Aus dem Internet-Observatorium #57
Threads / Glanz und Elend des Social Splinterweb / KI-Standort Deutschland: Wo hakt es?
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Mit 100 Millionen Nutzern innerhalb von fünf Tagen ist Threads die am schnellsten wachsende App aller Zeiten. Wobei die bestehenden Netzwerk-Effekte (Instagram-Login) das auch deutlich einfacher machen als für eine Software wie ChatGPT, die für 100 Millionen Nutzer noch zwei Monate benötigte. Wie dem auch sei: Ich komme an dem Thema diese Woche nicht vorbei (spare mir aber den ganzen Quatsch Zuck vs. Musk).
Threads
Ich habe Threads bislang noch nicht ausprobiert. Ein Grund: Ich hatte größere Probleme, nach meiner Rückkehr aus den USA meine Social-Media-Konten zu immigrieren (sobald da eine Kreditkarte im Spiel ist, wird es kompliziert). Und keine Lust darauf, da wieder in irgendwelche Fallen zu tappen. Ein weiterer: Inhaltlich habe ich nicht den Eindruck, vor dem EU-Rollout (so er denn kommt) etwas zu verpassen.
Was ich allerdings getan habe: Einen ganzen Haufen Einschätzungen zu Threads lesen. Hier die Meta-Zusammenfassung der Threads-Rezensionen:
Positiv
Aisha Counts von Bloomberg ist angetan von Threads, was aber eher mit dem gegenwärtigen Zustand von Twitter zu tun hat: “Nutzer bekommen all die guten Seiten, die Twitter geboten hat, ohne die schlechten Seiten - für Verifizierung zahlen, das tägliche Zugriffslimit, die Zunahme von Hate Speech usw.”
Der Tech-Blogger Jason McFadden hält Threads für das wahrscheinlich Beste, was es im Bereich textbasierter Social-Media-Apps bisher gab. Was auch an der technischen Umsetzung durch Meta liegt, die mit Design Erfahrung haben. Allerdings schränkt er ein: Die bislang harmlose Stimmung in der “Mega-Mall” Threads dürfte irgendwann kippen - und insgesamt fühlt er bei der Masse an neuen Apps erste Anzeichen von Social-Media-Burnout.
Neutral
Ian Bogost und Charlie Warzel sind im Atlantic erst begeistert, dann finden sie Threads lahm. Wobei die Begeisterung vor allem darauf fußt, ein neues Netzwerk zu entdecken und seinen Social Graph dort aufzubauen. Die Ernüchterung setzt mit der Erkenntnis ein, dass Mark Zuckerberg einfach Twitter kopiert hat: “Für wen ist das hier? Hat das jemandem gefehlt? Warum sind diese attraktiven Menschen mit schöner Haut, blauen Haken und 750.000 Followern so begeistert?” Sie kommen zu dem Schluss: “Das Social-Media-Zeitalter ist vorbei.” Denn der Neuanfang bei Threads ist mit der Erkenntnis über die Macht der Konzerne und die toxischen Seiten der sozialen Netzwerke verbunden.
Negativ
“Threads ist deprimierend”, schreibt der Daily-Show-Autor Jason O. Gilbert in seinem Newsletter. Wie deprimierend? So deprimierend wie ein nettes Restaurant, dass eine Filiale im Flughafen eröffnet. So deprimierend wie ein Casual Friday auf LinkedIn. So deprimierend wie ein Turnschuh, den Nike gemeinsam mit JP Morgan entwickelt hat. So deprimierned wie Joe Bidens Wiederwahl-Kampagne.
Paris Marx wieder kommt zu dem Fazit: “Threads ist keine gute App”. Kein chronologischer Feed, keine Kontolöschung ohne Instagram-Kontolöschung, nervende Push-Meldungen und insgesamt eine klobige Angelegenheit. Aber am Ende ein Werkzeug, das ausreicht, um Mark Zuckerbergs Anteil am Social-Media-Universum noch einmal zu vergrößern.
Wer das Ganze als Farce betrachten möchte, wird bei
(Today in Tabs) fündig. Die Absurdität, wenn die neue Twitter-”Chefin” davon redet, dass auf Twitter “jede Stimme relevant ist”. Oder die Tatsache, dass Metas Snapchat-Klon ebenfalls Threads hieß (2019-2021, R.I.P.).Glanz und Elend des Social Splinterweb
Ich weiß nicht, wie es Euch/Ihnen geht, aber bei mir stellt sich ein seltsames Gefühl ein: Mit bereits mehr als 100 Millionen Nutzern erweckt Threads den Eindruck, dass es Twitter endgültig über den Jordan schicken könnte. Und gleichzeitig kann ich mir strukturell nicht vorstellen, dass Threads der neue “öffentliche Marktplatz” wird - der zentrale Ort für textbasiertes Social Media, oder, wie David Pierce von The Verge es ausdrückt: “Der Ort, an dem man das Gefühl hat, dass alle da sind.”
Allerdings stellt sich auch die Frage, ob Social Media künftig überhaupt noch der Ort sein muss, an dem “alle” sind. Schon bei Instagram würde das niemand verlangen, und spätestens seit TikTok ist die algorithmisierte Inhalte-Ausspielung nach Nutzungsverhalten, also unabhängig von persönlichen Verbindungen, das Haupt-Paradigma. Der Interessen- und Verhaltens-Graph schlägt den Social Graph (der allerdings ein unschlagbares Werkzeug ist, um ein Copycat-Netzwerk wie Threads aus dem Boden zu stampfen).
Ben Thompson erinnert deshalb daran, dass Threads und auch Twitter beide die social-graph-unabhängige Timeline priorisieren (bzw. Threads noch gar keine chronologische Timeline hat). Twitter hat mit seiner Präsentation algorithmisch kuratierten Contents (“For You”), und daran erinnert Eugene Wei, den persönlichen Nutzen des Dienste jedoch auf geradezu selbstzerstörerische Weise reduziert (wobei diese Entwicklung meiner Meinung nach nicht mit Musk begann, sondern bereits seit 2015 zum immer deutlicheren Problem wurde).
Kurz gesagt also: Das Gefühl, dass “alle” da sind, würde selbst dann nicht mehr einsetzen, wenn wirklich “alle” da wären. Das klingt tatsächlich nach dem Ende einer Ära.
Creator im Mittelpunkt
Allerdings ist die gegenwärtige Fragmentierung textbasierter Netzwerk keine wirklich erfolgsversprechende Konstellation: Twitter, Threads, Mastodon, Substack, Reddit, Bluesky, Discord, Post und sicherlich noch einige andere, die ich nicht auf dem Schirm habe - viel zu viele Angebote, um sich wirklich eine Social-Media-Präsenz aufbauen zu können.
Außer natürlich, man ist “Creator” mit einer größeren Grundreichweite. Auch das spiegelt sich in Threads: Denn die sind offenbar die Kernzielgruppe, die Meta im Auge hat. Weil sie a) die Unterhaltung für die anderen produzieren, b) bereits Instagram-Reichweite mitbringen und deshalb c) natürlich an Quervermarktung interessiert sind. Threads fungiert also als Anschlussmarkt für Insta.
Ob das genügen wird, wirklich mittelfristig aktive Communitys aufzubauen oder von Twitter zu importieren? Bei Nachrichten und Politik möchte man das augenscheinlich überhaupt nicht. Bei anderen Nischenthemen wie Wissenschaft oder Sport dagegen erscheint es möglich, sofern Twitter nicht doch noch die Kurve bekommt. Und in Deutschland dürfte auch Mastodon eine bestimmte Twitter-Subkultur auffangen, ohne daraus jedoch Energie für längerfristiges Wachstum zu ziehen.
Das Ende der globalen Teeküche
Und irgendwo über oder besser zwischen dem Ganzen schwebt dann auch noch die Frage, welche Rolle ActivityPub als verbindendes Element spielen wird.
Ein möglicher positiver Ausgang: Social Media wird dezentraler, kommt künftig ohne Phänomene wie den “Main Character” und vielleicht mit weniger toxischer Meinungskampf- und Hass-Verklumpung aus.
Vielleicht waren aber gerade der Zentralismus und das Gefühl der Gegenwart von “allen”, die die globalen Teeküche Twitter ausgezeichnet haben, der alles entscheidende Erfolgsfaktor für textbasiertes Social Media. Ein Erfolgsfaktor, den keiner der neuen Alternativen reproduzieren kann - und inzwischen auch Twitter selbst nicht mehr.
KI-Standort Deutschland - wo hakt es? (Teil 1)
Im Deutschlandfunk-Wirtschaftsmagazin läuft gerade eine Serie zu unterschiedlichsten (Wirtschafts-)Aspekten der Technologie, die wir “Künstliche Intelligenz” nennen.
Ich habe dazu auch einen Beitrag beisteuern können. Da die drei Interviews sehr viel mehr Material hergaben, als gesendet wurde, poste ich heute und in den beiden nächsten Newsletter-Ausgaben noch einige weitergehende Einschätzungen aus den Gesprächen. Den Anfang macht:
Björn Ommer
Björn Ommer ist KI-Professor an der LMU München und der Chef-Entwickler des Bildgenerators Stable Diffusion. Er dürfte deshalb medial inzwischen bekannt sein. Der Erfolg von Stable Diffusion zeige, “dass es funktioniert, in Deutschland und Europa große Modelle [LLMs] zu bauen.” Dabei hätten ihn die Leute von Google noch kurz vor dem Start von Stable Diffusion belächelt, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass Stable Diffusionen einen Impact haben könnte.
Von diesem Optimismus ausgehend sieht Ommer drei zentrale Bausteine für “KI made in Europe”: Die engere Vernetzung der Forschung untereinander (siehe ELLIS) und mit der Industrie, den Open-Source-Gedanken und Europas Grundsatz, solche Systeme auch nach ethischen und Transparenz-Maßstäben zu entwickeln.
Vor allem die letzten beiden Punkte - Arbeit jenseits des geistigen Firmeneigentums, ethische Risikoabwägungen - seien Argumente, die für gut ausgebildete Fachkräfte relevant seien. Denn er erlebe durchaus eine Gegenbewegung weg von den großen Firmen, die das nicht bieten können. Umgekehrt seien Firmen auch wieder näher an die offene Forschungslandschaft gerückt, um attraktiver für KI-Entwickler zu werden.
Insgesamt aber seien die USA dem europäischen Kontinent weit voraus. Deshalb müsse man bei Bürokratie und Regulierung aufpassen, dass “der Standort am Ende des Tages nicht unattraktiver wird oder potenziell so viel Reibung entsteht, dass die Umsetzung von kreativen Ideen problematisch wird.” Letztlich gehe es um Trennschärfe, um Graubereiche zu langjährige Gerichtsverfahren zu vermeiden.
Ein Kernanlegen Ommers: Europäische Rechenzentren, die den amerikanischen Cloud-Hyperscalern Konkurrenz machen können. Denn Rechenpower werde “so wichtig, wie es bislang Wasser, Strom und ähnliche Ressourcen auch gewesen sind”.
Mit der wachsenden Relevanz von Machine Learning für sämtliche Branchen werde man ohne Alternativstruktur in völliger Abhängigkeit zu den amerikanischen Großanbietern landen (ähnlich wie KI-Start-ups, siehe NYT).
Ommer verweist deshalb auf die Initiative für Large European AI Models (LEAM) - und sieht politisch zwar das Bekenntnis, aber dem Vernehmen nach zu wenig konkrete Ergebnisse, was digitale Souveränität im Bereich des Großcomputing angeht.
Links
Das Zeitalter des Hightech-Kriegs. (€)
Eine Clearingstelle für Social Media?
Die EU-Kommission hat dem neuen transatlantischen Datenabkommen zugestimmt
Wie sind Menschen vor der Erfindung des Smartphones mit Langeweile umgegangen?
Sarah Silverman verklagt OpenAI wegen vermeintlicher Urheberrechtsverletzungen
1 (KI-generiertes) Video
Erstellt mit Gen-2. “I did edit it. And put music on it. And did some color-grading.”
Bis nächste Woche,
Johannes