Aus dem Internet-Observatorium #63
TikTok und Trend-Viktimisierung / Stephen King und die Maschinenstürmer / Schönbohm-Saga, nächster Teil
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Gleich zu Anfang ein kleiner Programmhinweis: In den kommenden beiden Wochen bin ich nicht im Einsatz. Zumindest am kommenden Mittwoch wird es aber eine neue Ausgabe mit einem Interview geben.
TikTok und Trend-Viktimisierung
Wenn es um TikTok und Verhaltensstörungen, psychischen Störungen oder psychische Krankheiten geht, sind wir schnell in problematischem Terrain. Ernstzunehmende Phänomene treffen auf Internet-Trendsetting oder werden dazu. Wir erinnern uns an den kurzen Hype über Videos, in denen TikTok-User plötzlich Tics entwickelten.
The Verge berichtete jüngst über die TikTok-Community von jungen Menschen, die (sich in der Regel selbst) eine Dissoziative Identitätsstörung (DIS) diagnostiziert haben. Früher war das als multiple Persönlichkeitsstörung (MP/MPS) bekannt. Die Eigenbezeichnung lautet “System” (ein System, das mehrere Persönlichkeiten in sich trägt). In der Community hat sich dazu ein eigenes Online-Vokabular entwickelt.
Diese Community ist nicht groß - aber doch so groß, dass sie Betroffene entweder weit überproportional repräsentiert oder wir es mit falschen Selbstdiagnosen zu tun haben, die man Trenddiagnosen nennen könnte. Letzteres sagen in dem Stück auch Ärzte wie dieser Harvard-Traumaforscher (Fettungen von mir):
“[Dr. Matthew] Robinson vermutete, dass Mitglieder von DIS-TikTok und die jungen Menschen, die von ihnen beeinflusst werden, Symptome von "imitativer DIS" zeigten - einer Form des Vortäuschens, bei der Menschen so tun, als hätten sie die dissoziative Störung, um Aufmerksamkeit oder Status zu erlangen.
Er beendete seinen Vortrag mit dem TikTok eines Systems, das mit ihrem Ehemann "Wer ist es?" spielte. Sie benutzten das Brettspiel, um ihm zu helfen herauszufinden, welche Persönlichkeit gerade "vorne" war oder den Körper ihres Systems kontrollierte. "Ich habe eine Reihe von eigenen Patienten, die ich wegen DIS behandle und deren Erfahrungen ich immer als echt empfunden habe", sagte Robinson. "Sie sehen aus und verhalten sich überhaupt nicht wie die sensationslüsternen Darstellungen in den sozialen Medien, die zu Unterhaltungszwecken geschaffen wurden.”
Die beschriebene Präsentation hatte zwei Folgen: Einerseits berichteten DIS-TikToker davon, dass sie mit Verweis auf das Video online angefeindet worden seien. Parallel ging ein derart großer Shitstorm gegen Robinson los, dass seine Klinik das Video offline nahm. Auch andere Ärzte sind jetzt vorsichtig, solche Phänomene öffentlich zu kritisieren und zu bewerten. Der Silencing-Effekt.
Das alles ist nicht gut. Gar nicht gut.
Der Autor Freddie deBoer, der selbst (nachgewiesen) an einer bipolaren Störung leidet, geht bereits seit längerem gegen die Trend-isierung von psychischen Krankheiten an. Sein Fazit über die Social-Media-Communitys (Fettungen wieder meine):
"Kaum einer von ihnen sagt, dass er Medikamente nimmt, was logisch erscheint - jeder Einzelne, den ich gesehen habe, vertritt jene Strömung, die psychische Erkrankungen als eine entzückende Persönlichkeitsmarotte ansieht, die sie einzigartig und hoch angesehen macht, anstatt sie als eine Quelle großen Schmerzes und persönlicher Zerstörung wahrzunehmen.
Sie nehmen keine Medikamente, weil sie denken, dass es nichts zu behandeln gibt. Und tatsächlich führen sie kein beeinträchtigtes Leben. Im Gegenteil, sie blühen auf, führen selbstverwirklichte und erfolgreiche Leben, schaffen es in Elite-Unis, prahlen mit ihrem Einfluss in den sozialen Medien und sind erfolgreiche Frauen.
So sieht der Status von psychischen Erkrankungen in der Jugendkultur heute aus, wo von uns erwartet wird, dass wir denen, die sagen, dass sie psychisch krank sind, in jeder Hinsicht gefällig sind, auch wenn sie anscheinend überhaupt kein Wohlwollen benötigen; sie möchten den Lorbeerkranz des Opferseins ohne es zu erleben, ein Opfer zu sein."
Mich haben Matthew Robinson und Freddie deBoer grundsätzlich überzeugt - einschiebend, dass sich mit großer Sicherheit auch “echte” Betroffene unter den TikTokern finden.
Aber das Ganze zeigt, wie hochproblematisch es ist, dass die Diskussion über diese Phänomene derart vermint ist, dass es viel einfacher erscheint, das alles als legitime Social-Media-Abbildung psychischer Erkrankungen durchzuwinken, als eine wirkliche (Fach)-Diskussion darüber zu führen, mit was wir es hier zu tun haben.
Denn wenn (vorwiegend junge) Menschen ihren Wunsch nach Anders-sein und Empathie-Erfahrung durch die bewusste oder unbewusste Aneignung von Symptomen psychischer Erkrankungen ausleben müssen, ist das Zeichen einer ziemlich reparaturbedürftigen Kultur.
Ist Stephen King KI-naiv?
Stephen Kings Bücher wurden zum Training von Meta LLaMa-Sprachmodell verwendet. Der Autor reagierte darauf jüngst im Atlantic erstaunlich gelassen ($): Wahre Kreativität sei ohne Bewusstsein nicht möglich, deshalb könne KI noch keine Werke verfassen, wie es King als Mensch gelinge.
Das Training von KI-Modellen mit seinen Büchern hält er für relativ unproblematisch. Oder besser gesagt: Er findet seine Haltung dazu irrelevant.
“Würde ich das Unterrichten (wenn man das so nennen kann) meiner Geschichten an Computer verbieten? Nicht einmal, wenn ich könnte. Ich könnte genauso gut wie König Knut sein, der versucht, die Flut daran zu hindern, hereinzukommen. Oder ein Luddit, der versucht, den industriellen Fortschritt zu stoppen, indem er eine Dampfwebmaschine zertrümmert.”
Der Autor Brian Merchant hat in der Los Angeles Times auf King reagiert. Und erstmal - als Ludditen-Biograph - daran erinnert, dass die “Maschinenstürmer” eine Reformbewegung im Sinne der frühen Arbeiterbewegung waren, keine Vereinigung reaktionärer Technikfeinde. Und er sagt zu King: Es geht um die wirtschaftliche Basis, nicht um Kreativität.
“Die [Literatur]branche hat sich bereits derart verändert, dass so gut wie niemand mehr Geld mit dem Verkauf von Kurzgeschichten verdienen kann, und die lebenssichernden Vorschüsse, die schon früher selten waren, sind heute für unerfahrene Autoren im Genre nahezu unmöglich. Generative Künstliche Intelligenz droht weitere Einnahmequellen für arbeitende Kreative zu eliminieren, die Schwierigkeiten haben, in das Geschäft einzusteigen, was die Chancen, dass ein zukünftiger Stephen King Erfolg findet, noch geringer macht.”
Ich habe viel Sympathie für diese Position. Denn King reißt zwar die beinahe philosophische Frage an, ob wir Computersystemen das Lernen verbieten dürfen (oder können). De facto aber arbeiten diese Computer für wirtschaftliche Interessen von Konzernen.
Und das ist das, was ich als ganz regulärer Internet-Autor und Blogger so frustrierend finde: Was immer man auch veröffentlicht hat und nicht hinter einer Paywall versteckt, wird gerade von zig Modellen eingesaugt. Das ist eine andere Kategorie als Google und ein anderes Kaliber als das typische “Wenn Du diesen Dienst nutzt, kann der Anbieter all deine Postings verwenden”.
Es ist, als würde man dabei zusehen, wie die echten und Möchtegern-Datenbarone von morgen aus den traurigen Resten des offenen Webs gerade die nächste Generation der Internet-Oligopole herauspressen.
Schönbohm-Saga, nächster Teil
Die Bundesinnenministerin hat überhaupt keinen Bock mehr, über die Causa Schönbohm zu reden, wie sich hier im Juli bei der Vorstellung seiner BSI-Nachfolgerin Claudia Plattner beobachten ließ.
Doch so einfach ist das nicht, denn vergangene Woche spielte man der Bild aus dem BMI folgenden internen Vermerk von Anfang März zu - also aus der Zeit, bevor das Ministerium Ende April entschied, dass nicht genügend Anhaltspunkte für ein Disziplinarverfahren gegen Arne Schönbohm vorliegen. Was sich ja auch für Außenstehende früh abgezeichnet hatte.
Der erste Absatz ist der Entscheidende:
“Disziplinarverfahren Schönbohm: sie unterzeichnet unsere Vorlage derzeit nicht und war sichtlich unzufrieden. Sie fand die Dinge, die wir ihr zugeliefert haben, zu „dünn“ – wir sollten nochmals (das) Bundesamt für Verfassungsschutz abfragen und alle Geheimunterlagen zusammentragen. Ich habe ihr gesagt, dass wir alle relevanten Behörden und Abteilungen bereits beteiligt hätten und es schlicht nicht mehr gäbe.
Auch habe ich ihr gesagt, dass sie ein Substrat erhalten habe und dass der größere Vermerk überzeugender sei. Sie möchte sich diese größere Unterlage selbst ansehen. Ich habe zusagt, ihr diese Unterlage außerhalb des Dienstweges zukommen zu lassen.
(Referat) ZI2: bitte die Version des Langvermerks, den Sie mir im Entwurf vorgelegt hatten, als Ausdruck schicken. Ich gebe das dann als Papierversion nach oben. Außerdem bat sie um folgende Nacherhebungen (sofern dies nicht bereits erfolgt ist): wir sollen im Vereinsregister prüfen, ob Schönbohm tatsächlich nicht mehr registriert ist und wir sollen anhand des Handelsregisters prüfen, ob er tatsächlich seine Firma verkauft hat. Zu letzterem meine ich, dass Schönbohm mir die entsprechenden Nachweise über den Verkauf übersandt hatte – diese bitte dem Ausdruck beifügen.”
Das Ganze ist ziemlich unangenehm. Denn das Memo ihres Abteilungsleiters Martin von Simson lässt Interpretationsspielraum. Zwar finde ich nicht, dass man daraus lesen kann, dass Faeser den Verfassungsschutz auf Schönbohm ansetzt. Wohl aber, dass sie dieses Disziplinarverfahren unbedingt wollte. Logisch, damit wäre sie aus dem Schneider gewesen.
Jetzt steckt sie in der Patsche. Dass das weiterhin schwarz geprägte BMI so etwas im hessischen Wahlkampf durchsticht, ist nicht verwunderlich. Faeser und ihr Parteigenosse Von Simson dürften sich ziemlich reingelegt fühlen, beziehungsweise die naiv-direkte Formulierung des Memos verfluchen. Oder wollte er sich mit dieser möglichst detaillierten Beschreibung absichern, weil ihm Faesers Aussagen nicht geheuer waren?
Darüber darf nun fleißig spekuliert werden. Ihre Auftritte vor den Bundestagsausschüssen sagte Faeser diese Woche ab. Für morgen (Donnerstag) früh wurde sie ebenfalls geladen, mein Stand ist, dass sie sich wieder von ihren Staatssekretären vertreten lässt.
Einen Rücktritt wird die Affäre an sich nicht nach sich ziehen, es sei denn, es kommen andere Vorgänge aus der Zeit zwischen zwischen Anfang März und Ende April ans Licht. Aber Faeser hinterlässt den Eindruck, entweder den völlig falschen politischen Instinkten zufolgen, oder aus ihrem Haus heraus ein ums andere Mal ausmanövriert zu werden. Womöglich ist es auch eine Mischung aus beidem.
P.S: Mein Deutschlandfunk-Kommentar dazu vom Dienstag findet sich hier.
Digitale KfZ-Zulassung
Die neue digitale Kfz-Zulassung ist da! So tönte es vor einigen Tagen in den Schlagzeilen. Moment, erinnerte ich mich: Hatte ich die nicht schon einmal zur Ummeldung genutzt? Antwort: Ja, aber wehe, wenn der Name im Versicherungsschein nicht mit dem vollständigen Namen im Personalausweis übereinstimmt.
Torsten Frenzel erinnert im aktuellen (und wie immer empfehlenswerten) eGovernment-Podcast daran, dass es die digitale KfZ-Zulassung schon seit längerem gibt. 2015 fing man mit der Abmeldung an, dann kamen An- und Ummeldung dazu. Inzwischen arbeitet man an i-KfZ 4 für die Flottenummeldung.
Neu ist an der “neuen digitalen KfZ-Zulassung” nur, dass man nicht mehr auf die physische Plakete warten muss - sondern sich einen Ausdruck hinter die Windschutzscheibe legen und sofort losfahren kann. Digitaler wurde der Prozess also am 1. September streng genommen nicht.
Links
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Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes