Hallo zu einer neuen Ausgabe Dieser Newsletter befasst sich oft mit Digitalisierung aus gesellschaftlicher, politischer, regulativer und diskursiver Perspektive. Nummer #80 ist etwas experimenteller gehalten - der Versuch einer assoziativen Annäherung an das Thema Aufmerksamkeit im Smartphone-Zeitalter. Wer diese Form interessant findet, könnte auch an meinem anderen (Nicht-Tech-)Newsletter Gefallen finden.
Das Wesen unserer Aufmerksamkeit
(1) Gegenwart, umgeben von Gegenwart
„In der Vergangenheit waren Nachrichten, die mich aus der Ferne erreichten, alte Nachrichten. Jetzt, mit ihrer sofortigen Übertragung, sind alle Nachrichten gegenwärtig. Ich lebe in der Gegenwart, umgeben von gegenwärtiger Zeit, während ich noch vor nicht allzu langer Zeit auf einer Insel der Gegenwart lebte, die von Vergangenheiten umgeben war, die mit der Entfernung an Tiefe gewannen.“
Yi-Fu Tuan (via)
(2) Metaphern
Wie lange müssen wir auf unser Smartphone blicken, um endlich glücklich zu werden? Die Ironie in dieser Frage muss ich nicht näher erklären. Wir alle wissen, das Smartphones und die in ihr enthaltene Welt unser Verhalten verändert haben. Wir haben unsere Worte und Vorstellungen angepasst, um das zu beschreiben: Aus der fragmentierten Aufmerksamkeit wurde irgendwann die “gefrackte” Aufmerksamkeit, inzwischen ist sogar von "Weapons of Mass Distraction" die Rede.
Was wir inzwischen weniger verwenden: Aufmerksamkeit, die auf etwas gelenkt wird; die wir schärfen; die wir etwas widmen; die durch etwas erregt wird.
(3) Flaschenhals
Im Jahr 1971 verwendete der Sozialwissenschaftler Herbert A. Simon erstmals den Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie. Er ging von zwei Prämissen aus.
Der “Flaschenhals des menschlichen Denkens” ist die Aufmerksamkeit. Sie schränkt uns in informationsreichen Umgebungen in dem ein, was wir wahrnehmen - und damit auch in dem, was wir tun können.
Ein Reichtum an Informationen erzeugt einen Mangel an Aufmerksamkeit. Oder präziser: Die Information verzehrt unsere Aufmerksamkeit.
All das, was wir seitdem als Aufmerksamkeitsökonomie wahrnehmen - von der Umlenkung unserer Aufmerksamkeit durch Push-Notifikationen bis zu sozialmedialen, kommunikativen und politischen Strategien der permanenten Emotionalisierung - erscheint aus dieser Perspektive nur als logische Ableitung. Wo eine Ökonomie entsteht, entsteht auch Wettbewerb.
(4) Zu wenig Aufmerksamkeit?
Ist Aufmerksamkeit aber wirklich ein knappes Gut? Die Antwort aus Perspektive des Buddhismus würde wohl lauten: Wir haben genau so viel Aufmerksamkeit, wie wir benötigen. Vielleicht wird aus dieser Position nicht nur eine spirituell-religiöse, sondern eine des gesunden Menschenverstands, wenn wir sie mit diesem Gedanken des Neurologen und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl verbinden:
“Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.”
(5) Mondaugens Gesetz
Aus Thomas Pynchons “Gravity’s Rainbow” (hier übersetzt aus dem Englischen):
“ “Persönliche Dichte” ist direkt proportional zur zeitlichen Bandbreite. Zeitliche Bandbreite“ ist die Breite deiner Gegenwart, deines Jetzt. (…) Je mehr Sie in der Vergangenheit und in der Zukunft verweilen, desto größer ist Ihre Bandbreite, desto fester ist Ihre Persönlichkeit. Aber je enger Ihr Sinn für das Jetzt ist, desto fragiler sind Sie. Möglicherweise fällt es Ihnen schwer, sich daran zu erinnern, was Sie vor fünf Minuten getan haben, oder sogar (…) daran, was Sie hier am Fuße dieser kolossalen, geschwungenen Böschung tun.”
Welche Persönlichkeit ist wirklich die attraktivere: Die feste und stabile oder die fragile und flatterhafte, in der Gegenwart verankert ist? Die Antwort erscheint einfach, doch was trifft den Zeitgeist besser, klingt aufregender?
(6) Am Haken
Bevor Nir Eyal mit seinem Buch der Durchbruch gelang (“Hooked: Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen”), tingelte er 2014 mit Seminaren dazu durch die Bay Area. So saß ich eines Abends mit einem Dutzend Produktmanager - ein damals sehr vage definierter Job - irgendwo in einem Hinterzimmer im Dogpatch, einem eher windigen Viertel am Rande der Bay von San Francisco, und lauschte Herrn Eyal, wie er vom Haken erzählte. Jener Haken, an den man die Nutzer und Nutzerinnen bekommen musste. Um sie dann von Session zu Session immer wieder in die eigene App zu ziehen.
Ich machte mir fleißig Notizen und fand die Ideen spannend, aber auch etwas banal. Am Ende packte Eyal noch seine mitgebrachten Bücher aus und verkaufte sie, immerhin hatte er auch sein Kartenlesegerät dabei. Kurze Zeit später ging der ganze Hype um Verhaltenspsychologie und UX-Design los, obwohl das alles bei den großen Tech-Firmen eigentlich schon lange Alltag war.
Eyals Buch verkaufte sich wie geschnitten Brot und ihm gelang es tatsächlich, nicht nur die App-Nutzer am Haken durch die Manege zu ziehen: Denn als im Zuge des beginnenden Techlash solche Design-Praktiken als unethisch zu gelten begannen (ohne, dass jemand auf sie verzichtet hätte), veröffentlichte er 2019 ein weiteres Buch: “Indistractable - Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen.”
(7) Suchtverhalten
Ich erinnere mich noch gut an mein erstes vollständiges Social-Media-Detox. Ich hatte alle Apps gelöscht, aber nicht mein Verhalten, den Griff zum Smartphone. So gut wie damals wusste ich seitdem nie wieder über die Wettervorhersage für Berlin Bescheid.
Wenn ich heute manchmal instinktiv in einer Denkpause mein Telefon aus der Hosentasche ziehe, ohne zu wissen, welche App ich überhaupt öffnen möchte, erinnere ich mich daran. Unser Verhalten zu ändern, bedeutet auch, unsere Übersprungshandlungen zu verändern.
(8) Moral
Den Tech-Firmen moralische Vorwürfe zu machen, mit ihrer Software unser Verhalten zu manipulieren, erscheint inzwischen so naiv, als würde man Shell und BP dafür kritisieren, Öl und Gas zu fördern. Genauso naiv wäre es allerdings, die Verhaltensmuster von Nutzerinnen und Nutzern als Resultat kollektiver Vorlieben zu betrachten und die Lösung in der Disziplinierung des eigenen Willens zu suchen.
Einige hilfreiche Fragen dazu wären stattdessen:
Wenn meine (fehlende) Aufmerksamkeit ein Problem ist, wo genau identifiziere ich die Ursache?
Dient die Disziplinierung meines Verhaltens mir selber oder dem System, das dadurch unhinterfragt weiterbestehen kann?
Was bedeutet “freier Wille” im Kontext einer allgegenwärtigen Technologie, deren Nicht-Nutzung unmöglich erscheint?
Wer oder was erwartet meine Aufmerksamkeit? Schenke ich sie oder gebe ich sie unbewusst, instinktiv?
Fürchten wir oder suchen wir digitale Aufmerksamkeit? Fürchten oder suchen wir Aufmerksamkeit in der physischen Welt? Gibt es einen Unterschied und wenn ja, woher kommt er? Welche Strategien wenden wir jeweils an?
Wie finden wir einen Weg, unsere Aufmerksamkeit der Welt und unseren Mitmenschen zu schenken?
(9) Ausbeuterische Gestaltungsmuster
Aus dem “Digital Services Act” der EU:
“Dark Patterns“ auf Online-Schnittstellen von Online-Plattformen sind Praktiken, mit der darauf abgezielt oder tatsächlich erreicht wird, dass die Fähigkeit der Nutzer, eine autonome und informierte Auswahl oder Entscheidung zu treffen, maßgeblich verzerrt oder beeinträchtigt wird. (…) Anbietern von Online-Plattformen sollte es daher untersagt sein, die Nutzer in die Irre zu führen oder zu etwas zu verleiten und die Autonomie, die Entscheidungsfreiheit oder die Auswahlmöglichkeiten der Nutzer durch den Aufbau, die Gestaltung oder die Funktionen einer Online-Schnittstelle oder eines Teils davon zu verzerren oder zu beeinträchtigen. Dazu sollten unter anderem ausbeuterische Gestaltungsmuster zählen, mit denen die Nutzer zu Handlungen verleitet werden sollen, die dem Anbieter von Online-Plattformen zugutekommen, aber möglicherweise nicht im Interesse der Nutzer sind.”
Aber was, wenn diese ausbeuterischen Gestaltungsmuster bereits im Gerät selber und seiner Rolle in unserem Alltag angelegt sind?
(10) Kreislauf der Anpassung
“Der zeitgenössische Mensch versucht, die Welt nach seinem Bild zu erschaffen, eine vollständig vom Menschen geschaffene Umwelt aufzubauen, und entdeckt dann, dass er dies nur unter der Bedingung tun kann, dass er sich ständig selbst neu erfindet, um sich dieser Welt anzupassen.”
- Ivan Illich
Links
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Johannes