit hoffen muss. Und auch sonst haben die Länder neue Fristen und Opt-Outs ausverhandelt. Dass Elster nun doch auf unbestimmte Zeit erhalten bleibt, zeigt den Weg an. Insgesamt ist das wohl in dem Rahmen, der angesichts der unterschiedlichen Interessen möglich war. Aber ich fühle mich doch an den Spruch erinnert, der einmal in Berlin auf das Marx-Engels-Denkmal gesprayt wurde: “Beim nächsten Mal wird alles besser”.
Huawei und Harmony OS Der Economist hat eine längere Geschichte darüber, warum die amerikanischen Sanktionen Huawei nicht geschadet haben, sondern zu einer stärkeren vertikalen Integration, neuen Breiten-Investments und Unabhängigkeit geführt haben (Artikel hier, €). Dabei geht es auch um HarmonyOS, eigentlich ein Watch-OS, das nun auch auf den (in China verkauften) Smartphones der Firma läuft. In der nächsten Version dann vollständig ohne Android-Code. Mit 700 Millionen Geräten und angeblich 2,2 Millionen Entwicklern hätte sich damit ein drittes System auf dem Markt etabliert - wenn auch bis auf Weiteres regional auf China beschränkt.
Eine Grafik
Zahlungsbereitschaft für Online-Nachrichten (aus dem neuen Reuters Institute Digital News Report).
Links
Meta AI wird - entgegen anderer Pläne - noch nicht in Europa eingeführt.
Wie US-Geheimdienste versuchten, den chinesischen Covid-Impfstoff in Asien zu diskreditieren.
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes