Aus dem Internet-Observatorium #62
LLMs und Wirtschaftswachstum / DSGVO vs. KI / Politische Manipulationsversuche: Desinteressierte Plattformen?
Hallo und guten Tag, dieser Newsletter ist zurück. Es war in den vergangenen Wochen einfach zu wenig los für Updates. Langsam geht die kleine Sommerpause zu Ende und deshalb ist es mal wieder Zeit für ein Update.
Apropos Update: Die neue Ausgabe der BrandEins dreht sich um Künstliche Intelligenz, dort ist auch ein Text von mir über KI & Musik erschienen (erzählt entlang des Berliner Startups Endel). Jetzt überall am Kiosk oder hier digital zu bestellen und lesen.
Große Sprachmodelle und das Wirtschaftswachstum
Ehrlicherweise können wir nur spekulieren, welche wirtschaftlichen Folgen “Künstliche Intelligenz” haben wird. Tamay Besiroglu vom MIT und der Innovationsökonom Matt Clancy tun dies in einer Debatte auf hohem Niveau.
Das Gespräch, das im Magazin Asterisk erschienen ist, lohnt sich in ganzer Länge. Hier aber die wichtigsten Argumente:
Grundpositionen:
Besiroglu hält “explosive” Wachstumsraten von 20 Prozent für möglich, Clancy ist skeptisch.
Historisches Wirtschaftswachstum:
Clancy argumentiert, dass das amerikanische Wirtschaftswachstum im gesamten 20. Jahrhundert im Schnitt bei ungefähr zwei Prozent jährlich lag. Zehn Jahre jährlich 20 Prozent würden dem wirtschaftlichen Fortschritt von 90 Jahren, dem Weg vom Planwagen zur ersten Rakete entsprechen.
Besiroglu hält dagegen: Das Wirtschaftswachstum heute sei viel schneller als vor der Industriellen Revolution, zweistellige Nachhol-Wachstumsquoten seien im Asien der 1960er/1970er regelmäßig erreicht worden. Man könne diese Prognose also nicht im Vorhinein ausschließen.
Effekte von Wachstumstechnologien:
Clancy spricht von “mehreren indsutriellen” Revolutionen: Elektrizität, die chemische Revolution, das Computerzeitalter. Aber wenn man die Effekte dieser Technologien in einer Grafik des Wirtschaftswachstums suchen würde, wären sie schwer zu finden.
Besiroglu verweist auf Chol-Won Lis Theorie vom Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum: Mehr Menschen haben mehr Wissen und wenden es für Innovation an. Die Erfindung der Elektrizität setzte dieses Wissen nicht frei, da sie menschliche Arbeit nicht perfekt ersetzen konnte. Mit KI könnten die Arbeiter- und Ideenproduzenten jedoch wieder exponentiell wachsen.
Der menschliche Faktor
Clancy betont: Explosives Wachstum kann auf zwei Wegen erreicht werden - entweder durch eine Beschleunigung der Automatisierungsrate oder durch die Automatisierung von 100% der für Innovation notwendigen Aufgaben. Wenn Maschinen wirklich alles erledigen könnten, würde ein Feedback-Effekt entstehen, bei dem ein stärkeres wirtschaftliches Wachstum die Entdeckung neuer Technologien rapide verbessert. Allerdings gibt es nur wenige Prozesse, die künftig vollautomatisiert vonstatten gehen könnten (also z.B. vom Design über Logistik bis hin zur Produktion). Es braucht also weiter Menschen, und deren “menschliche” Geschwindigkeit verlangsamt den gesamten Produktionsprozess (und damit die Wachstumsrate). Das 20. Jahrhundert zeige, dass das Wirtschaftswachstum trotz großer Automatisierungsanstrengungen und Outsourcing an Maschinen langfristig konstant geblieben sei.
Besiroglu glaubt, dass viele der nicht-automatisierbaren Aufgaben durch Spezialisierung deutlich schneller als bislang erledigt werden könnten. Ein Prozess, der 75 Prozent automatisiert und 25 Prozent menschlich erledigt werden, sei immer noch schnell. Zudem sei mit Investitionen in die Automatisierung solcher Engpass-Aufgaben zu rechnen. Was durch die wachsende Effektivität der Kombination aus Daten, neuronalen Netzen und Rechenkraft durchaus möglich sei.
Fazit:
Clancys Argumente sind aus der historischen Erfahrung abgeleitet, während Besiroglu letztlich mit einer Skalierbarkeit von KI-Systemen rechnet, die in dieser Form (also durch alle Prozesse hinweg) schwer machbar erscheint. Insofern orientiere ich mich an Clancy - im Bewusstsein, dass
DSGVO vs. Künstliche Intelligenz
Vor anderthalb Wochen habe ich für den Deutschlandfunk das Interview der Woche mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber geführt. Aus der entsprechenden dpa-Meldung dazu (Fettungen meine):
“Kelber räumte ein, die Umsetzung der Datenschutzgesetze sei im Kontext künstlicher Intelligenz eine Herausforderung. So lägen Trainingsdaten in der Regel nicht mehr als Rohdaten vor, sondern seien bereits in die Systeme integriert. Das mache die Durchsetzung von [Datenschutzgrundverordnungs-]Rechten wie etwa die Löschung personenbezogener Daten schwierig. Deshalb fordert er, das Problem bereits bei der Erfassung von Trainingsdaten anzugehen. “Da wäre es zum Beispiel wichtig, solche Daten klar zu pseudonymisieren oder zu anonymisieren, bevor sie als Trainingsdaten verwendet werden”, betonte Kelber.”
Das klingt natürlich einleuchtend, aber ist es auch praktikabel? Personenbezogene Daten sind weder im Netz, noch in Datensätzen selbst durchgehend gekennzeichnet. Sie lassen sich deshalb auch nicht (per KI) rausfiltern, um am Ende “saubere” Trainingsdaten zu haben. Denn personenbezogene Daten sind nicht nur Name, Adresse oder Ähnliches. Sondern zum Beispiel auch Standortdaten oder sonstige Informationen, die im Machine-Learning-Kontext so analysiert werden könnten, dass die “Eigentümer” de-anonymisiert würden.
Das scheint mir alles nochmal deutlich komplizierter als die Urheberrechtsfragen rund um Trainingsdaten anzugehen. Im Moment ist mir für das Verarbeitungsproblem noch keine wirkliche Lösung auf Protokoll oder Hypertext-Ebene bekannt. Vielleicht gibt es Workarounds, um hier etwas Kluges zu entwickeln. Oder wir regulieren ein nicht umsetzbares Nutzungsverbot hinein, die letztlich die Entwicklung von Large Language Models ins nicht-europäische Ausland verschiebt.
Politische Manipulation: Desinteressierte Plattformen?
Es gibt Anzeichen dafür, dass nach (X)Twitter auch Meta und Google (YouTube) das Interesse daran verlieren, politische Manipulationskampagnen zu stoppen. Zumindest, wenn es über das regulatorische Minimum hinaus geht. So berichtet die Washington Post über Meta:
“In den letzten eineinhalb Jahren berichten einige Mitarbeitende, dass es eine Abkehr von dieser proaktiven Haltung gegeben hat. Stattdessen werden sie nun gebeten, mehr Zeit darauf zu verwenden herauszufinden, wie sie sich minimal an eine wachsende Liste globaler Vorschriften halten können, laut vier aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern.”
Ein Indiz: YouTube und Meta verzichten auf Falschinfo-Label bei Postings aus dem Kosmos der Trump-Narrative (“The Big Lie” über den angeblichen Wahlbetrug). Facebook hatte so etwas ja bereits angekündigt. Und Meta ermöglicht es US-Nutzern in den Einstellungen, die Faktencheck-Hinweise auszublenden. Nicht erwähnt, aber ebenfalls relativ neu: Reddit hat den Knopf “Report Disinformation” entfernt.
Erstmal ist das ein weiteres Argument dafür, dass die EU-Regulierung im DSA (Digital Services Act) prinzipiell sinnvoll ist: Plattformen haben damit Pflichten, sich mit illegalen oder problematischen Inhalten auseinanderzusetzen. Und sie müssen sich auch mit den Risiken ihrer Plattformen beschäftigen (in welcher Form das passieren wird, wird spannend).
Im konkreten Fall würde ich aber das Narrativ “Big Tech ist die Demokratie egal” erstmal zurückhaltend bewerten. Denn konkret war die Faktenchecker-Zusammenarbeit nicht wirklich fruchtbar und im Nachhinein auch widersprüchlich (z.B. beim sich ständig verändernden Wissen rund um Covid-19).
Und wenn, wie bei Reddit, nur 16 Prozent der als Desinformation gemeldeten Postings gelöscht werden, zeigt das wahrscheinlich, wie umstritten das Label ist (und wie schnell offenbar bei unangenehmen Informationen geflaggt wird). Aber natürlich, machen wir uns nichts vor, wollen besonders Google und Meta vor den US-Wahlen 2024 als unpolitisch wahrgenommen werden. Was in einer idealen Welt auch die richtige Rolle wäre.
Letztlich läuft es darauf hinaus: Die Konzerne werden gängiges nationales Recht umsetzen und reagieren, wenn ihnen ein aktueller Fall nach NGO-Kritik um die Ohren fliegt. Musk ist ein Sonderfall, weil er für bilaterale Vereinbarungen offen zu sein scheint, wenn es sich gleichzeitig um Tesla-Absatzmärkte handelt. Aber auch der Rest wird sich vor allem an Geschäftsinteressen orientieren.
In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Blick auf Metas Oversight Board: Das entschied jüngst, dass Meta den kambodschanischen Premierminister wegen Hetz-Postings und Gewaltandrohungen sperren sollte. Der Konzern setzt die Sperre aber nicht um. Die Idee unabhängiger firmeninterner Gerichtsbarkeiten innerhalb dieser Konzerne war und ist eben eine PR-getriebene Illusion.
1 Schaubild
Gabe Rivera hat aufgeschlüsselt, warum Journalisten und Nachrichteninteressierte immer noch bei Twitter sind:
Da ich nicht mehr bei Twitter bin und nur ab und zu mit einem Burner-Account etwas nachgucke, habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung, wie im Moment Deutschtwitter ist. Allerdings weiß ich, dass sich mein Twitter-Logout wirklich positiv auf meine Lebensqualität ausgewirkt hat.
Bildschirmzeit
“Ist übermäßige Bildschirmzeit die Folge vom Verhalten der Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen? Manchmal sicherlich. Oder ist es ein Symptom einer Gesellschaft, die ihre Eltern vernachlässigt? Zumindest teilweise.”
John Hermann: A Better Way To Think About Young Kids And Screen Time
Kurz notiert
Die FT hatte neulich einen beunruhigenden Beitrag über physische Drohungen gegen Cybersicherheitsexperten. In den USA, aber vor allem in Osteuropa, wo das Ganze von Doxing bis zum Einbruch geht. Dass Cyber-Drohungen zu Aktionen IRL werden, ist nicht neu, aber ich habe den Eindruck, dass das Phänomen inzwischen deutlich zunimmt (wie auch die Einschüchterungsversuche gegen die Beteiligten an den Trump-Prozessen zeigen).
Dass Ralf Wintergerst mit seiner Rolle als Bitkom-Präsident noch fremdelt, zeigte sich diese Woche auf der PK zum Monitor Digitalpolitik, als er das Onlinezugangsgesetz durchgehend “Onlinezulassungsgesetz” nannte. Dabei ist das OZG ja quasi noch gar nicht zugelassen (höhö).
Links
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Bis nächste Woche!
Johannes