Aus dem Internet-Observatorium #65
Politische Digitalvorhaben bis Ende 2023 (Deutschland und USA)
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Diese Woche monothematisch über politische Digitalvorhaben für den Rest des Jahres, und zwar in Deutschland und den USA. Die EU reiche ich eventuell nach, aber da dominiert bekanntlich der “AI Act” das Geschehen und ohnehin wird bald gewählt. In den Links finden sich aber einige EU-relevante Sachen.
Politische Digitalvorhaben bis Ende 2023 (Deutschland)
Onlinezugangsgesetz 2.0 (Bundesinnenministerium)
Stand: Aktuell in den Ausschüssen des Bundestags.
Darum geht es: Die Fortsetzung des zähen Versuchs, Bürgerinnen, Bürgern und Unternehmen Verwaltungsdienstleistungen flächendeckend online anzubieten. Neuerungen sind die Nutzung eines einheitlichen Nutzerkontos (BundID) und die Abschaffung der Schriftform für die digitale Abwicklung von Onlinediensten (weil man sich digital identifiziert). Zudem will der Bund stärker technische Standards festlegen (was bei den Ländern umstritten). Insgesamt auch im Schatten von föderalen Finanzierungs- und Mitsprachefragen stehend. FDP und Grüne wollen ein (zunächst vorgesehenes, dann im Entwurf gestrichenes) Recht auf digitale Verwaltungsdienstleistungen verankern, um die Umsetzung zu beschleunigen.
Digitale-Dienste-Gesetz (Digitalministerium)
Stand: Entwurf in der Ressortabstimmung, muss Februar 2024 in Kraft getreten sein
Darum geht es: Die Umsetzung des europäischen Digital Service Act (DSA), der den Umgang von Plattformen mit illegalen Inhalten und Risiken regelt. Da das meiste nach Brüssel wandert (die Aufsicht über Suchmaschinen und “sehr großen Plattformen” a.k.a. “very large online-platforms” a.k.a VLOP a.k.a. Meta, Amazon, Zalando und Co), geht es um nationale Regulierung von Plattformen mit weniger als 45 Millionen Nutzern. Konkret soll die Bundesnetzagentur die “Koordinierungsstelle für digitale Dienste”, also die höchste Aufsichtsstelle hierzulande werden. Weitere beteiligte Behörden sind der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Vermutlich wird auch ein Konstrukt rund um die Landesmedienanstalten für den Jugendschutz errichtet, da diese sich verfassungswidrig ausgeschlossen fühlen. Das Telemediengesetz (TMG) und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) entfallen.
Gesundheitsdatennutzungsgesetz und Digital-Gesetz (Gesundheitsministerium)
Stand: Kabinettsbeschluss liegt vor, parlamentarisches Verfahren im vierten Quartal.
Darum geht es: Das Digital-Gesetz soll die Verbreitung der elektronischen Patientenakte fördern, indem diese künftig per Default eröffnet wird, sollte ein Versicherter nicht widersprechen. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll die Nutzung aggregierter, pseudonymisierter Gesundheitsdaten von für Forschungszwecke ermöglichen. Das so genannte Forschungsdatenzentrum (FDZ) soll die sonst dezentral gespeicherten Daten bündeln und den Zugang koordinieren. Von der Wissenschaft und Pharmabranche sehr gewollt, von Datenschützern und Verbraucherverbänden wegen zu geringer Kontrollmöglichkeiten für die Versicherten gerügt. Im parlamentarischen Verfahren dürften zahlreiche Änderungen einfließen.
Umsetzung NIS2-Richtlinie (Bundesinnenministerium)
Stand: Entwurf in der Ressortabstimmung. Muss erst 2024 verabschiedet werden.
Darum geht es: Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Cybersicherheit kritischer Infrastrukturen, zum Beispiel Bundesbehörden, Anbieter von Telekommunikationsdiensten oder auch Betreiber von Kraftwerken oder Krankenhäuser. Insgesamt sind 29.000 Organisationen betroffen. Sie müssen sich beim BSI registrieren und bestimmte (verschärfte) IT-Sicherheitsauflagen erfüllen. Das BSI kann sie künftig stärker sanktionieren und ihnen im Zweifel sogar die Geschäftsführung entziehen.
KRITIS-Dachgesetz (Bundesinnenministerium)
Stand: Entwurf in der Ressortabstimmung. Muss erst 2024 verabschiedet werden.
Darum geht es: Umsetzung einer EU-Richtlinie zum physischen Schutz kritischer Infrastrukturen, zu denen zum Beispiel Rechenzentren von Telekomanbietern gehören (die zum vor den Folgen von Sabotage oder Naturkatastrophen geschützt werden sollen). Der Entwurf stellt die Pflichten für die Wirtschaft unter den Vorbehalt, dass sie verhältnismäßig sind, löst die unterschiedlichen föderalen Kompetenzebenen bislang nicht auf und spart auch das Thema chinesischer Netzwerk-Komponenten aus.
Internationale Digitalstrategie (Digitalministerium)
Stand: Demnächst im Kabinett.
Darum geht es: Der Versuch, die internationalen Dimension der Digitalpolitik Rechnung zu tragen. Konkret durch die Idee, dass gemeinsame Werte auch Grundlage für Technologiepartnerschaften sein können. Ansonsten sehr an den laufenden G-7-Prozessen orientiert (internationale Datenflüsse unter Partnern, größerer Fokus auf internationale Standardisierungsprozesse, Selbstregulierung bei generativer KI). Strategiepapiere werden allerdings insgesamt überschätzt.
Politische Digitalvorhaben bis Ende 2023 (US-Kongress)
Senat
Mehrheitsführer Chuck Schumer hat etwa ein Dutzend von Anhörungen und Treffen zum Thema KI (“AI Insight Forums”) angekündigt. Das erste fand bereits Mitte September statt. Mögliche Gesetzentwürfe werden allerdings eher für Anfang 2024 erwartet, mit einer überschaubaren Wahrscheinlichkeit, dass zwischen US-Wahl im November und dem neuen Kongress Anfang 2025 irgendeine Form von relativ milder KI-Rahmenregulierung dann auch verabschiedet wird.
Unklar ist weiterhin, was mit dem “Kids Online Safety Act” (KOSA) passiert - der Gesetzentwurf sieht die für Plattformen die Einführung von Altersverifikationsmaßnahmen und einer "Sorgfaltspflicht" zum Schutz von Minderjährigen vor. Darüber hinaus ermöglicht das Gesetz den Generalstaatsanwälten der Bundesstaaten, Plattformen zu verklagen, wenn sie glauben, dass Minderjährige geschädigt wurden. Auf Ebene von Bundesstaaten werden ähnliche Gesetze bereits von reaktionären Gruppen ausgenutzt, um gegen Transgender-Themen vorzugehen.
Repräsentantenhaus
Jim Jordan, Freedom-Caucus-Hardliner und Vorsitzender des Justizausschusses, wird weiterhin Firmen und Behördenvertreter, aber auch Forscher vorladen, um seine Untersuchung zur angeblichen “Absprache” zwischen der Regierung und den amerikanischen Tech-Firmen zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung bis in den Wahlkampf 2024 zu strecken.
Auf der konstruktiven Seite stehen einige KI-Projekte: Zum Beispiel die Gründung des “National AI Ressource”, ein Cloud-Computing-Programm für Forscher und Start-ups, mit dem sie unabhängiger von der Computing-Kraft der Cloud-Anbieter Google, Amazon und Co. Modelle trainieren können. Unklar ist allerdings, ob dies mit Fördermitteln unterfüttert wird - die US-Regierung fordert 2,6 Milliarden US-Dollar.
Ein Gesetz, das Apple und Google ähnlich wie die EU zu unabhängigen App-Stores für iOS und Android verpflichtet, durchläuft zwar derzeit den parlamentarischen Prozess, wird aber sehr wahrscheinlich nicht aufgenommen. Insgesamt gilt es jenseits von Kulturkampf-Themen und TikTok (im Zuge der Anti-China-Politik) auf Seiten der republikanischen Mehrheit kein Interesse, Großkonzerne wie die Tech-Firmen zu regulieren.
Links
Warum der “Brüssel-Effekt” bei KI nicht funktioniert. (€)
So stehen die EU-Länder im Rahmen der Ziele der “digitalen Dekade” da.
Digital Markets Act: Die wichtigsten Folgen.
Ashton Kutchers geschäftliche Verflechtungen im Zusammenhang mit seinem Chatkontrollen-Lobbyismus. (€)
Tech-Regulierung in Asien und Europa im Vergleich.
Swatting, German style (mit der Nora-App).
Die politischen Hintergründe von TikTok-Verboten in Afrika.
“Hate Speech”: X/Twitter gibt inzwischen deutlich mehr Daten an deutsche Strafverfolger.
Social Media: Fast niemand redet, alles gucken.
Gesichtserkennung, aber für Fame durch Doxing.
Bis nächste Woche!
Johannes